Beiträge von Aureliana Siv

    Sivs linker Mundwinkel zuckte kurz nach oben, als Corvinus ihren Satz vollendete, aber zu mehr reichte es dann doch nicht – zu sehr war sie gefangen von der Wiege, als dass sie seinem Kommentar oder seinem leisen Lachen mehr Beachtung hätte schenken können. Einige Momente widmete sie sich nur dem kunstvoll bearbeiteten Möbelstück, bevor sie schließlich Corvinus umarmte. Seine Reaktion darauf, dass sie ihn bei seinem Praenomen nannte, entging ihr nicht, und sie erwiderte sein Lächeln. Sie benutzte gerne seinen Namen, aber sie tat es selten – lange hatte sie sich geweigert, irgendeine Form von Anrede zu benutzen, weil diese anfangs Herr hätte lauten müssen, und das war etwas, was Siv bis heute nur in den seltensten Fällen über die Lippen brachte, jedenfalls dann, wenn es nicht ironisch gemeint war. Dann, als die Beziehung zwischen ihnen vertrauter geworden war, hatte sie lange nicht gewusst, wie sie ihn ansprechen sollte. Dazu kam noch, dass Siv ohnehin Namen eher selten nutzte, wenn sie nicht jemanden Bestimmten auf sich aufmerksam machen wollte – und so hatte sie sich im Lauf der Zeit angewöhnt, Corvinus kaum direkt anzureden, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Was sich letztlich als Vorteil herausgestellt hatte, denn so war die Gefahr geringer, dass ihr irgendwann ein Fehler unterlief und sie den falschen Namen nutzte.


    Sie erwiderte sein Schmunzeln, und sie hätte am liebsten seinen Namen noch einmal ausgesprochen, weich und langsam, hätte den Klang der Buchstaben auf der Zunge schmecken wollen, aber sie ließ bleiben. Stattdessen schmiegte sie sich nur an ihn und legte ihr Gesicht wieder an seine Brust, was er dazu nutzte, sein Kinn leicht auf ihren Kopf zu stützen. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, aber Siv störte das nicht im Geringsten, nicht so, wie er sie gerade hielt. Als er dann endlich reagierte, tat er es anders, als sie gedächt hätte – aber dafür auf eine Art und Weise, die es ihr schwer machte, sich an die eigentliche Frage zu erinnern, oder das, was sie damit gewollt hatte. Oder an das Geschenk, dass sie in ihrer Truhe verstaut hatte. Ein Laut kam aus ihrer Kehle, der mehr einem Schnurren glich denn irgendetwas anderem, während Siv sich von ihm fester an sich ziehen ließ und die Umarmung genoss, die Wärme seines Körpers, seine Beschaffenheit, sein Duft, die Nähe. „Mmmh“, machte sie leise, ein Laut, der fast schon einem Schnurren glich, während sie die Umarmung genoss. „Weiß nicht… Mmh… Ich glaub… Mir fällt gerade noch was ein“, seufzte sie dann, etwas undeutlich, weil sie ihr Gesicht nicht wirklich von dem Stoff seiner Tunika löste. Eine ihrer Hände wanderte über seine Brust nach oben zu seinem Hals und dann zu seinem Nacken, wo ihre Finger begannen, ihn sacht zu liebkosen, ein Stück weit in seine Haare hinauffuhren und wieder hinab. „Kommt auf dich an. Was willst du haben? Jetzt?“

    Sivs Mundwinkel hoben sich, als sie seine Hand auf ihrer Wange spürte, und ihr Kopf neigte sich um eine Winzigkeit der Berührung entgegen. Ihre Lider senkten sich kurz, aber gleich darauf öffnete sie sie wieder und sah ihn mit leichter Überraschung an. "Schon deinem Vater?" echote sie. Ihre Finger strichen nun beinahe ehrfürchtig über die Seiten. Das Buch war nicht nur wichtig für ihn gewesen, sondern hatte davor auch schon seinem Vater gehört, was Siv nicht nur klar machte, dass es noch älter war als sie gedacht hatte, sondern dass es auch noch mehr bedeutete. "Danke", wiederholte sie dann schlicht, nur um gleich darauf leise zu lachen, als sie sein Zwinkern sah. "Es ist nicht schäbig. Gar nicht. Sag nichts gegen mein Buch!" Grinsend sah sie kurz auf die Seiten hinunter und legte ein schmales Band dazwischen, bevor sie das Buch schloss, die Decke beiseite legte und dann aufstand. Aus einem Reflex heraus wollte sie die Decke gleich zusammenlegen und aufräumen, aber Corvinus hatte schon ihre Hand ergriffen, und dann fiel ihr ein, dass ja Saturnalien waren – wenn sie das erst morgen aufräumte, würde das in diesen Tagen niemanden stören.


    Leise folgte sie ihm durch die Gänge, in Richtung seines Cubiculums, wie sie nach ein paar Wendungen vermutete. Seine angenehm warme Hand war um ihre etwas kühlen Finger geschlossen, während sie in der anderen das Buch hielt, und ein neugieriger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Tatsächlich bogen sie bald in den Gang ein, in dem sein Gemach lag, aber zu ihrem Erstaunen hielten sie dann vor der Tür, die zu ihrer Kammer nebenan führte. Verblüfft und neugierig sah sie ihn an und wollte schon etwas fragen, als er ihr zuvor kam. "In Ordnung", meinte sie nach einem kurzen Moment, und nach einem weiteren gespannten Blick zuerst in seine Richtung, dann zur Tür, schloss sie gehorsam ihre Augen und wartete. Ein Augenblick verstrich, dann konnte sie hören, wie eine Tür geöffnet wurde. Ein sachter Lufthauch strich über ihr Gesicht, der unaufdringliche Geruch von verbrennendem Öl drang in ihre Nase, vermischt einem anderen. Dann spürte sie Corvinus’ Hände, die sich auf ihre Schultern legten und einen sachten Druck ausübten, dem Siv anstandslos folgte. Der Geruch wurde stärker, nach Öl und etwas, das sie nun als Harz identifizierte. Holz? Er hatte irgendetwas aus Holz für sie? Sie ließ sich weiter in den Raum hinein führen, bis Corvinus stoppte und sie hieß, ihre Augen wieder zu öffnen. Langsam, um die Spannung bis zuletzt auszukosten, hob sie ihre Lider an. Sie nahm sofort wahr, was vor ihr stand, aber es dauerte, bis sie es tatsächlich begriff. Eine Wiege. Das allein wäre schon mehr als genug für Siv gewesen, sich zu freuen, wäre mehr gewesen, als sie erwartet hätte – aber es war nicht einfach nur irgendeine Wiege. Sie glich mehr einem Kunstwerk denn einem Möbelstück. Dunkles Holz zeigte sich Siv, vom Licht der Öllampen mit einem warmen Schein überzogen, kunstvolle Schnitzereien, die liebevoll bis ins kleinste Detail ausgearbeitet waren, ein zart geschwungener Pferdehals, den ein edler Kopf krönte und der zur anderen Seite hin in eleganten Flügeln endete. Die Germanin stand Augenblicke einfach nur da und starrte sprachlos das Möbelstück an. Ihre Lippen teilten sich in Erstaunen, aber noch kam kein Laut darüber. Schließlich blinzelte sie, zweimal rasch hintereinander, und streckte eine Hand danach aus, als wollte sie es berühren, aber ihr Arm verharrte auf halber Höhe. Dann fuhr ihr Kopf zu Corvinus herum, suchten ihre Augen seinen Blick. "Marcus, das… das ist…" Ihre Hände, in einer davon immer noch das Buch, hoben sich, bis sie etwa auf der Höhe ihrer Brust waren, bewegten sich von der Wiege zu Corvinus und wieder zurück. Sie war immer noch sprachlos, was selten genug vorkam, und so drehte sie sich schließlich wieder um, immer noch mit offenem Mund, legte endlich das Buch beiseite auf ihr Bett und überwand nun den letzten Schritt hin zu ihrem Geschenk, um es nun auch mit ihren Händen wahrnehmen zu können. Vorsichtig, fast so als bestünde die Gefahr, sie könnte das Holz zerbrechen, strich Siv über die Konturen der Wiege, glitten ihre Finger den Pferdekopf, hinab zu den Flügeln und über die anderen Schnitzereien, während sie selbst leicht in die Knie ging. Dann erhob sie sich, wandte sich erneut Corvinus zu, und diesmal war sie mit einem Schritt bei ihm und schlang ihm die Arme um den Hals. "Danke! Das ist… Ich weiß nicht, was ich… das ist wunderschön, das…" Siv fand immer noch keine Worte. Stattdessen drückte sie für Momente ihr Gesicht an seine Brust, bevor sie sich, ohne ihn loszulassen, etwas zur Seite drehte, um wieder zu der Wiege sehen zu können. Ohne es wirklich zu wollen oder bewusst daran zu denken, sah sie vor ihrem inneren Auge plötzlich ein Kind darin liegen, auf dem roten Stoff, im ruhigen Schein der Öllampen. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, während sie erneut zu ihm hochsah. "Danke, Marcus." War ihr sein Name zuvor noch aufgrund der Überraschung über die Lippen gerutscht, sprach sie ihn jetzt bewusst damit an, bevor sie sein Gesicht in ihre Hände nahm und ihn küsste. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, hatte ihr Lächeln etwas Verschmitztes. "Magst du jetzt deins? Dein Geschenk?"

    "Phraaates", wiederholte Siv, diesmal schon deutlich näher an seiner Aussprache dran. Aus Parthien stammte der Sklave also, wie Cassim – das erklärte durchaus seinen fremdartigen Aufzug und seine manchmal etwas wunderliche Wortwahl, fand sie. Cassim sprach zwar anders, und im Gegensatz zu Phraates konnte er Latein fließend, aber auch er hatte eine etwas… nun ja, wunderliche Art, manche Dinge zu formulieren, fand sie. Ihren Kommentar über Caelyn nahm Phraates zum Anlass, etwas ausschweifender zu erklären, was sich zugetragen hatte – und dass die Keltin keine Schuld traf. "Ah ja", machte Siv nur, die dem Parther nicht wirklich glaubte. Erst hatte Caelyn angeblich etwas gesagt, dann nur angedeutet, und dann sollte es angeblich nur ein Missverständnis gewesen sein? Nein. Sivs Entschluss, mit Caelyn zu reden, stand fest – Phraates’ gut gemeinter Versuch, sie in Schutz zu nehmen, bekräftigten die Germanin darin noch eher. Aber sie konnte die Keltin ja immerhin zuerst fragen, was sie genau gesagt hatte.


