Siv sah kurz von den Seiten hoch, als Prisca und Ursus als nächstes Geschenke erhielten von Corvinus, und ein Lächeln zuckte über ihre Lippen, als sie die Freude auf den Gesichtern sah. Ihr Blick blieb etwas länger an der Aurelia hängen, und für einen Augenblick fragte sie sich, warum sie wohl bisher so zurückhaltend gewesen war, warum sie eher beobachtete, als sich an einer der Unterhaltungen zu beteiligen. Sie biss sich kurz auf die Unterlippe und grübelte kurz, ob sie sich zu ihr setzen sollte. Es waren Saturnalien, oder nicht? Wann, wenn nicht heute, war die Gelegenheit für so etwas? Und war es nicht lächerlich, die Saturnalien überhaupt zu feiern, wenn dann doch die Römer und die Sklaven jeweils unter sich blieben? Siv konnte sich nicht recht durchringen, und in diesem Moment sprang Prisca schon auf, umarmte Corvinus und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, was der Germanin ein lautloses Seufzen entlockte. Sie hätte sich auch gerne auf diese Weise für das Geschenk bedankt, aber das würde bis später warten müssen, ebenso wie das, was sie für Corvinus hatte. Zum einen stand sie nicht gern allzu sehr im Mittelpunkt, und Geschenke in einer so großen Runde zu verteilen, hieß nun mal, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Zum anderen würde auch ihr Geschenk für Corvinus die Aufmerksamkeit der anderen auf sich ziehen, und das wollte Siv vermeiden – ebenso wie Corvinus, das wusste sie. Nein, sie würde warten, bis sie Geschenke verteilte. Sie hatte ohnehin nicht für jeden etwas, und von großem materiellen Wert waren die Sachen auch nicht – das Opfer für Iuno hatte sie sämtliche Ersparnisse gekostet, und sie schuldete Brix immer noch den Rest, den er ihr ausgeliehen hatte. Einmal verziehen, dass sie ihn an jenem Tag so in der Luft hatte hängen lassen, hatte der hochgewachsene Germane darauf bestehen wollen, dass er ihre Schulden beglich, aber das war Siv überhaupt nicht in Frage gekommen, und er kannte sie gut genug um zu wissen, wann sie nicht nachgeben würde. Dafür hatte er dann jedoch hatte vorgeschlagen, dass sie mit Corvinus reden solle, der sicher nichts dagegen habe, einen Teil der Kosten zu tragen für das Kaninchen – zumal für ihn dieser Betrag ein Witz sein würde, hatte er argumentiert. Aber Siv hatte auch das abgelehnt. Sie hatte Corvinus von dem Opfer erzählt, aber nichts davon, wie sie an das Opfertier gekommen war. Das war ihre Sache. Es reichte schon, dass sie die übrigen Opfergaben für Iuno, die Blumen, die Früchte, die Zutaten für die selbstgebackenen Kekse, einfach so genommen hatte, ebenso wie das Kaninchen und Ursus’ Met für das Opfer für ihre Götter. Brix hatte nichts davon hören wollen, als sie angeboten hatte, dafür ebenfalls aufzukommen, und genauso wie sie war er in diesem Fall stur gewesen. Nachgegeben hatte sie trotzdem nur, weil sie befürchtete, dass der Maiordomus dann Corvinus von dem Opfer erzählen würde. Es war ihr egal, dass sie nun keine Münzen mehr hatte – sie hatte ohnehin nur vergleichsweise viel Geld gehabt, weil sie keinen Wert darauf legte, weil sie nicht wirklich wusste, was sie damit hätte anfangen sollen. Sie bekam in der Villa alles, was sie zum Leben brauchte, so einfach war das.
Corvinus wandte sich ihr erneut zu, als sie nach den leeren Seiten fragte, und erneut breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Er hatte Seiten einfügen lassen, damit sie selbst Geschichten dazu schreiben konnte? Sie dachte an die Sagen, die er ihr erzählt hatte, aber dafür würde sie diese hier erst einmal lesen müssen, um zu wissen, welche enthalten waren und welche nicht. Für einen Moment bedauerte sie, dass es in Germanien keine Legenden über die Sternbilder gab, aber sie konnte immerhin hineinschreiben, was sie glaubten – dass die Götter Funken in den Himmel gestreut hatten, die zu Sternen geworden waren. Noch bevor sie antworten konnte, fügte Corvinus noch etwas hinzu, und diesmal begann sie zu strahlen. Seine Amme hatte ihm aus dem Buch vorgelesen. Sie konnte ihrem Kind daraus vorlesen. Halb Germane, halb Römer war es, und so wie Siv den Göttern beider Kulturen geopfert hatte, weil es ihr wichtig war, keinen Teil dessen zu unterschlagen, was ihr Kind ausmachte, hatte sie auch vor, es zu erziehen. Es sollte Bescheid wissen, woher es kam, was sein Erbe war, was seine Eltern, beide, ihm mitgegeben hatten. Corvinus’ Geschenk ermöglichte es ihr, ihrem Kind nicht nur germanische Legenden zu erzählen – die sie in- und auswendig kannte –, sondern auch die römischen, die sie nicht kannte, vorzulesen. Sie würde das selbst machen können, würde nicht angewiesen auf Hilfe sein von irgendjemandem, der die römischen Geschichten kannte so wie sie die germanischen. Obwohl sie es sich schön vorstellte, bei Corvinus zu sitzen, das Kind in ihren Armen so wie sie in seinen, und ihm zuzuhören, wie er mit leiser Stimme erzählte. Siv unterdrückte ein Seufzen und verscheuchte diesen Gedanken, während ihr Blick Celerina streifte. Sie wusste genau, wenn es Momente wie diesen gerade in ihrer Phantasie geben würde, dann würden sie rar gesät sein. Aber wenn es sie gab, dann waren sie die Schwierigkeiten wert. Siv lächelte wieder. "Danke", wiederholte sie. Viel mehr konnte sie nicht sagen, ohne zu viel von dem zu verraten, was ihr durch den Kopf gegangen war. Sie hoffte, er verstand auch so. "Das Geschenk ist… wunderbar. Wirklich."
Und dann ging es auch gleich schon wieder weiter, was vermutlich auch gut so war, denn so lief Siv überhaupt nicht erst Gefahr, ihn länger anzusehen als normal war. Ursus kam auf Corvinus zu und bedankte sich ebenfalls mit einer Umarmung, und Siv blätterte erneut in den Seiten herum, während nun auch Avianus und Laevina beschenkt wurden. Sie studierte unterdessen manche der Anmerkungen, die handschriftlich hinzugefügt worden waren und in denen sie Corvinus’ Schrift wieder erkannte, jedenfalls in den meisten, auch wenn offensichtlich war, dass sie verschiedene Stadien durchlaufen haben musste im Lauf der Jahre. Als sie zum ersten Mal auf die Kinderschrift stieß, musste sie erneut lächeln, und ganz sacht strichen ihre Fingerkuppen kurz über die Buchstaben, die Corvinus irgendwann vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren hingeschrieben haben mochte – überall hatte sie nur seine Schrift entdeckt, sie war sich sicher, dass auch dies seine war, zumal er ja selbst gesagt hatte, dass es nicht nur sein Buch gewesen war, sondern dass er es schon seit Kindertagen besessen hatte.