Beiträge von Aureliana Siv

    Corvinus reagierte kaum, aber das wunderte Siv nicht wirklich. Es gab einfach nicht viel zu sagen, weder für sie noch für ihn, und sie war beinahe froh darum, dass er nichts erwiderte, hätte sie das doch nur wieder in die Lage gebracht zu überlegen, was sie antworten sollte. Sie wollte ihm helfen, aber sie fand keine Worte, die passend zu sein schienen, vielleicht, weil es schlicht keine gab. Hätte sie geahnt, dass Corvinus ihre Worte über die Götter und deren Willen derart wenig halfen, dass sie sogar eher das Gegenteil von dem bewirkten, was Siv eigentlich hatte bezwecken wollen, hätte sie sich vermutlich innerlich verflucht dafür, dass sie das überhaupt gesagt hatte. Aber auch hier ließ er ihre Worte unkommentiert, schwieg einfach und drehte seinen Kopf etwas näher zu ihr. Siv ließ sich wieder sinken und legte ihre Wange erneut an seine Schulter, während sie das Muster aus Schatten und grellem Licht betrachtete, dass die aufzuckenden Blitze auf den Möbeln im Raum malten, während sie den Regentropfen lauschte, die immer heftiger zu prasseln schienen. Das Geräusch hatte etwas Beruhigendes an sich, fand sie, genauso wie Corvinus’ Nähe, auch wenn der Stimmung etwas Trauriges anhaftete.


    Einen Augenblick schwiegen sie einfach beide, dann durchdrang Corvinus’ Stimme plötzlich wieder die Dunkelheit, die im Augenblick herrschte – und sagte etwas, das dafür sorgte, dass Sivs Mund sich verblüfft ein wenig öffnete. "Eh, was?" Die Frage war über ihre Lippen, bevor sie wirklich nachgedacht hatte, dann verdrehte sie ihren Kopf so, dass sie sein Gesicht von der Seite her erneut ansehen konnte. Natürlich wusste sie, wovon er sprach. Und natürlich hatte sie sich bereits Gedanken gemacht über mögliche Namen – auch wenn sie ihm bisher davon nichts erzählt hatte, obwohl sie fand, dass das nicht nur ihre Entscheidung war. Aber in diesem Augenblick hatte sie am allerwenigsten damit gerechnet, dass er danach fragen würde. "Ich… Also…" Sie zögerte kurz, dann fuhr sie fort: "Wenn es ein Mädchen ist, dann dachte ich Eila, vielleicht. Oder Ferun." Eila hieß die Leuchtende, Ferun stand für Freude. Siv fand beides passend, und es war ihr wichtig, dass der Name passte. "Ein Junge…" Hier zögerte sie erneut ein wenig. Sie hielt nicht viel davon, die Namen von anderen zu verwenden – der Name war etwas Besonderes, und sie fand, jedes Kind hatte das Recht auf einen ganz eigenen Namen, einen, der von den Eltern speziell für dieses Kind ausgewählt und nicht einfach nur gegeben worden war, weil der Vater oder die Großmutter oder sonst ein Verwandter diesen Namen bereits vorher getragen hatte. Dennoch brach sie mit dieser Einstellung, irgendwie jedenfalls, bei den Namen, die sie sich gedacht hatte, falls sie einen Jungen bekam – andererseits hatte sie die Namen ganz sicher nicht einfach nur so ausgesucht, sondern bewusst gewählt… Und davon ganz abgesehen hatte sie keine Ahnung, was Corvinus davon halten würde. "Ingraban. Oder Sintram." Der erste stand für Yngwi, Freyr, wie bei ihr Zuhause viele geglaubt hatten, und diesen Gott hatte sie immer gemocht. Der zweite bedeutete Reise, und auch das fand sie passend, hatte sie doch keine Ahnung, wohin es ihr Kind einmal verschlagen würde. Beide Namen jedoch hatten gemein, dass der zweite Teil Rabe bedeutete. Sie drehte ihren Kopf wieder so, dass er normal an Corvinus’ Schulter ruhte. Es war inzwischen schon lange her, dass er das letzte Mal Germanisch gelernt hatte, an das Wort für Rabe konnte er sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern. Dennoch fragte sie sich, ob er etwas gegen die Namen hätte, wenn er wüsste, was sie hießen. "Was meinst du? Hast du… mal an Namen gedacht?"

    Leise lief Siv durch die Gänge der Villa. Sie fühlte sich seltsam unruhig, ohne so recht zu wissen warum, und so war sie, obwohl sie schon ins Bett gegangen war, noch einmal aufgestanden. Sie hielt nicht viel davon, sich endlos hin und her zu drehen, wenn sie nicht einschlafen konnte – es half ihr ja nicht dabei, schneller Schlaf zu finden. In den Garten zu gehen, was sie sonst immer tat in solchen Fällen, kam aber eher nicht in Frage, nicht so kalt, wie es nachts inzwischen war. Nicht dass sie das normalerweise störte, aber seit ihre Schwangerschaft in die Phase getreten war, in der sie einfach nicht mehr zu leugnen war, war Siv deutlich vorsichtiger geworden. Es war ein Unterschied, ob ihr übel war – was an den verschiedensten Gründen hätte liegen können, selbst wenn sie wusste, was die Ursache war – oder ob ihr Bauch sich immer mehr wölbte, in dem es noch dazu immer häufiger zu… flattern schien. Siv war sich nicht sicher, und weil sie es nicht war, hatte sie kein Sterbenswörtchen davon gesagt, nicht einmal zu Corvinus – aber nachdem die Übelkeit, die sie zunächst wieder befürchtet hatte, ausgeblieben war, argwöhnte sie immer mehr, dass es das Kind war, das sie zu spüren begann.


    Nachdem der Garten also als Option ausschied, beschloss Siv, in die Bibliothek zu gehen. Mit dem Lesen hatte sie inzwischen keine Probleme mehr, mit dem Schreiben im Grunde auch nicht, auch wenn sie weit davon entfernt war, tatsächlich schön zu schreiben – aber diesen Ehrgeiz hatte sie auch nicht, solange sich nicht allzu viele Fehler einschlichen. Generell hatte sie aber von Anfang an weit mehr Mühe ins Lesen lernen investiert. Die Welten, die sich ihr dadurch auftaten, faszinierten sie ungemein. Geschichten hatte sie schon immer geliebt, aber sie hatte es nur gekannt, dass jemand Geschichten erzählte. Dass man sie aufschreiben könnte, dass sich so jemand anderes – sie, in dem Fall – selbst die Geschichte aussuchen und sie in ganz eigenem Tempo sich sozusagen selbst erzählen konnte, das war ihr neu gewesen, und sie liebte diese Freiheit. Darüber hinaus hatte sie hier eine völlig andere Auswahl. Sicher wünschte sie sich von Zeit zu Zeit, sie könnte eine der Legenden hören, die sie von früher kannte, aber diese wusste sie ja im Grunde. Was sie hier hatte, waren andere Geschichten. Nicht einfach nur neu für sie – anders. Sie hatten einen anderen Klang, einen anderen… Geschmack als die, die sie bisher gekannt hatte. Siv konnte es nicht wirklich beschreiben, dafür fehlten ihr sowohl in der germanischen als auch in der lateinischen Sprache die Worte, aber sie spürte es. Und so öffnete sie kurze Zeit später die Tür zur Bibliothek und trat ein, leuchtete sich den Weg – und blieb dann wie erstarrt stehen, als sie um ein Regal bog und in einer Ecke niemand anderen als die Flavia sitzen sah.

    Siv nickte leicht zum Zeichen, dass sie Corvinus gehört hatte, aber sie sagte nichts darauf, wann Ursus ankommen würde. Sie hoffte, dass es Corvinus helfen würde, den anderen Aurelier im Haus zu wissen… aber sicher war sie sich nicht. Vielleicht tat es ihm gut, jemanden zu haben, den er unterstützen konnte, es konnte aber auch genauso gut sein, dass Corvinus sich dann erst recht jedes Anzeichen von Schwäche selbst verbieten würde. Stattdessen fragte sie ihn, wie es ihm ging. Es dauerte ein wenig, bis nach der ersten Nachfrage eine Reaktion kam. Siv spürte, wie er sich leicht bewegte neben ihr, wie er mit einer Schulter zu zucken schien. Dann fing er doch an zu reden, und Siv war fast ein wenig überrascht von der Heftigkeit seiner Worte. Diesmal hob sie den Kopf, stützte sich leicht auf einem Ellbogen ab und musterte ihn von schräg oben. Wut war etwas, das sie für gewöhnlich empfand, gerade in solchen Situationen, die so… ungerecht erschienen, aber sie hatte nicht unbedingt erwartet, dass er wütend werden würde. Vielleicht war es der Wein, der aus ihm sprach… In jedem Fall fand Siv diese Reaktion besser, als wenn er allzu trübsinnig gewesen wäre. Sie wusste aus Erfahrung, dass Wut helfen konnte – wenigstens bis zu einem gewissen Grad. "Ich weiß", murmelte sie, während sie sich wieder sinken ließ und ihr Gesicht an seine Brust legte, und ließ dabei offen, was sie genau meinte – dass sie wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn er nichts zu tun imstande war, oder dass sie wusste, dass niemand Minervina hatte helfen können.