    Dass ihre folgende Reaktion Phraates wiederum in seiner Annahme bestärkte, bei der Richtigen gelandet zu sein, ahnte Siv nicht – und wenn sie es geahnt hätte, hätte sie sich über sich selbst geärgert. Aber wie hätte sie auch reagieren können auf eine solche Frage? Noch dazu wenn, wie der Parther gleich darauf verriet, die Flavia ihn offensichtlich tatsächlich zu ihr geschickt hatte – oder besser, zu einer Sklavin aus dem Norden, die viel mit Corvinus zu tun hatte, und da gab es nun nicht sonderlich viele zur Auswahl, auf die beides zutraf. Siv rieb sich kurz über die Stirn mit ihrer Linken und stützte sie dann wieder auf der Reling ab. Phraates war mehr und mehr anzumerken, wie unwohl er sich fühlte – und Siv fühlte sich hauptsächlich hilflos. Wieder war sie versucht, zu dem Brautpaar, zu Corvinus zu sehen, aber sie unterdrückte diesen Drang und sah stattdessen weiterhin ihr Gegenüber an. Ein Befehl seiner Herrin. Wie er das sagte, ließ den Schluss zu, dass das auch etwas war, was ihm nicht sonderlich gefiel – Sklave zu sein, eine Herrin zu haben, der er gehorchen musste. Aber Siv hatte im Moment nicht wirklich den Nerv, darauf genauer einzugehen. Celerina konnte doch eigentlich gar nichts wissen, also warum schickte sie ihren Sklaven ausgerechnet zu ihr? Siv biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, ob sie Corvinus davon erzählen sollte, nicht heute oder morgen, aber irgendwann in den nächsten Tagen. Wenn Celerina wusste, dass sie das Bett teilten, und dann von einem Sklaven im Haus erfuhr – oder spätestens in ein paar Wochen sah –, dass Siv schwanger war, würde sich ihr sicherlich die Frage aufdrängen, wer der Vater war. Erneut, diesmal unwillkürlich, löste sich ihre Linke von der Reling und glitt kurz über ihren immer noch flachen Bauch, bevor sie schließlich beide Arme vor der Brust verschränkte. Wenigstens jetzt war noch nichts zu sehen, erst recht nicht für jemanden, der sie und ihren Körper nicht kannte. Sogar sie selbst fragte sich manchmal, ob sie sich die kaum merkbaren Anzeichen, vor allem die winzige Wölbung ihres Bauchs, nicht einbildete, weil sie etwas sehen wollte. Im Moment war sie allerdings froh darum, dass ihre Schwangerschaft noch am Anfang war.


    Phraates hingegen begann der Germanin fast leid zu tun. Aber sie konnte ihm nicht helfen – sie würde sicherlich nicht mit ihm über etwas so Privates reden, nur damit er seiner Herrin etwas erzählen konnte. Für einen Moment kam ihr der Gedanke, selbst einfach irgendetwas zu erzählen – es war verlockend. Wenn sie es richtig anstellte, würde Phraates ihr wohl glauben, und dann würde Celerina… Aber Siv war nicht so. Sie war nicht diese Art von Mensch, und so schnell ihr dieser Gedanke gekommen war, so schnell verschwand er auch wieder. So verlockend es auch sein mochte, Celerina aufs Glatteis zu führen und für ein paar Peinlichkeiten in der Hochzeitsnacht zu sorgen, sie brachte es nicht über sich. Auch nicht in diesem Fall. Allerdings löste das nicht ihr Problem, was sie Phraates nun sagen sollte. Sie konnte verstehen, dass er die Frage hatte stellen müssen, damit er der Flavia wenigstens sagen konnte, er hatte es versucht, aber sie würde mit Sicherheit nicht über ihr Sexleben reden, nicht mit ihm und auch mit sonst keinem – damit würde sich der Parther abfinden müssen. Siv biss sich kurz auf die Unterlippen und hob leicht die Schultern an, wohl wissend, dass ihre Weigerung Phraates in Schwierigkeiten bringen konnte. "Mir tut es leid. Ich kann dir nicht helfen. Ich weiß nicht, was du sagen sollst, zu deiner Herrin. Was ich mache, oder mit wem, oder was Pflichten sind von mir, ist meine Sache." In dem Moment, in dem sie das sagte, fiel ihr etwas ein, und ohne ersichtliche Pause fügte sie nahtlos an: "Und von meinem Herrn. Sie muss Corvinus fragen." Vielleicht half das ja. Wenn Phraates, trotz seiner scheinbaren Abneigung gegen seine Herrin, dennoch ihren Auftrag so gewissenhaft ausführte, konnte er sicherlich nachvollziehen, dass sie umgekehrt nicht einfach über ihren Herrn zu tratschen begann. Sie war seine Leibsklavin, und genauso benahm sie sich – loyal und verschwiegen, was seine Angelegenheiten betraf. Ein solches Verhalten war nicht nur normal für jemanden mit ihrem Status, sondern wurde von ihr erwartet. Phraates und erst recht Celerina konnten daran nichts auszusetzen haben, oder etwas seltsam daran finden. Siv war froh, dass ihr das eingefallen war, und sie hoffte, dass Phraates es darauf beruhen ließ. Gesagt, ob sie nun tatsächlich mit Corvinus das Bett teilte oder nicht, hatte sie immer noch nicht – aber selbst wenn Celerinas Sklave diesen Verdacht hegte, dann nahm er nun vielleicht an, und erzählte das auch hoffentlich weiter, dass sie das nur tat, weil sie als Sklavin kaum eine andere Wahl hatte, wenn ihr Herr das von ihr einforderte.

    Siv nickte und lächelte etwas, als er ihren Namen wiederholte. So wie er ihn zuvor ausgesprochen hatte, hatte er etwas… versifft geklungen, und das hatte sie dann doch nicht einfach so durchgehen lassen können :D "Und du bist… Frattes. Fraaaates?" fragte sie nach. Wenn sie ihn schon verbesserte, was ihren Namen anging, und er so bereitwillig darauf einging, war es nur recht, wenn sie sich bemühte, seinen ebenfalls richtig auszusprechen. Egal, was er wohl von ihr wollte. Wovon Siv sich noch nicht wirklich eine Vorstellung machen konnte. Warum hatte die Flavia einen ihrer Sklaven zu ihr geschickt? Phraates’ Ausführungen, die sich der kurzen Begrüßung dann anschlossen, über das, was er fragen wollte, erwischten Siv dann aber doch ziemlich kalt. Celerina wollte wissen, wie Corvinus es im Bett mochte? Und wenn sie Phraates richtig verstand, dann ging es ihr offenbar um das Außergewöhnliche, um Situationen, in denen es zumindest nicht sonderlich leise zuging. Was sonst konnte der Sklave damit meinen, wenn er nicht psch-psch sagte? Was Siv allerdings nicht ganz klar wurde aus seinen Worten war, ob er nun dachte, sie könnte aus eigenen Erfahrungen berichten, oder ob sie Corvinus belauschte, oder eher: unfreiwillig etwas mitbekam, hatte sie doch als Leibsklavin die Kammer neben seinem Cubiculum. Oder wusste Phraates gar nicht, dass sie Corvinus’ Leibsklavin war? "Hat Caelyn gesagt, also?" fragte sie, um etwas Zeit zu gewinnen, während sie gleichzeitig leicht die Stirn runzelte. Was wusste er von ihr? Was hatte Celerina ihm erzählt? Sivs Blick flog kurz zu dem Brautpaar auf seinen Stühlen hinüber, als sich in ihrem Kopf gleich darauf die nächste Frage formte: was wusste sie? Wieso schickte sie ihren Sklaven mit dieser Frage ausgerechnet zu ihr – nur weil sie Corvinus’ Leibsklavin war, oder weil sie irgendetwas wusste?


    Obwohl die Celerina betreffenden Fragen durchaus dazu angetan waren, Siv etwas zu beschäftigen, war es letztlich egal, was Phraates wusste, dachte oder annahm. Es ging weder ihn noch Celerina etwas an, was Corvinus’ Vorlieben waren. Als ihr auffiel, dass das nur zur Hälfte stimmte, verbesserte sie sich gleich darauf mit zusammengebissenen Zähnen in Gedanken. Es ging die beiden nichts an, was passierte, wenn Corvinus mit Siv zusammen war. Sollte die Flavia ihren Ehemann doch selbst fragen, wenn sie es unbedingt wissen wollte. Und mit Caelyn würde sie auch noch ein Wörtchen reden, nahm sie sich vor, wenn die Keltin herumerzählte, Siv wüsste, worauf Corvinus im Bett stand – egal ob leise oder laut. Ihre Miene verschloss sich, während sie ihre Hände hinter sich auf der Reling abstützte und Phraates mit gerunzelter Stirn musterte. "Ich glaube nicht, dass das ist etwas, was dich angeht. Was er mag. Oder ob ich weiß, was er mag." Phraates konnte ja wohl nicht ernsthaft erwarten, dass sie ihm auf die Nase band, ob sie mit Corvinus überhaupt das Bett teilte, unabhängig davon, ob er das ohnehin schon wusste oder zumindest ahnte. Ungewöhnlich war es ja nicht, dass ein Römer eine seiner Sklavinnen zu sich ins Bett nahm – aber der Punkt war, dass es eine Frechheit war zu erwarten, dass sie mit einem Wildfremden darüber sprach. Phraates allerdings wirkte nicht so, als ob er sich gerade sonderlich wohl in seiner Haut fühlte – ganz im Gegenteil, er sah zu Boden und wirkte eher peinlich berührt. Vermutlich war es dieses Verhalten, das Siv zu einer Frage veranlasste. "Warum fragst du das?"

    Siv bemerkte die Überraschung der Aurelia, als sie davon sprach, dass sie für sich hatte frei sein wollen – und war dann selbst überrascht von der Antwort. Prisca kannte dieses Gefühl nicht? Den Wunsch, einfach frei zu sein, unabhängig, nicht für jemanden oder um etwas bestimmtes zu tun, sondern einfach… so? Einfach um des Gefühls willens? Siv folgte Prisca mit ihren Blicken, als diese aufstand und zum Fenster hinüber ging, während sie weitersprach. Ein Lächeln glitt über ihre Züge, als die Römerin von früher erzählte. Studienreise, Griechenland… Siv ertappte sich bei dem Wunsch, es Prisca gleich tun zu können, nach Griechenland reisen zu können, um dieses Land zu sehen, zu entdecken… Aber was die andere erzählte, ließ ihr Lächeln noch breiter werden, kam es ihr doch nur zu bekannt vor. Gerade eben noch hatte Prisca gesagt, sie würde dieses Gefühl, den Wunsch nach Freiheit nur um der Freiheit willen, nicht kennen, aber was sie jetzt sagte, widersprach dem – oder sie hatte Sivs Worte anders aufgefasst, als diese sie gemeint hatte. Nur das tun, wozu man gerade Lust hatte. Bei Siv war es im Grunde nicht anders gewesen. "So war es bei mir. Nur, nicht in Griechenland. In Germanien, eben. Tun was man Lust hat." Bis ihr Vater endgültig genug gehabt und sie verheiratet hatte. Aber selbst in ihrer Ehe hatte sie sich frei fühlen können, hatte Ragin ihr doch Freiraum gelassen und sie einfach akzeptiert, wie sie war. Sie hatte nur eine gewisse Zeit gebraucht, bis sie hatte akzeptieren können, dass eine Ehe mit Ragin nichts Schlechtes gewesen war für sie, ganz im Gegenteil. Dann verblasste ihr Lächeln. Einsamkeit. Auch dieses Gefühl kannte sie nur zu gut, auch wenn sie es, gemeinsam mit dem Schmerz und der Demütigung, hinter einer Mauer aus Wut und Trotz sorgfältig verborgen hatte – die Römer und die anderen Sklaven, die zusammen mit ihr nach Rom gebracht worden waren, mochte sie damit getäuscht haben, sich selbst nur bedingt. Aber auch das war etwas, was sie hinter sich gelassen hatte, einen großen Teil davon jedenfalls. Wirklich einsam fühlte sie sich selten, eigentlich nur in den Momenten, in denen Corvinus ihr fern erschien. Wenn er sich anders verhielt, anders handelte und dachte, als sie es getan hätte, wenn er sich zurückzog und verschloss und sie nicht teilhaben ließ an seinen Gedanken und Gefühlen. Und diese Einsamkeit war keine von der Art, die sie mit einer Schicht aus Wut hätte überdecken können. Siv wusste nicht genau, ob das daran lag, dass sie sich verändert hatte, dass sie nicht mehr ganz so trotzig und kindisch war wie früher, oder ob sich dieses Gefühl tatsächlich nicht so leicht verstecken ließ. Wahrscheinlich traf beides zu, mutmaßte sie, und dass sie, abgesehen von jenen Momenten, im Großen und Ganzen zufrieden, sogar glücklich war hier, trug sicher ebenfalls seinen Teil dazu bei, dass Siv auf Dinge, die sie verletzten oder benachteiligten, nicht mehr so häufig mit Starrsinn reagierte.


    Als Prisca dann wieder das Wort ergriff, sah Siv hoch zu der jungen Frau, die immer noch am Fenster stand und plötzlich so wirkte, als ob sie sich nicht ganz wohl in ihrer Haut fühlte. Als die Frage ausgesprochen war, wusste Siv warum, oder besser gesagt, sie meinte es zu wissen. Es dauerte es einen weiteren Moment, bis sie begriff, was Prisca mit ihrer Frage und der Geste zur Tür hin implizierte. "Eh", machte sie, während sie sich mit den Fingerkuppen zunächst über die Stirn fuhr, um dann durch ihre Haare zu streichen. Ein paar Strähnen lösten sich dadurch von ihrem Halt hinter ihrem Ohr und fielen nach vorne, und erneut strich Siv sich durch die Haare, diesmal, um eben jene Strähnen wieder nach hinten zu verbannen. Die Frage selbst war ihr nicht unangenehm, aber sie erinnerte sie an die eine Sache, die Siv – entgegen ihrer Beteuerungen gegenüber Corvinus – manchmal doch etwas zu schaffen machte. Sie konnte niemandem sagen, was sie für ihn empfand. Sie konnte Prisca nicht davon erzählen, und noch weniger davon, dass ihre Gefühle nicht einseitig waren, sondern erwidert wurden. Es ging ihr nicht darum, dass es irgendjemand wusste – aber sie mochte es auch nicht, ihre Gefühle verbergen zu müssen, als wäre es etwas, was falsch war oder peinlich. Sie schämte sich nicht dafür, dass sie ihn liebte, es kümmerte sie nicht – nicht mehr –, dass er ein Römer war und ihr Herr. Aber sie wusste, dass es nicht anders ging. "Hm. Also, das… kommt an, darauf. Auf… auf den Mann. Die Situation." Auch wenn sie Corvinus inzwischen liebte, sie hatte schon das Bett mit ihm geteilt, als er für sie nicht mehr gewesen war als ein Römer, in dessen Auftrag sie gekauft worden war – und ein Mann, der es irgendwie immer wieder schaffte, sie in gleichem Maße aufzuregen wie zu faszinieren. Siv zog ihre Nase etwas kraus. Vielleicht war es auch besser, nicht allzu sehr darauf einzugehen. Aber Ragin hatte sie ja auch nicht geliebt, und er war der erste gewesen, mit dem sie das Bett geteilt hatte. Genauso wenig wie die Römer, die sie gefangen genommen und in ihre Hauptstadt gebracht hatten. Sivs Miene verdüsterte sich. "Kommt viel an, auf Mann und Situation. Ob du gibst. Oder ob er nimmt." Einen Augenblick starrte Siv ins Leere, verlor sich ihr Blick in Bildern, die nur sie sehen konnte. Dass Prisca diese Worte möglicherweise falsch verstehen, auf Corvinus beziehen könnte, fiel ihr überhaupt nicht auf. Ihre Kiefermuskulatur spannte sich an, als sie die Zähne heftig aufeinander presste, dann riss sie sich los von dem, was ihre Erinnerung heraufbeschwor. Als sie Prisca wieder ansah, bemühte sie sich um ein Lächeln, wollte sie die Aurelia doch nicht beunruhigen. "Wenn du willst, und er ist, hm, gut… Hm. Es macht Spaß. Es kann Spaß machen. Du musst nicht lieben, ihn, um Spaß zu haben. Ragin… mein Mann, er war… ein guter Mann. Er hat… geholfen, mir, hat mir Angst genommen, und Unsicherheit. War… Hat trotzdem gebraucht, bis, also, bis dass ich Spaß gehabt habe, also war nicht… unschön, das nicht, aber wirklich Spaß hat gebraucht, weil…" Langsam ließen Sivs Sprachkenntnisse sie etwas im Stich. Sie grinste etwas schief. "Weil… Man weiß nicht alles, am Anfang. Man lernt. Durch ausprobieren." Jetzt musste sie lachen.

    Siv nahm von Ursus das Geld entgegen und machte sich dann auf den Weg. Trotz ihrer anfangs mäßigen Begeisterung, dass Dina hatte mitkommen wollen, war sie dann doch froh über die Begleitung der anderen Sklavin – ohne Zögern übernahm diese nämlich die Führung und bahnte sich einen Weg durch die Menschen, der breit genug war, dass Siv ohne Probleme folgen konnte. Zwar ernteten sie ein paar Blicke und sogar den ein oder anderen Kommentar, aber der Germanin wäre das ohnehin egal gewesen – und in diesem Fall erst recht, hielt sich das Gefühl der Enge dadurch doch in Grenzen und wurde nicht zu groß. Und als sie den nächsten Getränkestand erreichten, schickte Dina sie zur Seite, wo Siv sich an die Wand lehnen konnte, während sie sich selbst anstellte. Zum ersten Mal war die Germanin tatsächlich dankbar dafür, dass Corvinus die Ägypterin beauftragt hatte, auf sie zu achten. Sie lehnte sich an, schloss die Augen und ließ sich die noch schwache Sonne aufs Gesicht scheinen, während sie den Lärm um sich herum auszublenden versuchte und tief durchatmete. Die Übelkeit ließ ein weiteres bisschen nach, auch wenn sie nicht vollends verschwand, und als Dina plötzlich vor ihr stand und ihr leere Becher in die Hand drückte, brachte Siv sogar ein schwaches Lächeln zustande. Dina verschwand ein weiteres Mal zum Stand, von dem sie noch zwei volle Krüge mitbrachte, einen gefüllt mit Wasser, den anderen mit Fruchtsaft, dann machten sie sich auf den Rückweg zu den anderen.


    Der Speerwurf war inzwischen zu Ende gegangen, und die Sieger wurden verkündet, was an Siv völlig vorbei gegangen wäre, da sie sich immer noch bemühte, den Lärm zurück zu drängen. Sie fühlte sich etwas überfordert durch den Tumult um sie herum, hatte das Gefühl, dass es zu viel zu hören, zu sehen, zu riechen gab, als dass sie alles hätte verarbeiten können. Oder dass irgendein Teil von ihr, der normalerweise von selbst dafür sorgte, dass Unwichtiges gefiltert und ausgeblendet wurde, heute nicht so ganz funktionierte, so dass sie diese Arbeit selbst machen musste. Allerdings, wie könnte es auch anders sein, hatte Rollo etwas zu sagen zu dem Ergebnis, und Dina diskutierte fleißig mit. "Ja, finde ich auch schade. Louan hätte einen besseren Platz verdient." Kurzes Schweigen. "Nein. Nein, echt? Wirklich? Also nein, das glaub ich nicht, die haben doch nicht… … Aber… … Neeee, das kannst du doch nicht einfach so behaupten, das… …" Siv unterdrückte ein Grinsen und suchte den Platz nach Louan ab, der sich bereits fertig für die letzte Disziplin machte, während sie bei den anderen ankamen. "Also, wer will was? Dominus Ursus, Dominus Orestes?" fragte Dina fröhlich, und Siv hielt die Becher bereit, damit die andere einschenken konnte, so bald jeder seinen Wunsch geäußert hatte.