    Sie fragte sich, ob das wohl eine typisch römische Krankheit war. Die Traurigkeit, die manche zu überkommen schien und die keinen Ausweg mehr zu lassen schien. Sie erinnerte sich noch zu gut an die andere Aurelia, an Helena – der Gedanke drängte sich regelrecht auf, auch ihr, hatte sie das doch damals hautnah miterlebt, hatte ihr die Wunde am Arm zusammengepresst und sie verbunden und gehalten, bis ein Arzt gekommen war. Auch sie schien von einer seltsam unbestimmbaren Traurigkeit überwältigt gewesen zu sein. Römer, oder vielleicht auch nur Römerinnen, schienen das gelegentlich zu bekommen. Aber sie hatte noch nie gehört, dass ein Germane jemals an so etwas erkrankt wäre. Und sie war froh darum, dass sie noch mit so etwas wirklich näher zu tun gehabt hatte. Ebenso wie Corvinus hasste sie es, nichts tun zu können, und was sollte man denn gegen eine Krankheit tun, die einen scheinbar verwelken ließ, wie er gesagt hatte? Die einen immer durchscheinender werden ließ, bis irgendwann nichts mehr da war, was den Körper aufrecht hätte halten können? Und dann, auf einmal, kam ihr in den Sinn, wie es ihr gegangen war – in der Zeit, als Corvinus nicht mit ihr gesprochen hatte. Wie es ihr gegangen war, als er so schrecklich gleichgültig gewesen war. Wie sie im Garten gesehen hatte, den Tag lang, die Nacht hindurch, den nächsten Morgen, ohne bewusst etwas gedacht zu haben, ohne wirklich zu merken, wie die Zeit verging, bis Brix schließlich Corvinus alarmiert hatte. Hatte es jemanden gegeben, der Minervina – oder Helena – so viel bedeutet hatte? Sie schloss die Augen, schluckte trocken und versuchte, die Gedanken an diese Zeit zu verdrängen, als dann auch Corvinus von Helena zu sprechen begann. "Helena war anders", antwortete sie leise. Helena hatte selbst Hand an sich gelegt, und das war etwas, was sie beispielsweise niemals getan hätte, niemals tun würde. Aber war es denn tatsächlich so anders bei Minervina? Sivs Lider schwangen nach oben, und ihre Augen weiteten sich erschrocken, während ihr Atem stockte. Hatte Minervina auch Hand an sich gelegt? Hatte sie tatsächlich einfach… so… nichts mehr gegessen, weil sie meinte, keinen Hunger zu haben, so wie sie selbst damals im Garten gesessen war, ohne das Verstreichen der Zeit zu merken? Oder hatte sie sich absichtlich zu Tode gehungert? Ihre Hand auf Corvinus’ Brust ballte sich unwillkürlich zur Faust. "Du… Ich weiß. Ich weiß, du würdest das." Wieder richtete sie sich ein wenig auf, um ihn ansehen zu können. Siv fühlte sich hilflos, weil es so wenig gab, was sie hätte sagen oder tun können, um ihm zu helfen. "Aber es gibt nichts. Es gab nichts. Du hast keine Schuld. Was passiert ist, wollten die Götter", wisperte sie, während sie zugleich wusste, dass auch das keine große Hilfe war. Nicht wenn der Verlust so frisch schmerzte.

    Siv still da, in Corvinus Arm, ihr Kopf an seiner Schulter, aber auf dem Rücken. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, aber sie war weit davon entfernt, einzuschlafen. Mit geöffneten Augen sah sie in die Dunkelheit, die gelegentlich von einem Blitz erhellt wurde, lauschte dem Donner und dem Regen, der herunter prasselte. Sie mochte Gewitter. Vielleicht war das vorher bestimmt, bei ihr, mit ihrem Namen, vielleicht hatte sie keine Wahl als Gewitter zu mögen, war es doch Thors Wetter. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie Gewitter schon immer gemocht hatte, dass sie selbst als Kind nie Angst gehabt hatte vor dem Donner. Und so lag sie da, eingekuschelt an seiner Seite, eine Hand auf ihrem Bauch, der inzwischen selbst mit noch so weiter Kleidung nicht mehr wirklich zu kaschieren war. Sie hatte am Nachmittag von Minervina gehört, von ihrem Tod… Und obwohl sie kaum etwas mit der Aurelia zu tun gehabt hatte, obwohl sie sie im Grunde gar nicht gekannt hatte, hatte sie die Nachricht doch getroffen – weil sie ahnte, wie Corvinus es treffen würde. Und so war sie zu ihm gekommen, als sie gehört hatte, wie er sein Schlafgemach betreten hatte. Sie hatte nichts gesagt, hätte auch nicht wirklich gewusst, was sie hätte sagen sollen, aber sie hatte das Gefühl, dass das auch nicht nötig war. Sie wollte einfach nur da sein, und das schien für den Moment auch auszureichen.


    Nicht lange nachdem sie aufgetaucht war, waren sie ins Bett gegangen, und seitdem lagen sie da. Siv ignorierte das ungewohnte Flattern in ihrem Bauch, das sie in letzter Zeit häufiger spürte, und hoffte, dass es nicht wieder mit der Übelkeit losging. Ihre Hand strich nur kurz über ihren Bauch, bevor sie ihren Kopf schräg nach oben in die Richtung des seinen drehte, als er zu sprechen begann. Kurz darauf erhellte wieder ein Blitz das Cubiculum und ließ seine Züge kurz aufleuchten. Siv löste ihre Hand von ihrem Bauch und legte sie auf seine Brust. "Weißt du, wann er kommt? Frühestens?" Für Ursus musste die Situation noch viel schwerer sein. "Wie geht es dir?" fragte sie dann leise. Er wollte für die anderen da sein, wollte die Familie zusammenhalten, fühlte sich verantwortlich. Fühlte sich sicherlich auch verantwortlich für Minervinas Tod, obwohl es nichts gegeben hätte, was er hätte tun können, jedenfalls nach allem, was Siv wusste. Aber sie fand, dass jeder Momente brauchte, in denen er sich gehen lassen konnte, und Corvinus tat das viel zu selten.

    "Toll", bestätigte Siv mit einem Grinsen. Dass Corvinus an diesem Wort etwas auszusetzen haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Zwar war ihr durchaus bewusst, dass viele Sklaven eine andere Sprache nutzten als die Römer selbst, zumindest die, die sich Sklaven leisten konnten, aber in diesem Moment dachte sie nicht daran, dass toll kaum ein Wort war, dass er oder jemand seinesgleichen verwenden würde. Dann schnitt sie eine Grimasse. "Mh. Mal sehen." Sie hatte den deutlichen Verdacht, dass sie inzwischen mehr zunahm als nur das, was das Kind allein ausmachen konnte. Allerdings, wenn sie in Betracht zog, dass sie zu Beginn der Schwangerschaft eher noch abgenommen hatte, war sie froh, dass diese Phase vorbei war. Gesünder war es allemal, so wie es jetzt war, und was nach der Geburt war, würde sie dann sehen – generell zog sie es vor, nicht allzu viele Gedanken an das zu verschwenden, was in diesem Zeitrahmen lag. Letztlich hieß das nämlich, dass sie dann an die Geburt dachte, und das vermied sie, rein aus pragmatischen Gründen. Sie fand dass es früh genug war, sich mit den Schmerzen zu beschäftigen, wenn sie da waren. Sich vorher verrückt zu machen hatte überhaupt keinen Sinn.


    Etwas enttäuscht war sie, als Corvinus seine Hand von ihrem Bauch zurückzog. Die Geste hatte irgendwie etwas… Beschützendes an sich gehabt, hatte Geborgenheit vermittelt. "Ach." Sie zuckte leicht die Achseln und deutete ein etwas verlegenes Lächeln an. "Ich habe gelernt. Und das macht auch… Spaß. Nur die ganze Zeit…" Sie wollte nicht zugeben, dass sie schon wieder eine Phase erreicht hatte, in der ihre Sprachkenntnisse kaum Fortschritte zu machen schienen. Allerdings, in den letzten Wochen hatte sie sich schwer damit getan sich zu konzentrieren, während Corvinus gleichzeitig schwer krank in seinem Zimmer gelegen hatte und sie ihn nicht einmal hatte besuchen dürfen. "Und Brix gibt ja nicht alles, mir. Und wenn da Schreibkram ist zu tun, zum Beispiel, das ist langweilig", hielt sie grinsend dagegen, als Corvinus davon anfing, dass ihr kaum langweilig sein könne bei Brix’ Arbeitspensum. Sie wollte gerade noch etwas anfügen, als es an der Tür klopfte. Mit leisem Bedauern sah sie auf, dann nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und legte ihre Stirn für einen Augenblick an seine. "Ich liebe dich", murmelte sie leise, mit geschlossenen Augen, bevor sie ihren Kopf zur Seite neigte, bis ihre Lippen die seinen streiften. Sie konnte gar nicht ausdrücken, wie froh sie war, dass es ihm wieder gut ging, suchte erneut nach Worten, gab es aber auf, als es ein zweites Mal klopfte. Stattdessen sprang sie auf und ging zur Tür hinüber, um sie zu öffnen, und auf der anderen Seite war Saba, die sie mit einem kurzen Nicken begrüßte. "Dominus! Wir sind alle so froh, dass du wieder gesund bist!" rief sie aus, während sie zu Corvinus eilte, und Siv konnte sich vorstellen, dass inzwischen das gesamte Haus von Corvinus’ Genesung wusste, so wie sie Saba kannte. "Naavi kommt auch gleich. Was möchtest du zuerst? Etwas zu essen?" Bei diesen Worten schnitt Siv in Sabas Rücken eine Grimasse. Als hätte sie nicht daran gedacht, das zu fragen. "Oder rasieren? Oder zuerst ein Bad?"

    Siv war dankbar dafür, dass Corvinus nichts sagte, nichts tat außer sie zu streicheln, während sie ihr Gesicht an seinem Hals verbarg und so auch die Tränen, die ihre Wangen hinunter liefen. Ganz abgesehen davon, dass Siv nicht gerne vor anderen weinte – auch vor Corvinus nicht – und seine Reaktion daher die beste war, war es das, einfach seine Nähe spüren, wonach sie sich in der letzten Zeit gesehnt hatte. Und so war ihr Lächeln zwar noch schief, aber ehrlich, als sie sich schließlich etwas aufrichtete und ihn zu mustern begann. Er sah nicht so aus, als könnte er Bäume ausreißen, und jetzt, wo sie ihn aus der Nähe betrachtete, fühlte sie erneut leisen Schrecken in sich aufsteigen. Corvinus war hohlwangig und bleich, das zu lange Haar und der Bart standen wirr ab, und ihn umgab immer noch der seltsame Geruch von Krankheit. Besorgt runzelte sie die Stirn, während ihre Finger über seine Wange fuhren, und nur ihr Mundwinkel zuckte kurz, als er von Brix zu sprechen begann – genauer gesagt, als sich der grollende Tonfall änderte und verschwand. Natürlich gab er Brix Recht. Wenn es darum ging, was sie in letzter Zeit alles noch tun durfte und was nicht mehr, schien jeder irgendwie Brix Recht zu geben. Als ob sie nicht mehr selbst entscheiden könne, was gut für sie war, und das störte sie dann doch, zumal vor allem Kandidaten wie Sofia sie zunehmend fragten, ob sie den Brix’ Erlaubnis habe, dies oder jenes zu tun…


    Aber der weiche Ausdruck, der plötzlich in Corvinus’ Gesicht und Stimme getreten war, wischte die Irritiertheit über die Sonderbehandlung, die sie derzeit bekam, weg. Ein zartes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als Corvinus’ Blick zu ihrem Bauch glitt und er seine Hand darauf legte. "Gut. Mir geht es gut. Ich bin… Mich, mir ist nicht mehr schlecht. Das ist vorbei, zum Glück. Endlich…" seufzte sie auf. Es war auch langsam Zeit geworden, fand sie. Bei einem der Besuche des Arztes bei Corvinus hatte Brix dafür gesorgt, dass er sie sich ebenfalls noch einmal ansah, und er hatte gemeint, noch wäre es alles normal… zwar sei es eher selten, dass die Übelkeit so lang anhielt, und unangenehm für sie, aber normal. Siv hatte sich schwer getan sich damit abzufinden, aber letztlich war ihr ja ohnehin nichts anderes übrig geblieben, und irgendwann hatte sie gemerkt, wie ihr Geruchs- und Geschmackssinn sich langsam wieder normalisierten und nicht mehr urplötzlich auf irgendetwas überempfindlich reagierten und die so vertraut gewordene Übelkeit auslösten. "Und seit Übelkeit weg ist, es ist… toll", meinte sie leise. Ihre Augen fingen an zu strahlen. Sicher, seit sie gewusst hatte, dass sie schwanger war, hatte sie immer wieder darüber nachgedacht – was es bedeutete, letztlich, dass sie ein Kind in ihrem Bauch trug, dass da ein anderes Leben in ihr heranwuchs… Aber solange sie von der Schwangerschaft nicht mehr gemerkt hatte als dass ihr viel zu oft schlecht wurde und sie überempfindlicher war als sonst, war es trotzdem irgendwie noch nicht so wirklich… real gewesen, schien es ihr. Erst jetzt, wo die Übelkeit nachließ, dafür aber ihr Bauchumfang wuchs und auch die anderen Anzeichen zunahmen, wurde ihr so wirklich bewusst, dass sie ein Kind bekam. "Ich meine, bisher… war schon gut, aber weniger Schlechtsein ist es besser. Dafür wird das mehr." Siv lachte und legte ihre Hand ebenfalls auf ihren Bauch, neben die seine, bevor sie einen schnellen Blick zur Tür warf. Sie ging davon aus, dass Sofia wohl Naavi schicken würde oder sonst jemanden, aber bisher hatte sich noch keiner blicken lassen. Und sie wollte jetzt nicht gehen, um selbst jemanden zu holen. "Sonst ist manchmal langweilig. Brix lässt kaum mich was machen, außer dass ich ihm helfe, oder eben lerne." Sie grinste, und ihrer Stimme konnte man anhören, dass ihre Worte nicht als Beschwerde gemeint waren – obwohl ihr tatsächlich immer häufiger langweilig wurde, weil sie das Gefühl hatte, nicht mehr wirklich viel tun zu können, nicht im Vergleich zu früher jedenfalls.

    Als Corvinus nur seine Arme um sie legte und sie auf seinen Schoß zog, war es mit Sivs Selbstbeherrschung vorbei. Sie bemühte sich, sich zusammenzureißen, dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihre Schultern bebten und einige Tränen ihre Wangen hinunterrannen. Sie schmiegte sich noch enger an ihn und ließ ihren Kopf dort, wo er war – verborgen an seiner Schulter, wo niemand sehen konnte, dass ihre Gefühle mal wieder mit ihr durchgingen. Das war einer der großen Nachteile einer Schwangerschaft, in ihren Augen jedenfalls. Sie war so viel empfindlicher als normalerweise, hatte sie manchmal den Eindruck. Sie hatte nicht so sehr ein Problem damit, wenn sie Tage hatte, an denen sie schlicht gereizter war als üblich, aber sie konnte sich definitiv nicht mit den Phasen anfreunden, in denen sie das Gefühl hatte sie wäre der Himmel und Freyr habe sie mit Regenwolken überzogen, die ihre Last los werden wollten. Und so saß sie einfach nur da, ließ sich von ihm wiegen, von ihm trösten, obwohl ihr eine Stimme zuflüsterte, dass eigentlich sie diejenige sein sollte, die sich um ihn kümmerte, nicht umgekehrt. Es war ihr egal. Sie brauchte seinen Trost, seine Nähe, ihn einfach zu sehr, um das zu tun, was wohl richtig gewesen wäre in diesem Moment.


    Irgendwann schob Corvinus sie dann doch ein wenig von sich fort, und Siv löste einen Arm von seiner Schulter und fuhr sich schnell mit dem Handrücken über die Augen und Wangen, um die Tränenfeuchtigkeit wegzuwischen. Dann bemühte sie sich um ein Lächeln – was ihr auch tatsächlich gelang, wenn auch reichlich schief. "Nichts", antwortete sie und fuhr sich, diesmal mit dem Handballen, noch einmal über die rechte Wange. "Es ist nur… du bist so krank gewesen, so schwer, so lange. Und Brix hat nicht gelassen mich zu dir. Er hat gesagt, ich soll weg bleiben." Siv legte eine Hand an Corvinus’ Wange, auf den Bart, der sich gebildet hatte, während ihr Daumen sacht über den Wangenknochen strich. "Ich… ich hab dich vermisst. … Du hast mir gefehlt." Sie neigte sich nach vorn, bis ihre Lippen die seinen berührten, und küsste ihn sacht, bevor sie ihren Kopf wieder zurückzog. "Was willst du? Hast du, bist du hungrig?"

    Entgegen der Anweisungen ihres Herrn machte Sofia sich nicht zuerst auf die Suche nach Saba oder Naavi, sondern nach Siv. Und weil sie die Germanin inzwischen recht gut kannte, führte sie ihr Weg zuerst in den Garten, wo sie sie auch tatsächlich fand. Siv hatte sich in den letzten Wochen wieder mehr zurückgezogen. Als klar geworden war, dass Corvinus nicht innerhalb weniger Stunden oder Tage wieder auf den Beinen sein würde, sondern an einer schlimmeren Krankheit litt, hatte Brix ihr verboten, sich weiter um ihn zu kümmern. Sie hatte nicht vorgehabt, auf ihn zu hören, aber Brix kannte sie viel zu gut, um darauf zu vertrauen, dass sie einfach so gehorchen würde. Er hatte die Tür verschlossen, die von ihrer Kammer in Corvinus’ Gemach führte, damit sie nicht etwa auf die Idee kam, sich nachts zu ihm zu schleichen, und er sorgte dafür, dass jeder der Sklaven Bescheid wusste – vor allem die, die bei Corvinus waren und ihn versorgten. Als Siv gemerkt hatte, dass Brix ihr keine Chance ließ, war sie zu ihm gegangen und hatte gebeten, fast gebettelt, dass er sie zu Corvinus ließ. Aber der Maiordomus hatte sie nur angesehen und seinen Blick dann zu ihrem Bauch wandern lassen. "Und dein Kind? Schon mal daran gedacht?" hatte er nur gefragt – und Siv hatte nur die Zähne zusammen gebissen. Sie hatte tatsächlich nicht daran gedacht. Sie wollte bei Corvinus sein, wollte sich um ihn kümmern – was es anrichten konnte, wenn sie ebenfalls krank wurde, was dann mit dem Kind passieren würde, daran hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt keinen Gedanken verschwendet. Und sie wusste, dass es bedeuten konnte, wenn eine Schwangere krank wurde. Manche sagten es sei schlicht eine Strafe der Götter, manche, dass das Kind, weil es im Bauch war, noch viel stärker getroffen wurde von der Krankheit als die Mutter, und manche führten es schlicht der Tatsache zu, dass Kinder empfindlicher waren als Erwachsene – je kleiner sie waren, desto mehr. Wie es auch sein mochte, Siv wusste eines: nicht immer überlebten die Kinder es, und wenn sie es taten, waren sie nicht immer gesund, wenn sie schließlich auf die Welt kamen. Also gehorchte sie schließlich doch. Und trotzdem fühlte sie sich innerlich zerrissen. Sie würde, wollte nichts tun, was ihr Kind gefährden könnte. Aber sie sehnte sich danach, bei Corvinus zu sein, ihm irgendwie zu helfen, für ihn da zu sein, seine Hand zu halten. Die anderen erzählten ihr, dass es nicht viel gab, was sie tun konnten, dass er kaum bei Bewusstsein war, nur selten wach genug, um es überhaupt zu realisieren, und noch seltener bei so klarem Verstand, dass er wusste wo er war und wer sich bei ihm befand. Aber das alles nur aus Erzählungen zu hören und nicht selbst da sein zu können, machte es für Siv fast noch schlimmer. Sie fühlte sich noch hilfloser als sie es getan hätte, hätte sie wenigstens bei ihm sein können.