    Zitat

    Original von Phraates


    Siv beobachtete, wie nach und nach die übrigen Gäste das Schiff betraten und sich verteilten, wie die Vorbereitungen getroffen wurden für den letzten Ritus, was die Germanin – die sich mit den römischen Hochzeitsriten kaum auskannte – hauptsächlich daran erkannte, dass die Seeleute unauffällig damit begannen, das Schiff fertig zum Ablegen zu machen, damit sie in See stechen konnten, sobald auch der letzte Ritus durchgeführt worden war. Am liebsten hätte Siv ihnen ihre Hilfe angeboten, aber sie wusste selbst, dass das aus verschiedenen Gründen nicht in Frage kam. Wenigstens musste sie nicht umher gehen und bedienen. So sehr sie sich Ablenkung wünschte, Römer zu bedienen war nichts, was ihr nun würde helfen können, schon allein, weil das ein Maß an Selbstbeherrschung erfordern würde, von dem sie sich nicht sicher war, dass sie es heute würde erbringen können. Dann schon lieber sich im Hintergrund halten dürfen, wo es niemanden störte, wenn sie nicht höflich lächelte und kaum einen Ton sagte, und wo es niemandem auffallen konnte, wenn sie gelegentlich Mühe hatte, ihre Maske zu bewahren.


    Immer mehr der Gäste gingen an Bord, während Orestes sich nun zu dem Brautpaar durchschlängelte. Siv entdeckte auch Caelyn, nun alleine, und Nuala, und sie überlegte, ob sie zu einer der beiden hinüber gehen sollte, als plötzlich der Sklave vor ihr stand, den sie zuvor mit Caelyn gesehen hatte. Unwillkürlich hoben sich ihre Mundwinkel etwas in einem grüßenden Lächeln, aber bevor sie das Salve erwidern konnte, sprach er schon weiter, und Sivs Augenbrauen zuckten nach oben, als sie hörte, dass er ihren Namen kannte – und wie er ihn aussprach. Wieder fuhr er fort zu reden, bevor sie etwas einwerfen konnte, und diesmal rückten ihre Augenbrauen nicht nur noch ein Stück nach oben, sondern auch etwas zusammen. Sie wusste nicht so recht, was sie von seiner Frage halten sollte, zumal seine Worte darauf schließen ließen, dass es etwas mit Corvinus zu tun hatte – und dass er in Celerinas Auftrag handelte. "Siv", korrigierte sie ihn zunächst, wobei sie das I lang zog und den F-Laut etwas weicher aussprach als er es tat. "Mein Name ist, spricht man Siv. Oh, salve", fügte sie dann entschuldigend an, als ihr auffiel, dass sie noch gar nicht zurückgegrüßt hatte. Mit einer Mischung aus verhaltener Neugier, immer noch etwas Erstaunen und etwas Zurückhaltung, die Züge von Vorsicht trug, sah sie ihn an. "Corvinus ist mein Herr, ja. Was musst du fragen?"

    Siv konnte keine Gedanken lesen. Und so sah sie nur die Fassade. Immer noch fiel es ihr schwer, damit umzugehen, aber im Gegensatz zu ihrer Anfangszeit hier, wo sie, ohne ihre eigene Meinung, ihre Vorurteile zu hinterfragen, stets davon ausgegangen war, dass Römer einfach überheblich und arrogant waren und kein Interesse hegten an allem, was über ihren Tellerrand hinausgehen mochte – und dabei nicht einmal gemerkt hatte, wie beschränkt ihr eigener Horizont durch diese strikte Sichtweise war –, fragte sie sich nun, was wohl hinter dieser Fassade vorgehen mochte, die die Aurelia so gekonnt zeigte.


    Die Fassade fiel nicht. Aber sie schien auf einmal zu bröckeln, schien Risse zu bekommen. Noch während die Germanin darüber grübelte, was wohl in Prisca vorgehen mochte, antwortete diese schon, und das mit einer Heftigkeit in der Stimme, die Siv nicht erwartet hätte – nicht so sehr, dass sie Prisca diese Emotionen nicht zugetraut hätte, sondern weil sie nicht gedacht hätte, dass sie das vor ihr, einer Sklavin, zeigen würde. Sie wandte ihren Blick vom Fenster wieder ab und sah noch rechtzeitig das traurige Lächeln, das über Priscas Züge flog, und es hielt sie davon ab, das zu sagen, was ihr auf der Zunge lag. Dass die Zwistigkeiten, die in Germanien durch derartige Eheschließungen verhindert oder beendet werden sollten, nur allzu häufig einen hohen Blutzoll gefordert hatten oder zu fordern drohten. Aber es war nicht wichtig, schon gar nicht in diesem Moment. Zumal Siv inzwischen wusste, dass Unfrieden zwischen zwei wichtigen Familien auch in Rom ihren Tribut forderten, wenn auch nicht in Blut, so wie es in Germanien häufig der Fall war. So hob sie nur angedeutet eine Schulter hoch und lächelte ebenfalls traurig, bevor sie sich räusperte und weitersprach. Nachdenklich hörte sie dann zu, als die Aurelia nachhakte. "Ja… Goden sind… Priester. Na ja. Aber mehr selten wie hier. Gode sein, ist etwas Besonderes – nur wenige sind, werden Gode. Viel weniger als hier", erklärte sie kurz. Und war gleich darauf etwas perplex, als sie schließlich zum Punkt kam. Verdutzt zog Siv ihre Augenbrauen hoch und sah Prisca fragend an. "Für mich", antwortete sie, erstaunt über die Frage, und in ihrer Stimme klang ein Hauch von Unverständnis mit, weil es für sie gar keinen Zweifel gab. Für wen hätte sie denn frei sein wollen, wenn nicht für sich selbst? Für wen hätte sie frei sein können? Sie wusste nicht, wo es sie hingeführt hätte, hätte sie damals ihren Willen durchsetzen können. Heute war ihr klar, dass ihr Leben so oder so nicht ewig so hätte weiter gehen können, dass es ihr irgendwann zu viel geworden wäre, dass sie etwas gebraucht hätte. Oder nicht? Wäre sie damit zufrieden gewesen, tagein, tagaus durch den Wald zu streifen, mit ihren Brüdern unterwegs zu sein, dem Schmied, den Heilern, ihrem Vater über die Schulter zu schauen und ihnen behilflich zu sein, gelegentlich? Nein, entschied sie stumm. Sie wäre nicht damit zufrieden gewesen. Mit vierzehn, fünfzehn Jahren hatte sie nichts anderes gewollt als genau das. Sie hätte noch etwas Zeit gebraucht. Aber irgendwann hätte sie sich etwas gesucht. Beispielsweise hatte sie nach ihrer Heirat – und der anschließenden Trotzphase – nicht immer häufiger den Heilern beiseite gestanden, weil Ragin oder ihr Vater sie dazu gebracht hatten, sondern weil sie es wollte. Sie war weiterhin im Wald umhergestreift, aber ihre Ausflüge waren seltener geworden, jedenfalls im Vergleich zu dem, was sie in den Jahren davor getan hatte.


    "Ich wollte für mich frei sein", wiederholte sie, diesmal in einem vollständigen Satz. "Für… einfach mich. Zu tun, was ich will. Wann ich will. Ohne dass Regeln da ist." Erneut wurde Siv ein bisschen nachdenklich, als ihr klar wurde, wie sehr sie sich geändert hatte im Vergleich zu dem Mädchen, dass sie vor ihrer Hochzeit gewesen war. "Ich bin fünfzehn gesei… gewesen, damals", fügte sie hinzu, weil sie das Gefühl, sie müsste es erklären. "Ich war… auf… aufs… nicht brav", sagte sie schließlich, als ihr aufsässig nicht einfallen wollte, und grinste gleichzeitig etwas schief, als sie an ihren Vater denken musste, an ihre Brüder, und so manche Kämpfe, die sie mit ihnen ausgetragen hatte. "Kein braves Mädchen. Ich war… viel im Wald. Zu Fuß und auf Pferd. Ich habe gesehen, was andere tun, in Sippe von uns. Eben immer das, was ich wollte. Ich wollte keine Regeln. Keine Pflichten. Du, kennst du das nicht? Dass man will frei sein für frei sein, nicht mehr?" Erneut verstummte Siv. Regeln und Pflichten… damit kam sie heute viel besser klar, vor allem dann, wenn sie deren Sinn einsehen konnte. Und sie bekam etwas dafür, für ihr Leben als Sklavin in diesem Haus. Die ganzen Geschichten, die sie erzählt bekommen hatte und die sie inzwischen einigermaßen selbst lesen konnte, die fremdartigen Pflanzen aus noch fremdartigeren Ländern, und die Menschen… so anders, dass sie niemals auch nur davon hätte träumen können. Und Corvinus. Siv hätte nicht sagen können, wie groß der Anteil war, den Corvinus daran hatte, dass sie inzwischen glücklich war hier, häufig jedenfalls – dass sie ruhig genug geworden war, um überhaupt zufrieden sein zu können. Aber sie wusste, dass er groß war. Dennoch, Corvinus allein, ihre Liebe zu ihm und was er ihr gab, wäre nicht ausreichend gewesen dafür. Die Möglichkeiten, die sich ihr hier boten, hatten auch das ihrige dazu beigetragen. In diesem Moment realisierte Siv bewusst, dass sie ihr Leben hier, selbst wenn es Corvinus nicht gäbe, wenn sie sich nie in ihn verliebt hätte… vermissen würde, würde sie jetzt nach Germanien zurückkehren. Nicht alles, sicherlich nicht. Aber die Freunde, die sie hier gewonnen hatte. Und das Lernen. Die Erfahrungen. Es gab so vieles, was sie entdeckt hatte, und noch so vieles, was es noch zu entdecken gab. Rom schien ein schier unerschöpflicher Quell an Geschichten zu sein, an fremdartigen und seltsamen und im wahrsten Sinn des Wortes merk-würdigen Dingen. "Heute ist das anders", murmelte sie versonnen, eher zu sich als an Prisca gewandt.

    Siv breitete unter Corvinus’ Beinen ein größeres Tuch aus, dick genug, dass die Feuchtigkeit der Wickel nicht bis zum Bett durchdringen würde, und umwickelte dann die feuchten Tücher noch einmal mit je einem trockenen. Ebenso wie Nuala bemerkte sie Ursus’ Eintreten erst, als dieser das Wort aufgriff. Sie bestätigte Nualas Antwort mit einem Nicken, während sie begann, die Decke über Corvinus zu ziehen. Die Beine ließ sie unbedeckt, damit die Wadenwickel wirken konnten, dann rückte sie die eingepackten warmen Steine etwas näher an seinen Körper – allerdings nicht zu nah. Corvinus schien immer noch zu frieren, jedenfalls bebte sein Körper, obwohl er offensichtlich Fieber hatte. So lange er fror, waren die Steine sinnvoll, aber sobald er nicht mehr zitterte, würden sie sie vom Bett nehmen müssen, weil sonst die Gefahr zu groß war, dass die Hitze seinem Kreislauf mehr zusetzte als dass sie ihm gutes tat.