    Und so hatte sie sich wieder zurückgezogen, wie sie es häufig tat, wenn es etwas gab, was sie bedrückte. Die wenige Zeit, die sie mit Brix verbringen konnte, tat ihr gut, weil der Germane nicht meinte, sie aufmuntern oder ablenken zu müssen. Er war einfach da. Aber die Arbeit wartete nicht, und so verbrachte Siv weit weniger Zeit in seiner Gesellschaft, als ihr lieb gewesen wäre. Dass sie selbst nur wenig zu tun hatte, machte ihre Situation auch nicht besser. Am liebsten hätte sie den ganzen Garten umgegraben, aber körperliche Arbeit kam nicht in Frage – dass Corvinus im Bett lag und kaum etwas davon mitkriegen, geschweige denn etwas dagegen tun konnte, spielte für Brix keine Rolle. Die Anweisung, dass Siv keine anstrengende körperliche Arbeit mehr verrichten sollte, war unumstößlich. Was die Germanin mit recht wenig zurückließ, womit sie sich hätte ablenken können. So sehr ihr sowohl das Lernen Spaß machte als auch das Lesen, dass sie mehr und mehr für sich entdeckte, und die ganze Organisation des Haushalts, die in Brix’ Händen lag und bei der sie ihm half – in den letzten Wochen hatte sie feststellen müssen, dass geistige Anstrengung nicht denselben Dienst tat wie körperliche, wenn es darum ging, die Gedanken abzulenken, wenn sie beständig um etwas Bestimmtes kreisten. Das Gegenteil war der Fall. Häufig war Siv nur unkonzentriert bei der Sache, weil sie immer an Corvinus denken musste und daran, wie es ihm ging. Ob er wieder gesund wurde… Das war der einzige Gedanke, den sie gekonnt und dauerhaft verdrängte. Dass Corvinus sterben könnte, diesen Gedanken ließ sie einfach nicht zu. Aber die Angst war dennoch da, unterschwellig, und sie blieb.


    Als Siv an diesem Nachmittag durch den Garten ging, um zu sehen, was in der nächsten Zeit getan werden musste – hier mussten ein paar Pflanzen zugeschnitten werden, dort einige Neuzugänge umgepflanzt, weil sie ihnen der schattige oder lichte Standort nicht behagte, wieder an einer anderen Stelle musste Platz geschaffen werden für einen weiteren Neuzugang –, ging es ihr weit besser als in den letzten Wochen. Corvinus schien auf dem Weg der Besserung zu sein, nach allem, was sie hörte. Brix ließ sie zwar immer noch nicht zu ihm, aber lange konnte es nicht mehr dauern. Lange würde sie es nicht mehr gefallen lassen, so einfach war das. Wenn Corvinus wieder am gesund werden war, bestand doch sicher keine Gefahr mehr, dass sie ebenfalls krank wurde. Rein körperlich gesehen ging es ihr so gut wie bisher noch nie in der Schwangerschaft. Die anfängliche Übelkeit, die bei ihr so heftig ausgefallen war, sich lange nicht nur auf den Morgen beschränkt hatte und zu allem Überfluss auch noch länger angedauert hatte als gewöhnlich, schien sie endlich hinter sich gelassen zu haben, und auch die ständige Müdigkeit wurde geringer. Als Sofia also nun auf sie zukam und ihr aufgeregt mitteilte, dass Corvinus nicht nur wach, sondern sogar schon wieder auf den Beinen war, überlegte Siv nicht lange. Um genau zu sein, sie überlegte gar nicht. Sie ließ Sofia im Garten stehen und lief zum Haus, durch die Gänge, bis sie schließlich vor Corvinus’ Tür stand. Ohne zu klopfen trat sie ein, nur um dann für den Bruchteil eines Moments wie angewurzelt stehen zu bleiben, als sie Corvinus sah. Sie war erschrocken darüber, wie mitgenommen er tatsächlich aussah – natürlich hatte sie gewusst, dass eine so lange Krankheit nicht vorüberging, ohne Spuren hinterlassen zu haben, aber da sie ihn die letzten Wochen nicht gesehen hatte, hatte sie sich nicht wirklich ein Bild davon gemacht. Aber er war wach, und seine Augen waren klar. Siv löste sich von der Tür und ging zu ihm hinüber, um ihm wortlos um den Hals zu fallen, während sie ihr Gesicht an seiner Schulter vergrub, um nicht zu zeigen, dass ihr lange unterdrückte Tränen in die Augen stiegen.

    Auch Siv vergaß nicht, wer sie waren – und auch sie konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass es in diesem Moment keine Rolle spielte. Vielleicht würde das in wenigen Augenblicken schon wieder verschwunden sein, aber jetzt saß sie einfach nur da und hielt Priscas Hand, wie die einer Freundin, die einfach etwas Nähe und Zuwendung brauchte. Nicht mehr und nicht weniger. Entsprechend wandte Siv auch nicht ihren Blick ab, als Prisca sie kurz, aber forschenden ansah. Sie fühlte sich nicht ganz wohl dabei, hatte sie doch immer im Hinterkopf, dass im Grunde niemand erfahren durfte, was sie in Bezug auf Corvinus wirklich bewegte. Und hätte Prisca sie direkt gefragt, Siv hätte ausweichend geantwortet, in einer Weise, die letztlich nichts sagte, außer dass sie seine Sklavin war. Priscas Blick aber forderte nichts, fragte nichts, sondern beobachtete nur, und das, in diesem Moment, in dem es keine Rolle spielte, wer sie waren, war es letztlich, was dazu führte, dass Siv diesen Blick offen erwiderte, ohne auszuweichen oder zu verstellen, was möglicherweise in ihren Augen zu lesen war. So offen, wie die Aurelia ihr gegenüber gewesen war, wollte sie sich auch gar nicht verstellen, noch weniger als ohnehin schon. Und auch wenn ein Rest des Unwohlseins blieb, im Grunde ihres Herzens war Siv Prisca dankbar für diese Gelegenheit, die sie ihr bot, für diesen Moment der Offenheit, der zwischen ihnen herrschte.


    Auf ihre folgenden Worte hin erwiderte Prisca zunächst nichts, und für Augenblicke hatte Siv das Gefühl, als ob die Gedanken der Aurelia fern von ihr weilten, irgendwo anders. Sie ahnte nicht, was ihre Worte bei der anderen auslösten, aber sie selbst fing auch wieder an zu grübeln. Früher hatte sie sich selten Gedanken gemacht über ihre Zukunft. Sie hatte einfach ihr Leben leben wollen… Und hatte auf die Gegebenheiten reagiert, wie sie gekommen waren. Auch als ihr Vater sie schließlich verheiratet hatte, als ihr Mann gestorben war, selbst als sie von den Römern verschleppt worden war, hatte sie sich über die Zukunft keine Gedanken gemacht. Sicherlich hatte sie darüber nachgedacht, was wohl auf sie zukommen würde, wie sich ihre Situation entwickeln würde, aber wirklich Gedanken gemacht, welche Wendungen ihr Leben noch nehmen würde, das hatte sie nicht. Erst seit sie hier in Rom war, und auch hier erst seit einiger Zeit, hatte sie damit begonnen. Lag es an ihr, an ihrer Art, oder daran, dass sie älter wurde – oder an beidem? Sicherlich spielte auch eine Rolle, dass sie nun nicht mehr alleine war, dass sie sich nicht mehr nur um sich selbst Gedanken machen musste… Ein Lächeln, mehr ein Hauch, hob ganz leicht Sivs Mundwinkel, als sie an ihr Kind dachte. Sie würde ihm eine Zukunft bieten, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was für eine das sein mochte. Sie erwiderte den leichten Händedruck, als die Aurelia in die Gegenwart zurückfand, und als diese dann ihnen beiden Fortunas Wohlwollen wünschte, breitete sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus. "Danke", murmelte sie. Ihre Wünsche… Sie wusste nicht, ob eine Göttin – noch dazu eine römische – ihre Wünsche erfüllen würde, aber wer wusste das schon.


    Anschließend ließ Prisca ihre Hand wieder los und erhob sich erneut, ging zum Fenster, sah hinaus. Und wie zuvor blieb Siv sitzen und sah ihr zu, während sie auch diese Pause nutzte, um ihren Gedanken nachzuhängen, ohne diesmal allerdings über etwas Bestimmtes zu grübeln. Sie ließ sie einfach schweifen, während ihr Blick an Prisca vorbei in den Garten hinauswanderte. Die leisen Worte aus dem Mund der Römerin vernahm Siv nicht, aber die darauffolgenden ließen die Germanin zunächst überrascht blinzeln. Damit hatte sie nicht gerechnet. "Wie… ich? Was ich…" Sie stockte einen Moment, blinzelte noch einmal. "Ich würde gern raus. In einen Wald. Dort rumlaufen. Füße in einen Bach strecken. Bäume umarmen." Sie grinste etwas verlegen, als sie das sagte. Selbst in Germanien war diese Angewohnheit von ihr weit häufiger auf zweifelnd hochgezogene Augenbrauen getroffen denn auf Verständnis. Einen Augenblick zögerte sie anschließend, überlegte, dann entschied sie sich, nicht nach dem Warum zu fragen, sondern Prisca schlicht die Gegenfrage zu stellen. "Was ist mit dir?"

    Sivs Mitgefühl wurde wieder stärker, als Phraates’ Schultern sanken und er einen Blick aufsetzte, der sie an einen Hundewelpen erinnerte. Sie nagte an ihrer Unterlippe, aber auch das änderte nichts an ihrer Entschlossenheit. Der Parther verstand nicht, er konnte ihre Weigerung auch gar nicht verstehen, und sie konnte es ihm nicht so erklären, dass er es verstehen konnte. Allerdings, für die Flavia mochte die Erklärung ausreichen, dass sie schlicht und einfach loyal war – so wie sie Celerina kennen gelernt hatte, erwartete sie von Sklaven doch nichts anderes als genau das. Warum sollte es sie also verwundern, wenn sie erfuhr, dass Siv sich verhielt, wie es von einer Leibsklavin erwartet wurde? Andernfalls hätte Corvinus sie doch kaum ausgewählt für diesen Posten, wenn er davon nicht überzeugt war, unabhängig von dem, was sich sonst noch zwischen ihnen abspielen mochte. Sie hoffte, um Phraates’ Willen, dass die Flavia diese Erklärung akzeptierte.


    Als Siv dann versuchte, dem anderen Sklaven etwas Mut zu machen, hatte sie den Eindruck, er hörte ihr gar nicht wirklich zu. Sein Blick schien für Momente in die Ferne zu schweifen, und Siv blinzelte einmal kurz in einer unwillkürlichen Reaktion darauf, dass er seine Lider gar nicht bewegte. Bei seiner anschließenden Frage zog sie kurz ihre Brauen zusammen. "Na ja…" Sie gestikulierte mit einer Hand vage. "Ich kann dir Essen bringen. Gesellschaft leisten. Und ich kenne Brix gut, den Maiordomus." Sie musterte ihn kurz. "Wenn du kommst in Loch. Aber ich das nicht glaube. Sag ich war das, das ist meine Schuld. Ich kann auch reden mit Corvinus, wenn du magst." Siv konnte nicht wirklich erkennen, was er von ihren Vorschlägen hielt, aber sie wusste, was sie umgekehrt davon gehalten hätte, hätte ihr jemand vorgeschlagen sich derart für sie einzusetzen. Sie hätte rundheraus abgelehnt, fest entschlossen, alleine mit dem fertig zu werden, was kommen mochte. Allerdings würde sie das nicht davon abhalten, so oder so mit Corvinus zu reden – ob Phraates annahm oder nicht, würde lediglich dahingehend einen Unterschied machen, ob sie Corvinus bat, sich bei Celerina für den Sklaven einzusetzen oder ihr gegenüber gar nichts zu erwähnen. Als er dann das Thema wechselte, hoben sich ihre Mundwinkel leicht. "Schön. Sie ist… eine römische Villa. Das Leben ist gut da, für Sklaven. Die Aurelier sind… gut. Freundlich. Du nicht kriegst Strafe, wenn nicht verdienst, und selbst dann, du nicht kommst in ein Loch oder so."

    Siv wurde von der Wucht, mit der der Mann in sie hineinprallte, einfach mitgerissen. Um nicht ganz das Gleichgewicht zu verlieren und zu Boden zu stürzen, klammerte sie sich kurz in dem Stoff seiner Tunika fest. Ein, zwei Schritte taumelten sie so gemeinsam nach hinten, bis sie in die Frau stießen, dann befreite sich der Mann von ihr und verschwand in der Menge, was die Germanin zuerst gar nicht wirklich bemerkte. Sie griff hinter sich und fand Halt an dem Stand, und gerade als sie sich wieder aufrichtete und sicher auf eigenen Füßen stehen konnte, wurde sie angekeift, von der Römerin, die sie, ohne Schuld ihrerseits, angerempelt hatte, und ihre Miene spannte sich an. Gegen ungerechtfertigte Anschuldigungen hatte sie etwas, und in diesem Moment, in dem ihr der Schreck noch in den Gliedern steckte und das Adrenalin durch ihre Adern pumpte, war sie nicht wirklich fähig zu erkennen, dass die Römerin womöglich gar nicht gesehen hatte, wer denn nun eigentlich die Schuld getragen hatte. "Ich war das nicht!" verteidigte sie sich also, was an und für sich nicht schlimm gewesen wäre, allerdings hatte ihre Stimme nicht den Tonfall, der einer Sklavin zustand. Dann, etwas ruhiger, fuhr sie, an den Mann gewandt, fort: "Sag-" Etwas verblüfft registrierte sie nun, dass der schon verschwunden war. Ihre Stirn runzelte sich etwas, dann zuckte sie ansatzweise die Schultern. Kurz streifte ihr Blick die schüchterne Sklavin, die in der Nähe der Römerin stand und den Kopf gesenkt hielt, dann sah sie wieder zu eben jener und musterte sie kurz. Sie wusste nicht genau, was sie jetzt tun sollte – sie trug keine Schuld an dem Vorfall, und es war augenscheinlich auch niemandem etwas passiert, aber sie konnte auch nicht einfach so gehen, das wusste sie. Sie würde wohl oder übel warten müssen, bis die Römerin sie entließ.

    Es war ein angenehmer Vormittag, als Siv in Richtung der Märkte ging – um die Tageszeit war wenig los, was ihr nur zusagte. Immer noch fühlte sie sich nicht wohl, wenn viele Menschen um sie herum wuselten, auch wenn die Zeit schon lange vorbei war, in der sie unter Orientierungslosigkeit in diesem Haufen aus Stein gelitten hatte und irgendwann in Panik geraten war, weil alles gleich auszusehen schien. Sie hatte ein paar Briefe dabei gehabt, die sie unterwegs abgegeben hatte, und jetzt musste sie noch ein paar Sachen besorgen. Einige der Vorräte mussten aufgestockt werden, und sie selbst wollte ein paar Setzlinge kaufen, um gemeinsam mit Niki den Kräutergarten wieder auf Vordermann zu bringen. Jetzt war die beste Zeit dafür, um das zu tun. Brix hatte ihr wohlweislich eingeschärft, ja nichts selbst zu tragen, sondern die Einkäufe von den Händlern liefern zu lassen. Und da Siv wusste, dass am Ende nicht nur sie, sondern auch er Ärger kriegen würde, wenn Corvinus sie dabei erwischte, wie sie etwas Schwereres als ein paar Schriftrollen und vielleicht noch einen Krug Wasser oder ein paar Decken trug, würde sie sich auch daran halten.


    Siv ging an ein paar Ständen vorbei, begutachtete, kaufte ein paar Sachen, diskutierte mit einem Händler über die Qualität der Trockenfrüchte, die er im Angebot hatte, und lehnte schließlich ab, als er nicht nachgeben wollte. Als nächstes führten ihre Schritte sie zu einem Stand, an dem es verschiedene Kräuter und andere Pflanzen gab, und hier blieb Siv länger. Als sie diesen Stand wieder verließ, hatte sie in ihrem Beutel einige gut verpackte Samen und kleine Setzlinge dabei – deswegen würde keiner einen Aufstand machen, und dann konnte sie gleich mit dem Pflanzen anfangen, wenn sie zurück in die Villa kam. Sie grinste in Vorfreude auf die Aussicht, den ganzen Nachmittag im Garten zu verbringen, während sie nun zu dem Teil der Märkte ging, auf dem es Stoffe aller Art zu kaufen gab. Das würde ihre letzte Station sein, bevor sie wieder heimgehen würde – allerdings sollte der Tag etwas anders verlaufen, als sie geplant hatte. Sie steuerte gerade zielgerichtet einen Händler an, den Brix ihr beschrieben hatte, als jemand urplötzlich und mit ziemlicher Wucht in sie hineinrannte. Gemeinsam mit dem Mann stolperte Siv ein paar Schritte zur Seite, und sie stießen mit einer dritten Person zusammen, die gerade vor einem Stand mit Tüchern gestanden hatte.


    Sim-Off:

    reseviert

    Siv lag die Bitte auf der Zunge, Ursus möge auch in ihrem Namen die Götter um Hilfe bitten, aber sie hielt sich zurück. Stattdessen nickte sie nur. "Ja. Wenn es schlechter wird, dann auf jeden Fall Medicus." Das stand außer Frage für sie. Selbst wenn Corvinus’ Zustand sich nicht verschlechterte, sondern unverändert blieb, würde sie spätestens in der Früh Brix bitten, nach dem Medicus zu senden. Sie konnte Ursus verstehen, aber er brauchte sich keine Sorgen machen, schon gar nicht in diesem Fall. Sie hatte nicht vor, irgendein Risiko einzugehen. Mit vorsichtigen Bewegungen fuhr sie fort, Corvinus den Aufguss einzuflößen, als Ursus zu ihr kam und ihr eine Hand auf den Arm legte. Es geht um ein Leben. Einen Menschen, der mir sehr wichtig ist. Siv grub heftig die Zähne in die Unterlippe. Ich will ihn nicht verlieren. Diesmal musste sie sich zusammenreißen, um sich einen Kommentar verbeißen – oder einen Gefühlsausbruch, der entweder in einem kleinen Wutanfall geendet hätte oder in wilden Schluchzern. Sie konnte gar nicht sagen, ob sie Tränen näher war oder daran, Ursus anzufauchen, aber sie wusste, dass beides nicht half – und dass letzteres ungerecht war. Ursus war nicht der einzige, der Corvinus nicht verlieren wollte, und Siv war überzeugt davon, dass er nicht solche Angst um ihn hatte wie sie – aber das konnte er nicht wissen. Er wusste nicht, was sie empfand. Sie wiederholte das, in Gedanken, mehrmals hintereinander, während ihre Hand zitterte und sie gleichzeitig den Wunsch bekämpfte, es ihm zu sagen, oder besser, ihm um die Ohren zu schleudern. Was ihre Angst um Corvinus anging, war sie allein.