    Mit einem Ärmel fuhr die Germanin sich über die Stirn und verzog etwas schief die Lippen, als sie zu Ursus und Nuala sah, was mit viel gutem Willen als angedeutetes Lächeln durchgehen konnte. "Danke", wisperte sie in Nualas Richtung, dann, etwas lauter und auf Latein: "Wir… müssen aufpassen. Er, wenn er nicht mehr kalt ist, nicht mehr… friert, müssen Steine weg." Die Müdigkeit machte sich langsam bei Siv bemerkbar, was sich unter anderem in den fehlenden Artikeln zeigte, eine Angewohnheit, die sich bei ihr über Monate eingeschliffen hatte und die ihr nun einige Schwierigkeiten bereitete sowie Konzentration beim Sprechen von ihr abverlangte, es abzulegen. Der Tag war lang gewesen, und die letzte halbe Stunde hatte sie zusätzlich angestrengt, nicht weil sie sonderlich viel zu tun gehabt hätte bei Corvinus’ Pflege, sondern wegen der Sorgen, die sie sich inzwischen um ihn machte. "Die… Wadenwickel?" Siv wusste beim besten Willen nicht, was Wadenwickel auf Latein hieß. Hilfesuchend sah sie zuerst zu Nuala, dann gestikulierte sie zu Corvinus’ Füßen. "…das da. Muss weg, bald, und neue hin." Genauer gesagt, sobald sie einigermaßen trocken waren, was bei Corvinus’ derzeitiger Temperatur nicht allzu lange dauern dürfte. In Gedanken kalkulierte sie, wie oft sie neue Wickel würden ansetzen können, bevor es besser war aufzuhören. Bei ihnen galt dasselbe wie bei den Steinen, nur umgekehrt: das Fieber durfte nicht zu schnell sinken, um den Kreislauf nicht zu sehr zu belasten.


    Siv kümmerte sich nicht zum ersten Mal um Fieberkranke, wie wohl nahezu jede Frau, die in einer Welt wie der ihren aufgewachsen war, obwohl das letzte Mal schon etwas her war. Sie wusste, was zu tun war, worauf sie zu achten hatte, damit die Maßnahmen nicht ins Gegenteil umschlugen, und kannte die Risiken, die es gab, wenn man zu lange wartete, ohne dass sie sie sonderlich gestört oder behindert hätten. Jetzt aber taten sie es. Und Siv wusste, dass das nicht daran lag, dass sie sich unsicher war – sie wusste nach wie vor, was zu tun war. Es lag daran, dass es Corvinus war, der krank im Bett lag. Nicht einen Gedanken verschwendete Siv daran, ob es gut war, wenn ausgerechnet sie sich um ihn kümmerte – was mit dem Kind passieren würde, wenn sie sich ansteckte und ebenfalls krank wurde. Und selbst wenn sie daran gedacht hätte, sie hätte Gebete zu den Göttern geschickt, zu ihren und den römischen – seit sie von ihrer Schwangerschaft wusste, richtete sie sich mehr und mehr auch an die Götter von Corvinus’ Volk –, und ihnen Opfer versprochen, damit sie sie und ihr Kind beschützten – und wäre geblieben. An ihre Schwangerschaft dachte sie immer noch nicht, dafür aber an die Götter. Sie sah Ursus an. "Wer… was für, welcher Gott ist zuständig, für Kranke? Welcher römische?"

    Louans Wurf fand Siv nicht schlecht, auch wenn er nicht an manche der anderen heranreichte. Dass Caelyn allerdings auch eher unzufrieden zu sein schien, dass Ursus das bemerkte und sie tröstete, bekam die Germanin allerdings nicht mehr mit. Ein Duft umwehte ihr Gesicht, kroch in ihre Nase und bahnte sich seinen Weg zu ihren Geruchsrezeptoren. Gebratenes… irgendwas. Sie konnte es nicht genau identifizieren, und sie wollte es auch nicht, obwohl es sicherlich irgendetwas Leckeres war. Schlagartig wurde ihr übel, und nur mit Mühe konnte sie ein Würgen unterdrücken, während sie noch ein bisschen bleicher um die Nase wurde als ohnehin schon. Ihre Kehle arbeitete heftig, während sie wieder und wieder den sich rasch unter ihrer Zunge ansammelnden Speichel herunterschluckte, und sie blickte starr geradeaus, während ihr Rücken steif und gerade war und sie tief ein- und ausatmete. Nicht jetzt, flehte sie lautlos. Nicht hier. Und ihr Bitten schien Gehör zu finden, jedenfalls flaute der Hauch wieder ab, der den Geruch an ihre Nase herangetragen hatte. Ihre Übelkeit verschwand nicht, wurde aber doch geringer.


    In diesem Moment sprach Ursus von etwas zu trinken, und Siv fand, dass das eine hervorragende Idee war. Ohne die Antwort Caelyns oder eines der anderen abzuwarten, erhob sie sich. "Ja, das ist gut. Ich hole etwas." Etwas zu trinken war gut. Bewegung war gut. Und es war gut, für ein paar Momente wegzukommen – nur für den Fall, dass sie doch noch die Kontrolle über ihren Magen und dessen spärlichen Inhalt verlor. Dafür ignorierte sie sogar die Tatsache, dass sie sich durch die Menschenmenge hindurch würde drängen müssen, um zu einem der Händler zu kommen, die Getränke verkauften. Während sie sich von Ursus Münzen geben ließ und Orestes auf einmal auftauchte, sprang auch Dina auf. "Ich komme mit", verkündete sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ, und Siv verdrehte die Augen. Dina schnitt ihr eine Grimasse. "Was denn? Ich soll auf dich aufpassen. Und alleine kannst du eh nicht das Zeug für uns alle tragen."

    Siv hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange sie schon so da saß und las – aber es musste eine ganze Weile gewesen, denn sie war in der Geschichte schon recht weit gekommen, für ihre Verhältnisse hieß das. Ihr Lesetempo war noch recht langsam, der Tatsache geschuldet, dass sie die Buchstaben noch mühsam zusammenfügen musste, um das Wort zu begreifen. Dennoch war sie inzwischen schon an der Stelle, an der Andromeda geopfert werden sollte. Empört war Siv gewesen, als sie den Orakelspruch gelesen hatte, und noch empörter, als Andromedas Vater den Forderungen des Volkes nachgab und die Entscheidung fällte, seine Tochter zu opfern. Cassiopeia, die Schuld an dem ganzen Dilemma trug, schien dazu wenig zu sagen zu haben. Und Siv hätte sich am liebsten lauthals darüber aufgeregt, wie Eltern so etwas tun konnten, aber die Geschichte war zu spannend. Sie unterbrach sie nur, um nebenbei die Anmerkungen zu entziffern, die Corvinus hinterlassen hatte, und las dann wieder weiter, während sich eine Hand unter ihre Decke stahl und sich in einer schützenden Geste auf ihren Bauch legte.


    Dass jemand in der Tür stand und sie seit geraumer Weile betrachtete, bemerkte Siv nicht, nicht einmal, als dieser jemand sich ihr näherte. Erst, als sie direkt neben sich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, wandte sie überrascht ihren Kopf und erkannte Corvinus, der sich gerade auf ihrer Kline niedergelassen hatte. Noch bevor sie reagieren konnte, beugte er sich in derselben Bewegung schon zu ihr und berührte ihre Lippen mit den seinen, und Siv ließ das Buch sinken und erwiderte den Kuss. Sie seufzte leise, als er sich von ihr löste, enttäuscht darüber, drehte dann aber das Buch so, dass er bequem die Seite überfliegen konnte. "Nein, war sie nicht." Ein Grinsen zupfte an ihren Mundwinkeln, während auf ihren Lippen die Frage brannte, ob Andromeda überleben würde, ob ihr Vater noch rechtzeitig zur Besinnung kam und das Opfer absagte, ob sie auf andere Art gerettet werden würde, oder ob das Ungeheuer sie tatsächlich umbringen würde. Aber sie sprach nichts davon laut aus, wollte sie sich doch selbst nicht die Spannung verderben. Stattdessen beugte nun sie sich ein Stück vor und küsste ihn erneut, kurz und sacht, bevor sie sich wieder zurücklehnte. "Danke. Ich mag das Buch, die Geschichten." Ihre Finger strichen über die abgenutzten Seiten. "Ich mag, dass es deins ist. War. Früher, als Kind, und bis heute. Das ist… toll." Sie lächelte ihn an, nur um gleich darauf überrascht die Augenbrauen hochzuziehen. "Was? Wie… mein eigentliches?" Sie hatte das Pars I gelesen, unter ihrem Namen, das auf dem Umschlag gestanden hatte, in den das Buch gewickelt gewesen war, aber sie hatte sich darauf nicht wirklich einen Reim machen können. "Du hast noch was?"

    Der Abend war schon weiter fortgeschritten. Die Cena war länger vorbei, und auch die anschließende kleine Feier befand sich im Ausklingen – einige der Gäste hatten sich bereits verabschiedet, andere waren wohl gerade im Begriff, es zu tun, während einige wenige, hauptsächlich die Bewohner, noch im Triclinium beisammen saßen. Siv bekam davon nichts mehr mit. Als sich die erste größere Aufbruchstimmung breit gemacht hatte, hatte sie die Gelegenheit genutzt und sich ebenfalls zurückgezogen. Allerdings war sie nicht in ihr Zimmer gegangen. Sie war noch nicht müde, und davon abgesehen wollte sie warten, bis Corvinus sich ebenfalls von der kleinen Feier lösen würde – was frühestens dann passieren würde, wenn die Flavia ging, das war Siv klar. Zum ersten Mal jedoch führten sie ihre Schritte nicht in den Garten oder den Stall, wohin sie sich für gewöhnlich zurückzog – nicht wegen der Kälte, obwohl das in ihrem momentanen Zustand auch eine Rolle spielte, sondern weil dort zu wenig Licht vorhanden war. Stattdessen ging sie zur Exedra, die im hinteren Bereich wenigstens teilweise offen war zum Garten hin, entzündete eine Öllampe, hüllte sich in eine warme Decke und machte es sich auf einer der Klinen bequem, die in einer geschützten Nische stand. Dann griff sie nach dem Buch, das sie von Corvinus bekommen hatte, schlug es auf, blätterte erneut darin herum, betrachtete für Momente einfach nur die Zeichen, die ihr vor wenigen Monaten noch fremd gewesen waren. Selbst jetzt noch waren sie es für sie, bildeten noch keine begreifbaren Zusammenhänge für ihre ungeübten Augen. Sie musste sich anstrengen, sich konzentrieren, damit aus den Symbolen Buchstaben wurden, Worte, schließlich Sätze, damit sie ihr die Geschichte erzählen konnten, die irgendjemand dort niedergeschrieben hatte. Ungeduldig war sie meistens, sie konnte es nicht erwarten, bis endlich der Tag kommen würde, an dem die Zeichen sich von selbst zusammenfügten zu Worten, ohne dass sie sich bewusst darauf konzentrieren musste, an dem sie einfach ein Papyrus zur Hand nehmen und es lesen konnte, ohne nachdenken zu müssen. Cassim hatte ihr versichert, dass es so sei, wenn man wirklich gut lesen konnte. Dass man nicht mehr würde nachdenken müssen, ähnlich wie man nicht nachdenken musste, wenn man lief oder sprach. Sie hatte argumentiert, dass das etwas anderes sei, dass Gehen oder Sprechen etwas war, was Menschen einfach konnten, und Cassim hatte dagegen gehalten, dass dem nicht so war – dass es Dinge seien, die kleine Kinder erst mühsam lernen mussten. Das hatte Siv schließlich überzeugt.


    Versonnen strichen ihre Finger über die Seiten und blätterten vorsichtig die einzelnen Seiten um, und schließlich begann sie zu lesen, zunächst flüchtig, hier an einer Stelle, dann blätterte sie wieder weiter, um woanders erneut zu lesen, bis sie schließlich an einer Geschichte hängen blieb, die gleich die Bedeutung mehrerer Sternbilder erklärte: die Geschichte der Andromeda und ihrer Eltern, Cepheus und Cassiopeia, deren Eitelkeit den Zorn der Meergottheiten auf sich zog, und schon bald war sie vertieft darin.


    Sim-Off:

    Reserviert

    Siv sah kurz von den Seiten hoch, als Prisca und Ursus als nächstes Geschenke erhielten von Corvinus, und ein Lächeln zuckte über ihre Lippen, als sie die Freude auf den Gesichtern sah. Ihr Blick blieb etwas länger an der Aurelia hängen, und für einen Augenblick fragte sie sich, warum sie wohl bisher so zurückhaltend gewesen war, warum sie eher beobachtete, als sich an einer der Unterhaltungen zu beteiligen. Sie biss sich kurz auf die Unterlippe und grübelte kurz, ob sie sich zu ihr setzen sollte. Es waren Saturnalien, oder nicht? Wann, wenn nicht heute, war die Gelegenheit für so etwas? Und war es nicht lächerlich, die Saturnalien überhaupt zu feiern, wenn dann doch die Römer und die Sklaven jeweils unter sich blieben? Siv konnte sich nicht recht durchringen, und in diesem Moment sprang Prisca schon auf, umarmte Corvinus und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, was der Germanin ein lautloses Seufzen entlockte. Sie hätte sich auch gerne auf diese Weise für das Geschenk bedankt, aber das würde bis später warten müssen, ebenso wie das, was sie für Corvinus hatte. Zum einen stand sie nicht gern allzu sehr im Mittelpunkt, und Geschenke in einer so großen Runde zu verteilen, hieß nun mal, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zum anderen würde auch ihr Geschenk für Corvinus die Aufmerksamkeit der anderen auf sich ziehen, und das wollte Siv vermeiden – ebenso wie Corvinus, das wusste sie. Nein, sie würde warten, bis sie Geschenke verteilte. Sie hatte ohnehin nicht für jeden etwas, und von großem materiellen Wert waren die Sachen auch nicht – das Opfer für Iuno hatte sie sämtliche Ersparnisse gekostet, und sie schuldete Brix immer noch den Rest, den er ihr ausgeliehen hatte. Einmal verziehen, dass sie ihn an jenem Tag so in der Luft hatte hängen lassen, hatte der hochgewachsene Germane darauf bestehen wollen, dass er ihre Schulden beglich, aber das war Siv überhaupt nicht in Frage gekommen, und er kannte sie gut genug um zu wissen, wann sie nicht nachgeben würde. Dafür hatte er dann jedoch hatte vorgeschlagen, dass sie mit Corvinus reden solle, der sicher nichts dagegen habe, einen Teil der Kosten zu tragen für das Kaninchen – zumal für ihn dieser Betrag ein Witz sein würde, hatte er argumentiert. Aber Siv hatte auch das abgelehnt. Sie hatte Corvinus von dem Opfer erzählt, aber nichts davon, wie sie an das Opfertier gekommen war. Das war ihre Sache. Es reichte schon, dass sie die übrigen Opfergaben für Iuno, die Blumen, die Früchte, die Zutaten für die selbstgebackenen Kekse, einfach so genommen hatte, ebenso wie das Kaninchen und Ursus’ Met für das Opfer für ihre Götter. Brix hatte nichts davon hören wollen, als sie angeboten hatte, dafür ebenfalls aufzukommen, und genauso wie sie war er in diesem Fall stur gewesen. Nachgegeben hatte sie trotzdem nur, weil sie befürchtete, dass der Maiordomus dann Corvinus von dem Opfer erzählen würde. Es war ihr egal, dass sie nun keine Münzen mehr hatte – sie hatte ohnehin nur vergleichsweise viel Geld gehabt, weil sie keinen Wert darauf legte, weil sie nicht wirklich wusste, was sie damit hätte anfangen sollen. Sie bekam in der Villa alles, was sie zum Leben brauchte, so einfach war das.


    Corvinus wandte sich ihr erneut zu, als sie nach den leeren Seiten fragte, und erneut breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Er hatte Seiten einfügen lassen, damit sie selbst Geschichten dazu schreiben konnte? Sie dachte an die Sagen, die er ihr erzählt hatte, aber dafür würde sie diese hier erst einmal lesen müssen, um zu wissen, welche enthalten waren und welche nicht. Für einen Moment bedauerte sie, dass es in Germanien keine Legenden über die Sternbilder gab, aber sie konnte immerhin hineinschreiben, was sie glaubten – dass die Götter Funken in den Himmel gestreut hatten, die zu Sternen geworden waren. Noch bevor sie antworten konnte, fügte Corvinus noch etwas hinzu, und diesmal begann sie zu strahlen. Seine Amme hatte ihm aus dem Buch vorgelesen. Sie konnte ihrem Kind daraus vorlesen. Halb Germane, halb Römer war es, und so wie Siv den Göttern beider Kulturen geopfert hatte, weil es ihr wichtig war, keinen Teil dessen zu unterschlagen, was ihr Kind ausmachte, hatte sie auch vor, es zu erziehen. Es sollte Bescheid wissen, woher es kam, was sein Erbe war, was seine Eltern, beide, ihm mitgegeben hatten. Corvinus’ Geschenk ermöglichte es ihr, ihrem Kind nicht nur germanische Legenden zu erzählen – die sie in- und auswendig kannte –, sondern auch die römischen, die sie nicht kannte, vorzulesen. Sie würde das selbst machen können, würde nicht angewiesen auf Hilfe sein von irgendjemandem, der die römischen Geschichten kannte so wie sie die germanischen. Obwohl sie es sich schön vorstellte, bei Corvinus zu sitzen, das Kind in ihren Armen so wie sie in seinen, und ihm zuzuhören, wie er mit leiser Stimme erzählte. Siv unterdrückte ein Seufzen und verscheuchte diesen Gedanken, während ihr Blick Celerina streifte. Sie wusste genau, wenn es Momente wie diesen gerade in ihrer Phantasie geben würde, dann würden sie rar gesät sein. Aber wenn es sie gab, dann waren sie die Schwierigkeiten wert. Siv lächelte wieder. "Danke", wiederholte sie. Viel mehr konnte sie nicht sagen, ohne zu viel von dem zu verraten, was ihr durch den Kopf gegangen war. Sie hoffte, er verstand auch so. "Das Geschenk ist… wunderbar. Wirklich."


    Und dann ging es auch gleich schon wieder weiter, was vermutlich auch gut so war, denn so lief Siv überhaupt nicht erst Gefahr, ihn länger anzusehen als normal war. Ursus kam auf Corvinus zu und bedankte sich ebenfalls mit einer Umarmung, und Siv blätterte erneut in den Seiten herum, während nun auch Avianus und Laevina beschenkt wurden. Sie studierte unterdessen manche der Anmerkungen, die handschriftlich hinzugefügt worden waren und in denen sie Corvinus’ Schrift wieder erkannte, jedenfalls in den meisten, auch wenn offensichtlich war, dass sie verschiedene Stadien durchlaufen haben musste im Lauf der Jahre. Als sie zum ersten Mal auf die Kinderschrift stieß, musste sie erneut lächeln, und ganz sacht strichen ihre Fingerkuppen kurz über die Buchstaben, die Corvinus irgendwann vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren hingeschrieben haben mochte – überall hatte sie nur seine Schrift entdeckt, sie war sich sicher, dass auch dies seine war, zumal er ja selbst gesagt hatte, dass es nicht nur sein Buch gewesen war, sondern dass er es schon seit Kindertagen besessen hatte.

    Und schon betraten die nächsten Mitreisenden den Hof – zuerst tauchte Nuala auf und setzte sich zu ihnen, und Siv schnitt ihr eine Grimasse auf ihre Frage hin. "Mittelprächtig", antwortete sie wahrheitsgemäß. Da Nuala auf Germanisch gefragt hatte, antwortete sie auch in ihrer Muttersprache, was hieß, dass es ungefährlich war, die Wahrheit zu sagen. Nach ihrem missglückten und eigentlich auch weder geplanten noch wirklich gewollten Fluchtversuch in Germanien hatte Corvinus aufgehört, ihre Sprache zu lernen – und als er ihr, nach langen Monaten, endlich verziehen hatte, hatte keiner von ihnen beiden den Versuch gestartet, wieder damit anzufangen. Siv ging davon aus, dass er noch ein paar Worte konnte, aber keinesfalls noch genug verstand, um sich den Sinn zusammen zu reimen, also hielt sie es für sicher die Wahrheit zu sagen. Und solange er nichts verstand, konnte er auch nicht seine Zusage zurücknehmen. "Mir ist übel. Ziemlich, sogar. Aber das wird schon."