    "Ich weiß", presste sie schließlich hervor. "Ich… passe auf. Ich sage Brix Bescheid, rechtzeitig, wenn nichts hilft." Nun endlich sah sie hoch zu Ursus. "Das werde ich." Sie hielt seinem prüfenden Blick stand, und in ihren Augen war nichts zu lesen als die Sorge, die sich auch in seinen spiegelte – und schließlich nickte er und wandte sich ab, um das Zimmer zu verlassen und den Göttern zu opfern. Siv sah ihm einen winzigen Augenblick hinterher, dann wandte sie sich wieder Corvinus zu. Der Aufguss war inzwischen fast leer – ungefähr die Hälfte war vorbei oder wieder aus dem Mund gelaufen und vom Handtuch aufgefangen worden, wie Siv feststellte, als Nuala den Mann wieder sinken ließ und sie die Sachen beiseite legte. Aber das hieß, dass er die andere Hälfte getrunken hatte, und das war einiges, immerhin. Beide Sklavinnen schwiegen, während sie nun da saßen und warteten, und Siv wollte gerade sagen, dass Nuala auch gehen könne, weil es momentan nichts mehr zu tun gab – jedenfalls nichts, was sie nicht auch allein bewältigen konnte –, da erhob sich die andere und verabschiedete sich. "Mach ich. Und danke!" rief sie ihr leise nach, als Nuala den Raum verließ. Dann stand sie ebenfalls auf und prüfte die Wadenwickel, nur um festzustellen, dass diese bereits von der Hitze des Körpers getrocknet waren. Das Fieber allerdings schien noch nicht nennenswert gesunken zu sein, also erneuerte Siv die Wickel, mit erzwungen ruhigen Bewegungen, weil ihre Hände bebten. Anschließend setzte sie sich wieder ans Kopfende des Bettes, angelte nach einem der Tücher und benetzte es mit kaltem Wasser, um es wieder auf seine Stirn zu legen. Kühlte ihre Hände im Wasser und strich ihm dann sacht über das Gesicht. "Marcus… Werd wieder gesund. Hörst du? Werd bloß wieder gesund…" Wieder biss sie sich auf die Unterlippe, diesmal, um Tränen zurück zu drängen. Heulen half nicht, nicht im Geringsten. Sie musste sich irgendwie ablenken. "Möchtest du eine Geschichte hören? Weißt du noch, als du mir erzählt hast von Pegasus, und Celeris – und ich von Sleipnir?" Sie konnte sich noch so gut an diese Nacht erinnern, so lang sie inzwischen auch her sein mochte. "Ganz ehrlich, ich hatte nicht den Eindruck, dass du da meine Geschichte wirklich verstanden hast. Hm… Kein Wunder, würde ich sagen, da konnte ich noch kaum Latein. Und jetzt sieh mich an, ich bin doch wirklich besser geworden, oder nicht?" Ein vages Lächeln flog über ihr Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass sie gerade Germanisch sprach. "Was hältst du davon, wenn ich dir die Geschichte noch mal erzähle, richtig diesmal…" Und Siv begann zu erzählen, auf Germanisch – immerhin hatte sie ja gesagt, sie wolle sie richtig erzählen. Und wenn Corvinus sie überhaupt hörte, würde für ihn ohnehin vermutlich nur der Klang ihrer Stimme zählen, nicht die Worte. Leise schwebten die Worte durch den Raum, getragen von ihrer Stimme, während Siv die Geschichte von dem Frostriesen erzählte, der von den Asen den Auftrag bekam, Asgard zu bauen, und dafür die Göttin Freya und mit ihr Sonne und Mond als Lohn wollte…

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    Original von Aurelia Prisca


    Prisca kam wieder zu ihr herüber und setzte sich erneut auf ihren Stuhl, während Siv noch grübelte. Als sie dann zu reden begann, stellte sie fast schon fasziniert fest, dass die Aurelia ihr gebannt zu lauschen schien – nicht wie eine Römerin einer Sklavin zuhören mochte, die etwas erzählte, sondern einfach… nun ja, einem anderen Menschen. Auch wenn im Grunde alle aurelischen Sklaven Glück hatten mit ihren Herren, zumindest gemessen an den Aureliern, die sie hier kennen gelernt hatte, hatte Siv dieses Gefühl bisher nur selten bei Römern erfahren. Als Prisca dann auch noch in ihr Lachen einstimmte, hatte das etwas Ehrliches an sich. Siv lächelte immer noch, als sie aufgehört hatten zu lachen. "Oh, doch… Ich denke schon. Dass er hat Spaß, daran. Wenn er Verstand hat." Sie zumindest hatte immer den Eindruck, dass es auch Corvinus gefiel, wenn sie die Initiative ergriff.


    Anschließend wurde Prisca ernster, und mit ihr auch Siv, je länger sie ihr zuhörte. Andeutungsweise schüttelte die Germanin den Kopf, nicht in einer verneinenden Geste, sondern um der anderen beizupflichten. "Nein. Corvinus ist besonders", stimmte sie ihr nachdenklich zu, nur um im nächsten Moment die Lippen aufeinander zu pressen. Sie sollte so etwas nicht sagen. Egal wie sehr es stimmte, egal wie überzeugt sie davon war, sie sollte vor anderen nicht so über Corvinus reden. Nicht so, dass durchklang, wie viel er ihr bedeutete. Ihre Augenbrauen zuckten kurz zueinander, während sie die rechte Hälfte ihrer Unterlippe zwischen die Zähne zog und auf ihre Hände hinab starrte. Dann sah sie wieder hoch, der Aurelia in die Augen. "Es gibt viele gute Männer. Du findest einen. Und du… Weißt du, ich bin nie eine gute Ehefrau gewesen, sicher nicht. Nicht am Anfang, jedenfalls. Das… lernt man auch." Betroffen sah Siv dann, wie sich die Augen Priscas mit Tränen zu füllen begannen, während es nun diese war, die auf ihre Finger hinabstarrte, die sich in unablässiger Bewegung befanden. Siv wollte nach ihren Händen greifen, wollte sie irgendwie trösten, aber sie war sich unsicher, ob das wirklich richtig war. Bevor sie jedoch eine Entscheidung treffen konnte, nahm Prisca sie ihr ab. Zu Sivs Erstaunen sah sie, wie die Aurelia plötzlich die Hand ausstreckte und nach der ihren griff. Zuerst überwog die Verblüffung, aber nach einem winzigen Moment, in der sie regungslos verharrte, schloss die Germanin ihre Finger um Priscas und drückte sie leicht, und nach einem kurzen Zögern streckte sie ihre andere Hand aus und strich der Aurelia leicht den Oberarm entlang, auf und ab. "Ich hab auch Angst vor Zukunft, manchmal", murmelte sie leise. Sie konnte Prisca verstehen, auch wenn diese andere Gründe für ihre Angst haben mochte. Oder hatte sie überhaupt andere Gründe? Sie sprach davon, dass sie nicht wusste, was sie in einer Ehe erwarten würde, was ihr zukünftiger Mann erwarten würde, wie sie eine gute Ehefrau sein konnte, aber das konnte nicht das einzige sein, warum sie Angst vor der Zukunft hatte. Siv wusste nicht, was genau zugrunde lag, aber der Gedanke, dass die Patrizierin möglicherweise verwöhnt war oder ähnliches, kam ihr nicht einmal ansatzweise, und noch nicht einmal die Überlegung, dass die Aurelia Sorgen plagten, die sie als Germanin oder als Sklavin nicht nachvollziehen konnte, hatte Raum in ihr. Im Gegenteil. So wie Prisca sprach, wie sie sich verhielt, hatte Siv das Gefühl, sie tatsächlich verstehen zu können. Und genau das war der Grund, warum sie erst einmal nichts sagte, sondern nur Priscas Hand hielt und ihren Arm streichelte. Sie wusste von sich selbst, dass es Momente gab, in denen sie nicht reden wollte, in denen sie keine Vorschläge hören wollte, wie sie etwas ändern oder verbessern könnte. Momente, in denen sie einfach nur jemanden haben wollte, der verstand, der bei ihr war, der für sie da war, ohne etwas zu sagen. Wie oft hatte sie sich in den Stall zu Idolum verkrochen, wenn es genau das war, was sie gebraucht hatte, vor allem dann, wenn sie nicht zu Corvinus hatte gehen können? Siv hatte das Gefühl, dass es das war, was Prisca nun brauchte, und so saß sie einfach nur da und schwieg – und war da.

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    Original von Phraates


    Phraates nahm sich etwas zurück, aber als Siv ihm nur dasselbe sagte wie zuvor – dass sie ihm eben nichts sagen konnte – schien seine Verärgerung wieder zuzunehmen. "Nein!" verteidigte sie sich. "Ich will nicht, dass du kommst in ein Loch!" Natürlich wollte sie das nicht, wieso denn auch? Sie kannte den Parther ja überhaupt nicht, warum sollte sie ihm etwas Schlechtes wünschen? Aber es war auch nicht ihre Schuld, dass die Flavia so unmöglich war und ihre Sklaven so schlecht behandelte, selbst dann, wenn es noch nicht mal deren Schuld war, dass sie einen ihrer Aufträge nicht hatten erfüllen können. "Es geht nicht darum, was Celerina mir tut. Ob." Siv presste die Lippen aufeinander und musterte Phraates. Unter der Verärgerung, der Wut über ihre Weigerung zu reden schien er tatsächlich Angst vor dem zu haben, was Celerina tun könnte, und Siv konnte ihn da sogar verstehen. Sie wusste was es hieß, tagelang in irgendeinem dunklen Kellergewölbe eingesperrt zu sein, auch wenn Matho damals derjenige gewesen war, der das – ohne Wissen der Aurelier – veranlasst hatte. Sie hatte Panik gehabt, war verzweifelt gewesen, und wenn sie nicht nachts Besuch von den anderen bekommen hätte, wäre diese Zeit noch viel schlimmer gewesen. Nein, sie wünschte Phraates das nicht. Aber sie würde ihm auch nicht das sagen, was er von ihr wissen wollte. Und es stimmte: es ging ihr nicht darum, dass die Flavia wütend auf sie sein könnte. Damit hätte sie kein Problem, legte Siv doch nicht wirklich Wert auf ein gutes Verhältnis zu ihr, auch wenn sie wusste, dass Corvinus das vermutlich am liebsten sein würde. Sie konnte ihr das Leben schwerer machen, aber sie konnte ihr nicht wirklich etwas tun, sie nicht einmal bestrafen – wenn sie ein Problem mit ihr haben würde, würde sie zu Corvinus gehen müssen. Und mehr noch: Celerina zog in die Villa der Aurelier, nicht Siv zu den Flaviern, und Brix würde das Seine dazu tun, dass die Flavia ihre Launen nicht allzu sehr auslassen konnte – jedenfalls nicht an den Sklaven, die nicht ihr gehörten. Und noch etwas kam dazu: Siv hatte aus der Sache mit Matho gelernt. Und sie erinnerte sich nur zu gut an das Versprechen, dass sie Corvinus gegeben hatte – dass sie nicht mehr versuchen würde, allein mit so etwas fertig zu werden. Dass sie das nächste Mal mit ihm reden würde.