    Inzwischen war Orestes aufgetaucht, und auch Dina flitzte aus dem Haus auf den Wagen zu – und zog ein langes Gesicht, als sie sah, dass Nuala ihren Platz neben Siv eingenommen hatte. Einen etwas unsicheren Blick traf Corvinus, dann legte sie den Kopf leicht schräg, als lausche sie jemandem, zuckte die Achseln und zog sich dann auf den Wagen, um sich neben Nuala fallen zu lassen. Siv hatte keine Ahnung, was Rollo ihr gesagt hatte – denn dass es ihr unsichtbarer Freund gewesen war, der wieder sein Garum zu der Sache hatte geben müssen, war klar für die Germanin –, aber sie war froh darum. Siv war sich nicht sicher, ob sie es aushielt, den ganzen Tag mit Dina zu verbringen – sie mochte Dina, wirklich. Aber sie mochte es nicht, von ihr vollgequatscht zu werden. Oder mit Fragen gelöchert. Oder von guten Ratschlägen erschlagen. Siv grübelte, ob das Wort Ratschlag daher kam – weil es tatsächlich manchmal einem Schlag glich. Und zu viel davon einen erschlagen konnte. Louan riss sie aus diesem Moment der Abwesenheit, der ohnehin nur einen Wimpernschlag gedauert hatte, indem er das Signal zum Aufbruch gab und der Karren sich in Bewegung setzte.

    Ob Nuala zurückgegrüßt hatte oder nicht, hörte die Germanin nicht mehr, denn das Opfer nahm seinen Lauf, und sie beiden standen zu nahe an Orestes, als dass sie sich hätten unterhalten können, ohne zu stören. Als der Aurelier das Opfer vollzog, sah Siv noch zu, fand sie es doch durchaus interessant, wie die Römer ihre Opfer zu vollziehen pflegten. Als jedoch die Reihe an Corvinus und Celerina war, ihre Gelübde zu sprechen, wusste die Germanin nicht mehr, wo sie hinsehen sollte. Ihr Blick richtete sich schließlich auf die Flammen, die das Fleisch verzehrten, und ohne zu blinzeln starrte sie hinein, während sie die Worte vernahm. Wo du hingehst, da will auch ich fortan sein. Siv schluckte mühsam, aber sie wandte ihren Blick nicht von dem Feuer ab. Erst als Corvinus die Gäste auf das Schiff bat und dann mit Celerina als erster die Planken hinaufging, löste sie ihre Augen von dem hellflackernden Schein und folgte ihnen. Sie lächelte Caelyn und einem ihr unbekannten Sklaven zu, als sie an ihnen vorbei kam, und betrat das Schiff noch vor der Hauptmenge. Corvinus und Celerina nahmen auf den für sie vorgesehenen Stühlen Platz, bekamen von einer Sklavin einen Teller gereicht, und Siv kam sich fehl am Platz vor. Wenn sie nichts zu tun haben würde, was sollte sie dann den ganzen Tag hier? Sich ansehen, wie alle hier Anwesenden Corvinus’ Hochzeit feierten, die Tatsache, dass er mit einer anderen versprochen hatte, mit ihr zusammen zu sein? Siv presste die Zähne zusammen und kämpfte gegen das seltsam-würgende Gefühl in ihrer Kehle an, das ein aufsteigender Schluchzer verursachte. Ihre Hände ballten sich, nahezu unsichtbar in den Falten ihrer Tunika, zu Fäusten, und ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, während sie sich, nicht allzu weit von dem Brautpaar entfernt, an die Reling lehnte.

    Dina – und damit auch Rollo, ihren unsichtbaren Freund – so dicht auf ihrer Pelle, dass es das Gedränge auf den Tribünen gar nicht gebraucht hätte, dass Siv Atemnot bekam, verfolgte auch die Germanin Louans ersten Wettkampf. Dina nahm ihre Aufgabe ernst. Zu ernst. Die letzten Tage hatte Siv keinen Schritt gehen können, ohne dass ihre Aufpasserin mitkam, und ihr bei der Gelegenheit meistens noch damit in den Ohren lag, dass sie doch besser lieber sitzen bleiben und gar nichts tun solle. Gelegentlich hatten Caelyn und Nuala sie retten können, aber Dina war jedes Mal sehr schnell wieder aufgetaucht, und inzwischen war es so weit, dass sie froh darum war, wenn Rollo offensichtlich einen Streit vom Zaun brach, weil sie dann wenigstens für ein paar Momente ihre Ruhe hatte. Abgesehen davon war der Ausflug… nun ja, schön, Siv hatte die Gegend gefallen auf der Reise hierher, und ihr gefiel auch Mantua, aber Fakt war, dass Corvinus möglicherweise Recht gehabt hatte, dass die Reise für sie keine so gute Idee gewesen war. Sie hätte das niemals laut zugegeben, aber so sehr sie sich auch über die Reise an sich freute, sie hatte nicht oft Gelegenheit, auf die Umgebung zu achten. Das Ruckeln auf dem Weg hatte ihre Übelkeit verstärkt, so sehr, dass sie bald zu argwöhnen begann, auf einem Pferd wäre es ihr besser ergangen – aber natürlich kam nicht in Frage, dass sie das ausprobierte. So hatte sie nur still vor sich hingelitten, ohne etwas zu sagen, weil sie nicht wollte, dass Corvinus das zu Ohren kam. Dass sie eher ruhig war, war nicht unbedingt unüblich, und was über das Normale hinausging, konnte sie darauf schieben, dass sie von Dina genervt war, was ja sogar stimmte.


    Und jetzt saß sie mit den anderen hier und sah Louan beim Wettkampf zu. Allerdings war sie nicht ganz so konzentriert dabei. Es waren zu viele Menschen um sie herum, und sie saßen zu dicht aufeinander. Feine, winzige Perlen kalten Schweißes standen ihr auf der Stirn, und sie war noch bleicher als gewöhnlich, während sie gleichzeitig mit den Caelyn und Ursus Louan zujubelte. Für diesen Augenblick schienen sich sogar Dina und Rollo einig zu sein, jedenfalls war kein Streitgespräch zu verfolgen, von dem Siv immer nur die eine Hälfte hörte. Lautlos schwor sie sich, dass sie es Corvinus heimzahlen würde, dass er ausgerechnet Dina mitgeschickt hatte als Aufpasserin, während sie, inzwischen mehr und mehr von der Aufregung gepackt, beobachtete, wie Louan ein zweites Mal antrat. Siv fand, dass der Wurf gar nicht mal so schlecht gewesen war, auch wenn Louan sich nicht sonderlich zu freuen schien darüber.

    Siv konnte nicht wirklich sagen, ob Prisca erstaunt war über ihre Antwort oder nicht. Die Aurelia war wie die meisten Römer, jedenfalls die, mit denen Siv in der Regel zu tun hatte – also Patrizier oder zumindest Plebejer, die einen höheren Stand in ihrer Gesellschaft hatten. Sie beherrschte sich gut. Und genau das war einer der Gründe, was es Siv bis zu diesem Tag schwer machte, mit Römern umzugehen. Sie mochte es nicht, wenn sie in den Gesichtern ihrer Gegenüber die Reaktion, deren Gefühle nicht ablesen konnte. Sie mochte es nicht, nicht zu wissen, woran sie war. Und Römer schienen diese Art von Selbstbeherrschung, von Verschleierung bis hin zu Täuschung zu einer Perfektion gebracht zu haben, die Siv bis dahin nicht gekannt hatte. So gut sie Corvinus inzwischen kannte, so leicht schien es ihm bis heute zu fallen, etwas vor ihr zu verbergen, wenn er es darauf anlegte, egal ob es nun um ein konkretes Thema ging und schlicht nur darum, wie er sich fühlte oder was er dachte. Ganz im Gegensatz zu ihr.


    Auch das leise Seufzen wusste Siv nicht so recht einzuordnen, aber sie ging nicht weiter darauf ein, und sie fragte auch nicht, worüber Prisca gerade nachdachte, obwohl sie es gern gewusst hätte in diesem Moment. Überrascht war sie dann aber von der Antwort, die die Aurelia ihr gab – sie nahm ihr Angebot tatsächlich an, etwas, womit Siv nicht wirklich gerechnet hatte. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie Priscas Einladung – jedenfalls klangen deren Worte wie eine Einladung und nicht wie ein Befehl – annahm und sich so setzte, dass ein Bein angewinkelt auf der Sitzfläche war und sie sich halb darauf niederließ. Ihre Hände ruhten in ihrem Schoß, und nachdenklich zeichneten ihre Finger Muster in die Falten, die der Stoff ihrer Tunika warf. "Nein. Das heißt… Es ist wie hier, nicht ganz, aber ähnlich. Wenn eine Familie viel… Einfluss hat… … viel sagen kann, in Sippe, in Stamm, dann ist Liebe nicht das, was entscheidet, nicht so wichtig. Bündnisse sind wichtig. Mit anderen, wichtigen Familien. Wenn Familie nicht wichtig ist, dann ist Liebe mehr häufig. Weil mehr möglich, weißt du?" Siv zog die Unterlippe zwischen die Zähne und ließ sie langsam wieder los, bevor sie noch etwas hinzufügte. "Bei mir war aber anders. Ich wollte nicht heiraten. Ich wollte… frei bleiben." Nachdenklich sah sie aus dem Fenster. Ihre Freiheit hatte sie behalten wollen, und hatte sich deshalb geweigert zu heiraten. Und jetzt saß sie hier, als Sklavin in einem römischen Haus – und hatte sich nicht nur damit abgefunden, sondern war tatsächlich zufrieden, im Großen und Ganzen. Glücklich gar, wenn sie mit Brix oder Sofia herumalberte, wenn sie im Garten oder im Stall arbeitete, vor allem aber wenn sie Zeit mit Corvinus verbringen konnte. Welche Ironie. Sie räusperte sich. "Aber… in Germanien, als Frau, du heiratest nicht nicht. Wenn du bist Godin, dann, aber Godin, dafür ausgewählt sind wenig. Und ich wollte auch nicht Godin sein. Also, mein Vater hat Heirat beschlossen, für mich, irgendwann."

    Ob Charis zurückhaltend war, weil das einfach ihre Art war, weil sie immer noch beeindruckt war von der Villa, oder weil sie etwas von dem gemerkt hatte, was Siv umtrieb, konnte die Germanin nicht sagen. Eigentlich war es ihr auch egal, oder besser: sie wollte, dass es ihr egal war. Sie wünschte es sich. Aber eigentlich… war es ihr doch nicht egal. Sie wollte zu gerne wissen, was die neue Sklavin gerade dachte. Was sie erwartete. Siv hatte es nie darauf angelegt, die Gunst ihres Besitzers zu erringen – ganz im Gegenteil. Dass es letztlich so gekommen war, dass es zumindest nach außen hin so aussah, lag an anderen Dingen, und Siv hatte beileibe ihre Probleme damit gehabt sich einzugestehen, dass ihr ausgerechnet bei einem Römer das passiert war, wovon sie ihr bisheriges Leben geglaubt hatte, ihr würde das nie passieren – dass sie sich verliebt hatte. Sie nutzte die Vorteile, die ihre Stellung und die Tatsache, dass Corvinus ihre Gefühle erwiderte, hatten, nicht aus, es sei denn es ging nicht anders, weil er sie dazu anhielt, wie derzeit beispielsweise. Woran sie sich aber Stück für Stück gewöhnte – vorausgesetzt, sie fand andere Dinge, um sich zu beschäftigen. Und vorausgesetzt, Corvinus holte sich nicht eine andere, blonde Sklavin ins Haus, die er für die Götter mochten wissen was gekauft hatte. Sie wusste, dass andere Sklaven häufig darum wetteiferten, wer beim Herrn beliebter war, eben um sich Vorteile zu sichern. Und sie wurde die Frage nicht los, von welchem Schlag Charis war.


    Gerade war Siv – nicht zuletzt wegen Brix’ Intervention – zu dem Schluss gekommen, Charis den Vorzug des Zweifels zu geben und erst mal abzuwarten, als die Sklavin ihre Bemerkung über den Garten als Stichwort auffasste, um kundzutun, dass sie sich ebenfalls mit Pflanzen auskannte. In Siv flammte das Temperament auf, und für einen Moment hatte sie Mühe, sich zu zügeln. Ah ja, Charis hatte sich also auch um Pflanzen gekümmert? Die Germanin presste die Zähne aufeinander. Sie war blond, sie sah gut aus, sie wusste über Pflanzen Bescheid. Hervorragend, also war sie doch ein Ersatz für sie selbst! "Komm weiter", warf sie ihr kurz angebunden hin, bevor sie sich abwandte und den Weg zur Küche einschlug. Sie hätte in diesem Moment einiges dafür gegeben, eine zuckersüße, gehässige Antwort geben zu können, irgendeinen Kommentar, der traf, ohne dass der Angriff offensichtlich war. Aber Siv konnte das nicht. Das war nicht ihre Art, nicht im Geringsten, und so fiel ihr auch nichts ein – und der Moment verging, und sie war froh darum. Sie konnte es nicht, und im Grunde wollte sie es auch gar nicht, auch wenn sie das häufig wehrlos sein los gegen Attacken solcher Art, weil sie sich nicht anders zu helfen wusste als entweder gar nichts zu sagen oder sich die Blöße eines Wutanfalls zu geben, was von mangelnder Selbstbeherrschung zeugte. Sie wusste nach wie vor nicht, ob Charis vorhatte, sie zu ersetzen, aber bis gerade eben hatte sie ja noch nicht einmal gewusst, dass sie Corvinus’ Leibsklavin war – oder dass sie sich um den Garten kümmerte.


    Sivs innerer Kampf dauerte nur kurz. Sie hatten kaum den Gang betreten, der sie zur Küche führen würde, als sie erneut ansetzte: "Hier geht es zu Küche." Einen winziges Zögern, dann: "Im Garten sind viel fremde Pflanzen. Aus andere Länder, exotische. Du kennst die auch?"

    Corvinus rührte sich nicht, als Siv das Zimmer wieder betrat, und als sie näher kam, sah sie, dass er in einen unruhigen, offenbar von Fieberträumen geplagten Schlaf gefallen war. Ihre Stirn runzelte sich besorgt, und sie strich ihm vorsichtig über das Gesicht, bevor sie sich zu einer der Truhen wandte, um ihr eine frische Schlaftunika zu entnehmen. Es kam selten genug vor, dass Corvinus eine Tunika trug zum Schlafen, aber heute hatte er eine angezogen – was Siv durchaus vernünftig fand, bedachte sie, wie krank er war. Die jetzige war aber durchgeschwitzt, und der Zustand, in dem er sich befand, ließ vermuten, dass sie nicht die letzte bleiben würde. Das Fieber wütete so heiß in ihm, dass er zu glühen schien, gleichzeitig aber zitterte er immer wieder vor Kälte. Die Germanin schlug die Decke zurück und setzte dazu an, Corvinus die Tunika auszuziehen, was sich als etwas schwierig gestaltete – er wachte von ihren Bemühungen nicht auf und konnte nicht mithelfen, wenigstens den Oberkörper anheben. Dennoch gelang es ihr, das ihn des Kleidungsstücks zu entledigen. Sie war gerade fertig damit, ihm die neue überzuziehen, und platzierte die ersten Steine um ihn herum, als Nuala hereinkam. Siv strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und verzog ihre Lippen zu etwas, das ein Lächeln darstellen sollte. "Kannst du die Decke neu beziehen, bitte? Das Zeug ist zu feucht. Wer weiß, wie lang er hier schon so gelegen hat…" Die Germanin unterdrückte die unschöne Bezeichnung, die ihr auf der Zunge lag. Was musste Corvinus auch immer denken, er könne alles aushalten und mit sich allein ausmachen? Was war so schlimm daran, jemanden dazu zu holen, wenn es einem so offensichtlich nicht gut ging? Ganz davon abgesehen, dass er ihrer Meinung nach sich viel früher etwas Ruhe hätte gönnen sollen, nämlich als die ersten Anzeichen des Fiebers sich gezeigt hatten.


    Während die andere Sklavin das Bett neu bezog, packte Siv die restlichen Steine um Corvinus’ Körper herum, die sie zuvor sorgfältig mit Tüchern umwickelt hatte, damit sie niemanden verbrennen konnten. Niki kam herein und stellte sowohl den Aufguss als auch einen großen Krug mit kaltem Wasser bereit, und Siv nickte ihr dankbar zu. Anschließend wandte sie sich an Nuala. "In Ordnung. Wadenwickel sind als nächstes dran. Dann packen wir die Decke um ihn herum. Und dann… sollten wir versuchen, ihm etwas von dem Aufguss einzuflößen, wenn es klappt so lange er schläft."

    Einen Augenblick lang gefror Sivs Gesichtsausdruck, dann breitete sich ein Grinsen darüber aus. "Es hat gepasst, zu Caelyn? Sei froh, dass sie hat nicht das gehört." Dass Caelyn diesen Kommentar nicht gehört hatte, war recht offensichtlich – andernfalls wäre sie vermutlich auf ihren Bruder losgegangen. Aber die befand sich, recht vertieft, wie es schien, in einem Gespräch mit dem flavischen Sklaven. Unterdessen betrat Corvinus wieder den Raum, einen Beutel in einer Hand, aus dem er, kaum dass er sich gesetzt hatte, das erste Geschenk zutage förderte und es nach einem kurzen Blick darauf Louan in die Hand drückte. Der schien reichlich überrascht zu sein davon, was ihn aber nicht daran hinderte, es sofort zu öffnen. Siv bekam noch mit, dass es Pinsel waren, aber wie schön gestaltet sie waren, bemerkte sie nicht mehr, denn das nächste Päckchen war für sie. Langsam beugte sie sich vor und nahm es entgegen, verzog die Lippen zu einem Lächeln und lehnte sich wieder zurück. Einen Moment lang drehte sie das Päckchen nur in ihren Händen, strich mit den Finger über den seidenen Umschlag und tat erst mal gar nichts. Wie schon letztes Jahr überlegte sie, es nicht sofort zu öffnen. Es sich aufzuheben, bis sie alleine war. Allerdings war sie diesmal nicht auf einer größeren Feier, wo es kaum auffiel, ob sie das Geschenk sofort öffnete oder nicht. Sie hatte auch nicht mehr die Ausrede, dass sie auf Geschenke von Römern keinen Wert legte. Und sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wollte nicht, dass irgendjemand nachfragte oder auch nur seltsam zu ihr sah. Sie zog die Beine seitlich hoch auf die Kline, auf der sie saß, und setzte sich so hin, dass ihr Oberkörper immer noch aufrecht blieb, bevor ihre Finger erneut über den Umschlag fuhren und nach dem verschlossenen Ende tasteten, die sie schon bald gefunden hatten.


    Unter dem roten Umschlag kam ein Buch zum Vorschein. Alt sah es aus, abgegriffen. Ein Lächeln umspielte Sivs Mundwinkel. Es war deutlich, dass dieses Buch häufig gelesen worden war, dass der Besitzer begeistert davon gewesen war, und sie zweifelte nicht daran, dass Corvinus selbst dieser Besitzer gewesen war. Als sie dann den Titel las, öffneten sich ihre Lippen leicht in freudigem Erstaunen, während das Lächeln breiter wurde. Geschichten, Sagen, Legenden. Über Sterne. Sie sah hoch, suchte Corvinus’ Blick, der bereits weitere Geschenke verteilte, und lächelte ihm zu, als er zu ihr sah. "Danke. Das ist… Es ist toll." Mehr sagte sie nicht, aber ihrer Stimme ebenso wie ihrem Blick war anzumerken, dass sie sich freute. Gleich darauf senkte sie ihren Blick wieder auf das Buch und begann, darin herumzublättern, die Überschriften mancher Geschichten zu lesen, weiterzublättern, bis sie schließlich ans Ende kam, wo noch eine Überraschung auf sie wartete: leere Seiten, die ganz offensichtlich nachträglich hinzugefügt worden waren. Wieder sah sie hoch, diesmal mehr Erstaunen im Blick als Freude, und sah Corvinus fragend an. "Wofür ist das?"