    Phraates konnte sie aber nichts davon sagen. Allerdings, etwas anderes war da schon. "Sag ihr, dass ich nichts gesagt habe. Nur, dass ich Leibsklavin von Corvinus bin. Und dass wenn sie was wissen will, über ihn, sie muss mit ihm reden. Dass wenn sie ein Problem hat, mit mir, oder dass ich dir nichts erzählt habe, dann auch. Sie muss mit ihm reden." Und Siv würde auch mit ihm reden. Allerdings sagte sie das nicht laut – und sie würde Corvinus bitten, bei der Flavia darüber kein Wort zu verlieren, oder wenn, dann vorsichtig zu sein. Sie wollte nicht, dass Phraates am Ende noch mehr Ärger bekam, weil Corvinus Celerina fragte, warum sie einen ihrer Sklaven darauf ansetzte, etwas über ihn herauszufinden. Vermutlich hatte sie sich nicht vorgestellt, dass Phraates derart offen mit seinem Anliegen herausrücken würde. "Und… also, ab heute, ihr seid doch eh bei uns, in der Villa. Wenn Celerina dich bestraft, trotz dem, also, dass das nicht deine Schuld ist, ich kann helfen." So wie Merit-Amun und die anderen ihr geholfen hatten, in Germanien. Brix würde in dem Fall ein Auge zudrücken, da war sie sich sicher, vielleicht würde er sogar ebenfalls helfen, wenn er erfuhr, was dahinter steckte.

    Die Augen geschlossen, die Finger leicht in seinem Nacken hin und her bewegend, lehnte Siv an Corvinus und genoss es einfach, so von ihm gehalten zu werden. Dass sie eigentlich auch noch etwas für ihn hatte, war mittlerweile völlig in den Hintergrund getreten. Ihre Lippen verzogen sich unwillkürlich zu einem Lächeln, als er auf ihre Frage antwortete. "Ich auch nicht", murmelte sie und blieb wie sie war, während ihre Finger mit den kraulenden Bewegungen in seinen Haaren fortfuhren. Im Gegensatz zu ihm offenbar wäre ihr schon noch etwas eingefallen, aber sie war zufrieden mit der Situation, wie sie war, war es für ihren Geschmack doch ohnehin selten genug so. Eine Weile verging in Schweigen, dann, gerade als sich auf Sivs Gesicht ein verschmitztes Grinsen zu bilden begann, mit dem sie nur einen Augenblick später hochgesehen und gefragt hätte, ob er tatsächlich nichts weiter bräuchte, ergriff Corvinus erneut das Wort. Und Sivs Kopf blieb unbewegt. Sie sah nicht nach oben, und sie war dankbar dafür, dass sie es noch nicht getan hätte, hätte er so doch gesehen, wie ihr Lächeln erstarrte und schließlich erstarb. Dass ihr Körper sich in seinen Armen etwas versteifte, konnte ihm wohl kaum entgehen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ihre Finger stoppten. War seine Zufriedenheit durch Ernüchterung ersetzt worden, hatte Siv auf einmal das Gefühl, Tränen unterdrücken zu müssen. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil ihr das in letzter Zeit so häufig passierte, und sie kämpfte dagegen an – dass sie reizbarer war als sonst, damit hatte sie weniger ein Problem, aber empfindlicher zu sein hieß, schwächer zu sein. Und das wollte Siv nicht. In dieser Situation kam hinzu, dass weder sie noch Corvinus etwas ändern konnten.


    Sie schluckte den Kloß hinunter, der in ihrem Hals festzustecken schien, und sah immer noch nicht auf. "Ich weiß", antwortete sie leise. Was sonst sollte sie auch sagen? Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte ihn davon überzeugen zu wollen, sich nicht schlecht zu fühlen. Und Celerina durfte davon nichts erfahren, das stimmte. Es war einfach besser so. Aber warum musste sein schlechtes Gewissen ihn ausgerechnet jetzt plagen? Warum hatte er überhaupt ein schlechtes Gewissen? Die Flavia war mit Sicherheit kein Unschuldslamm, so wie Siv sie kennen gelernt hatte. Ein Funken Trotz flammte in ihr auf, und flüchtig kam ihr der Gedanke, dass sich Celerina doch auch mit einem Sklaven vergnügen konnte. So lange nichts bekannt wurde, schien für die Römer dann doch alles in bester Ordnung zu sein, als warum nicht? Aber sie wusste auch, dass Corvinus Recht hatte, und das nicht nur damit, dass die Flavia nichts erfahren durfte. Sie hatte es nicht verdient. Aber Corvinus hatte es auch nicht verdient, eine Frau heiraten zu müssen, für die er nicht mehr empfand als Sympathie, wenn er doch eine andere liebte. Und sie selbst hatte es nicht verdient, ihre Gefühle ständig verbergen zu müssen.


    Als die Frage nach der Wiege kam, löste Siv sich aus seiner Umarmung. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie sich wirklich im Griff hatte, und solange er sie im Arm hielt, war ihr die Gefahr zu groß, dass sie doch noch anfing zu weinen. Und das wollte sie nicht. Sie wollte ihm nicht noch ein schlechteres Gewissen machen, als er ohnehin schon hatte, zumal sie gewusst hatte, worauf sie sich einließ, als sie sich entschieden hatte für ihn. "Ehm", machte sie und räusperte sich leise, weil sie das Gefühl hatte, dass ihre Stimme etwas schwankte. Kurz sah sie ihn an, dann wandte sie sich ein weiteres Mal der Wiege zu und strich in einer zärtlichen Geste über den Pferdekopf, fuhr die Konturen nach, beginnend bei den Ohren, über die Augen hinab bis zu den Nüstern. "Sechs Monate, ungefähr. Vielleicht weniger." Erneut warf sie ihm einen Blick zu und bemühte sich um ein Lächeln, während sie grübelte, warum er diese Frage wohl gestellt hatte, in diesem Moment. Weil er darüber nachdachte, wie lange er noch Zeit haben mochte, bis er Celerina etwas erzählen musste, wenn seine Leibsklavin ein Kind auf die Welt brachte? Mit einer etwas fahrigen Geste strich sie sich einige Strähnen aus dem Gesicht, die sich aus der Spange gelöst hatten, und verbannte sie hinter ihr Ohr. Für einen Augenblick überlegte sie, ganz abzulenken, sein Geschenk heraus zu kramen und es ihm zu geben, aber der Augenblick erschien ihr falsch dafür, und sie wollte auch nicht auf eine derart plumpe Art ablenken, wenn er von etwas begann, was ihm wichtig war. Auch wenn es ihr weh tat, dass sich die friedliche Atmosphäre geändert hatte, dass die Flavia nun wieder zwischen ihnen zu stehen schien, war sie doch froh, dass er mit ihr über das redete, was ihn beschäftigte – und sich nicht wortlos zurückzog und eine Distanz schaffte, die Siv nicht überbrücken konnte, weil er sie nicht an sich heranließ. Mit dem Oberschenkel lehnte sie nun leicht an der Wiege, während sie ihn ansah, immer noch mit einem halben Lächeln auf den Lippen, das sich nicht so recht entscheiden zu können schien, ob es nun unsicher, verlegen, freudig sein oder ganz verschwinden wollte. "Es wird… ein Frühlingskind." Das Lächeln verstärkte sich wieder etwas, als Siv an das Kind denken musste, und wie so häufig legte sich ihre Hand unbewusst auf ihren Bauch. Dann wurde sie wieder ernster. "Was sagst du ihr? Wenn sie fragt?"

    Als Ursus das erste Mal vorschlug, einen Medicus zu rufen, verstand Siv gar nicht, was er sagte – zu sehr konzentrierte sie sich in diesem Moment auf Corvinus. Seine Antwort auf ihre Frage jedoch hörte sie. „Apollo. Und Aesculapius“, wiederholte sie, entschlossen, zum Hausaltar zu gehen und etwas Weihrauch zu verbrennen, sobald sie die Gelegenheit dazu hatte. Corvinus war Römer, es erschien ihr nur logisch, römische Götter darum zu bitten, dass er wieder gesund wurde. Allerdings wusste sie nicht, wann sie hier weg konnte – und vor allem wusste sie nicht, wann sie hier weg wollte. Wenn es nach ihr ging, würde sie vermutlich erst dann wieder diesen Raum für einen längeren Zeitraum verlassen, wenn es Corvinus schon wieder so gut ging, dass keine Bitte, sondern ein Dank angebracht war. Siv schickte ein stummes Stoßgebet zu den beiden Göttern, die Ursus ihr genannt hatte, eine flehentliche Bitte, Corvinus wieder gesund werden zu lassen, eine Entschuldigung dafür, dass sie im Augenblick nicht opfern konnte, nicht einmal am Hausaltar, und das Versprechen, dies so bald wie möglich nachzuholen.


    Sie nickte Nuala auf deren Vorschlag hin zu. „Ja, ich denk auch, dass der Aufguss fertig ist“, antwortete sie, unwillkürlich ebenfalls auf Germanisch. „In Ordnung, machen wir so. Du-“ In diesem Moment sprach Ursus erneut das Thema Medicus an, und diesmal hörte Siv ihn. Sie zögerte. Sie war absolut dafür, einen Medicus zu rufen – allerdings war sie sich nicht sicher, ob das wirklich nötig war, oder ob sie nur dieses Bedürfnis hatte, weil es eben Corvinus war, der dort im Fieberschlaf lag. Sie war nicht objektiv, dafür bedeutete er ihr zu viel. Während sie die Unterlippe zwischen die Zähne zog und noch überlegte, gab Nuala bereits ihre Einschätzung der Lage zum Besten. Siv bewegte ihren Kopf. „Ich weiß nicht…“ Sie sah zu Corvinus und biss sich erneut auf die Unterlippe, diesmal so stark, dass sie beinahe zu bluten begann. „Wir warten bis morgen. Wenn bis dahin nicht besser, dann rufen wir Medicus.“ Ihr Blick wandte sich wieder Ursus zu, während sie nach dem Aufguss griff, einen Becher davon einschenkte und darauf wartete, dass Nuala Corvinus etwas aufrichtete. „Ich kenne einen Medicus. A… Arcatus… Aca… Ara… Brix weiß ihn, und weiß wo er wohnt. Er ist sehr gut.“ Als sie das sagte, klang ihre Stimme überzeugt, und das war sie auch – seit Aracus von Zákinthos sie untersucht hatte, genauer gesagt, seit er ihr offenbart hatte, dass er von ihrer Schwangerschaft wusste, ohne dass sie ihn überhaupt von ihrem Verdacht in Kenntnis gesetzt hatte, war sie von ihm beeindruckt – und er hatte eine freundliche, ruhige, aber nichtsdestotrotz bestimmte Art, die Vertrauen einflößte. Auch wenn er die – für Siv zumindest – extrem unangenehme Angewohnheit hatte, nicht zu erklären, was er gerade tat. Dann griff sie sich ein Tuch und setzte sich zu Corvinus, dessen Schultern und Kopf Nuala etwas angehoben hatte, und versuchte vorsichtig, ihm etwas von dem Kräuteraufguss einzuflößen. Zunächst gestaltete sich das als eher schwierig, und Siv war froh, dass sie an das Tuch gedacht hatte, das die überlaufende Flüssigkeit abfing, bevor sie Corvinus’ Schlaftunika oder Bettzeug erreichte. Dann jedoch begann der Kranke, auf die zusätzliche Flüssigkeit in seinem Mund zu reagieren, und vollführte langsame Schluckbewegungen, die nicht wirklich viel die Kehle hinunter beförderten, aber immerhin etwas.

    Siv wusste nicht, was dem Parther gerade durch den Kopf ging, aber sie konnte es sich in etwa vorstellen. Sie hatte die Flavia ja kennen gelernt, sie konnte sich nicht vorstellen, dass es angenehm war, zu ihr zu gehen und ihr einen Fehlschlag zu beichten. Aber Siv konnte und wollte ihm nicht weiter helfen. Am liebsten hätte sie sich darüber aufgeregt, was die Flavia sich einbildete, einen ihrer Sklaven loszuschicken und sie auszuquetschen, dass sie es ihm zumutete und ihr, und normalerweise hätte sie sich auch aufgeregt. Aber sie hatte nicht die Energie dafür. Nicht jetzt. Nicht heute. Die Tatsache, dass Corvinus die Flavia heute heiratete, ihr versprach, an ihrer Seite zu sein, ließ sich nicht weit genug verdrängen, als dass ihr Temperament die Oberhand hätte bekommen können in diesem Augenblick. Genauso wenig schaffte sie es, wirklich mehr als etwas Mitgefühl für Phraates aufzubringen, geschweige denn sich etwas einfallen zu lassen, das ihnen beiden helfen könnte – was unter normalen Umständen der nächste Schritt für sie gewesen wäre. Nachzudenken, was sie sagen könnte, das nichts verriet, Phraates aber nicht mit völlig leeren Händen zu der Flavia zurückkehren ließ, so dass er nicht bestraft wurde.


    Die Panik, die kurz in Phraates’ Augen aufflackerte, entging der Germanin. Die anschließende Verärgerung dagegen jedoch nicht, die sich noch steigerte, als der Parther anfing sie auch verbal auszudrücken – und mit fremden Worten um sich schmiss, die Siv zwar nicht verstand, von denen sie aber durch den Kontext eine ungefähre Vorstellung hatte, was sie bedeuten mochten. Irgendjemand, der in seinem Heimatland etwas zu sagen hatte. Jemand, der Autorität hatte – und sie in diesem Moment auch einzusetzen versuchte. Und sie wirkte auch. Auch hier wieder hätte Siv normalerweise völlig anders reagiert. Sie hätte sich entweder aufgeregt oder wäre ironisch geworden, hätte sich auf eine Art verhalten, die ihr im Grunde nur Ärger einhandeln konnte und in der Vergangenheit auch nur zu oft Ärger eingehandelt hatte. Aufgrund ihrer Schwangerschaft war Siv aber derzeit generell empfindlicher als für gewöhnlich, und der heutige Tag machte es noch einmal schwieriger für sie. So initiierte Phraates’ Verhalten in ihr in diesem Moment nicht ihren üblichen Trotz, sondern bewirkte im Gegenteil eher das, was es vermutlich bewirken sollte: Siv war eingeschüchtert. Wäre die Reling nicht in ihrem Rücken gewesen, sie hätte in diesem Moment einen Schritt zurückgetan, so presste sie sich nur gegen fester das Holz und schlang ihre verschränkten Arme in einer unwillkürlichen Abwehrreaktion enger um ihren Oberkörper. Sie starrte ihn an, aus blauen Augen, in denen zu erkennen war, dass sie in diesem Moment Angst vor ihm hatte. Sie wusste, dass er ihr nichts tun konnte, vor allem nicht hier, aber sie konnte es nicht verhindern, dass sie so empfand. Wären sie jetzt allein gewesen, Siv hätte versucht wegzukommen.


    Ob es nun an ihrer zwar wortlosen, aber wohl doch merkbaren Reaktion lag oder an etwas anderem – Phraates wurde wenigstens für einen Moment wieder normal, und diesmal sah Siv einen Teil der Verzweiflung, die ihn überhaupt erst so weit getrieben hatte. Sie war immer noch vorsichtig, hatte immer noch ein mulmiges Gefühl, und gleichzeitig war auch wieder das Mitgefühl da – und trotzdem: sie weigerte sich, ihm zu sagen, was er wissen wollte. Sie konnte es ihm nicht sagen. Sie würde die Flavia nicht aufs Glatteis führen, aber sie würde ihr auch nicht erzählen, dass sie mit Corvinus das Bett teilte – sie konnte das einfach nicht. Es reichte doch schon, dass die Flavia Corvinus heiraten würde, dass sie mit ihm zusammen sein konnte, ohne es geheim halten zu müssen, und dazu noch entsprechend Zeit abging, die sie selbst mit ihm verbringen konnte – und dass sie allein damit Sivs Situation um einiges erschweren würde, selbst wenn sie eine freundlichere Herrin wäre. Davon abgesehen wagte Siv sich gar nicht vorzustellen, wie ihr Leben werden würde unter einer Hausherrin, die wusste, dass sie mit ihrem Mann das Bett teilte. Selbst wenn Celerina davon ausging, dass es nicht mehr war als eben das – ein Römer, der eine Sklavin zu sich rief, was nicht ungewöhnlich war, unabhängig davon ob er verheiratet war oder nicht –, würde sie kaum davon begeistert sein. Aber was würde passieren, wie würde sie reagieren, wenn sie erfuhr, dass mehr war zwischen ihrem Mann und seiner Leibsklavin? Siv gehörte nicht Celerina, sie konnte nicht einfach über sie verfügen, zumal sie einen anderen Status hatte als die üblichen Haussklaven. Aber sie würde die Hausherrin werden, und als solche hatte sie durchaus Möglichkeiten, Siv das Leben schwer zu machen. Aber obwohl diese Überlegungen Siv durch den Kopf gingen, waren sie im Grunde höchstens zweitrangig für sie. Der Hauptgrund für ihre Weigerung war schlicht und einfach: sie wollte nicht. Sie konnte es noch nicht einmal wirklich erklären, aber etwas in ihr sperrte sich zutiefst dagegen. Sie liebte Corvinus, und was sie mit ihm und durch ihn hatte, war ihr zu wertvoll, um darüber zu tratschen, was sich bei ihnen im Bett abspielte, oder jemandem zu erzählen, was zwischen ihnen war – noch dazu jemandem, der dieses Vertrauen weder verdient hatte noch wertschätzen konnte, schon allein, weil sie sich nicht kannten, aber auch weil er vorhatte, es weiter zu erzählen. „Es tut mir leid“, antwortete sie, und man konnte ihr anhören, dass sie es ehrlich meinte, auch wenn sie das mulmige Gefühl, das sie dabei hatte, immer noch nicht ganz unterdrücken konnte. „Wirklich. Ich will nicht, dass du kommst in Loch. Aber ich kann nichts sagen. Ich…“ Hilflos zuckte sie die Achseln. Warum konnte Phraates nicht einfach das an Celerina weitergeben? Warum konnte die nicht einfach nur sauer auf sie sein? Sollte sie doch, Siv legte nicht unbedingt Wert darauf, von der Flavia gemocht zu werden, nicht wenn sie ihr im Grunde nicht mehr ankreiden konnte als die Tatsache, dass sie eine loyale Sklavin war. Oder noch besser, Phraates vermittelte es ihr auf eine Art und Weise, dass sie glauben würde, Siv wüsste tatsächlich nichts. Aber das konnte sie nicht laut sagen, weil das allein sie schon wieder verdächtig machen würde – und sie wusste nach wie vor nicht, wie loyal Phraates als Sklave war, ob er das dann ebenfalls weiter erzählen würde.