Seit Stunden hockte sie nun schon hier, im Schatten eines Affenbrotbaumes, die Beine untergeschlagen, die Augen geschlossen und die Hände mit den Handflächen nach oben auf den Oberschenkeln ruhend. Die schwarzen Haare fielen ihr luftig auf die Schultern hinab, wenngleich der sachte Wind auch mit ihnen spielte. Nicht weit entfernt blieben dem wissenden Auge die letzten Trümmer des lange verblichenen Ramesseum nicht verborgen, und gerade die junge Ägypterin, die hier saß und Andacht hielt, war sich dieses Umstandes bewusst. Seit Generationen wurden in ihrer Familie die alten Weisen überliefert, nach denen sie von Ramses dem Großen selbst abstammen sollte. Schon in frühester Kindheit war ihr das Wissen um ihre Herkunft eingepflanzt worden, ob es nun stimmte oder Trug war, vermochte niemand mehr zu sagen, denn sie war die Letzte ihrer geschundenen Familie. Doch Merit-Amun glaubte fest an die Wahrheit, die hinter diesem Glauben stecken mochte.
Seit jeher war sie stolz gewesen, doch hatte sie durchaus einen Spürsinn für Situationen, in denen sie diesen Stolz besser zurücksteckte und Demut bewies. Dieses Gespür hatte ihr damals, vor drei Jahren, auch ermöglicht, sich aus dem - wie sie fand - ihres Blutes unwürdigen Sklavendasein zu befreien und zurück in ihre Heimat zu gelangen. Sie war nicht stolz darauf, Menschen bestohlen zu haben, um ihre Flucht von Griechenland hierher finanzieren zu können, doch es hatte sein müssen und nun war sie hier, zurück in ihrem Geliebten Ägypten, zurück im Reich der Pharaonen, die dereinst wiederkehren würden, wenn nur endlich das ägyptische Volk sich erhob und die Rhomäer zurückdrängte, die sich des Landes bemächtigten und ihre Leute unterdrückt hatten.
Merit-Amun, geliebt von Amun, dem Verborgenen, Trägerin des Namens der Tochter ihres entfernten Urahns, schlug die Augen auf. Sie wusste, dass der Mann, der sie gekauft hatte, nach ihr suchen ließ, wenngleich er mit den verstreichenden Monaten wohl immer weniger Zeit und Geld investieren würde, solange, bis er sich sagte, dass selbst sie, von edlem Geblüt und anmutig wie Bastet selbst, es nicht wert war. Ein zufriedenes Schmunzeln spiegelte sich auf ihren Zügen wieder. Sie, die entfernte Nachfahrin Ramses', war damals durch einen dummen Zufall in die Sklavenschaft geraten. In Ägypten war sie für die Rhomäer nichts Besonderes gewesen, weshalb sie als orientalische Ware nach Griechenland verschifft und dort von einem interessierten Mann gekauft worden war. Zuerst hatte sie die Gespielin mimen müssen, ein willenloses Sklavenmädchen, und damit hatte sie ihn eingelullt, während sie gleichzeitig mit viel Geduld ihre Flucht vorbereitet hatte. Kurz bevor er seine Heimreise antreten wollte, war sie ihm dann entwischt. Sich als Peregrine ausgebend, hatte sie mit dem gestohlenen Geld die Überfahrt nach Hause bezahlt und war schließlich im Hafen von Alexandrien gelandet.
Es tat ihr nur geringfügig leid um den Rhomäer, der einen stattlichen Preis für sie gezahlt hatte, denn er hatte sie zugegebenermaßen doch irgendwie fasziniert, doch sie war eine stolze Ägypterin und nicht geeignet für ein Leben als Sklavin. Insofern war der Verlust dieser beginnenden Freundschaft durchaus zu verschmerzen gewesen, wenngleich sie sich auch ab und an fragte, ob er wahrhaftig noch nach ihr suchte oder sie bereits aufgegeben hatte.
Merit-Amun neigte den Kopf so weit vor, bis ihre Stirn den staubigen Boden berührte. Für einen Moment blieb sie so sitzen, dann erhob sie sich geschmeidig. Gedankenverloren strich sie sich über den linken Unterarm. Das einzige Zeugnis ihrer Odyssee war ein schmaler, auf immer sichtbarer Schriftzug, der an der Innenseite ihres linken Unterarms prangte. Sie zog sich den Ärmel ihres gefältelten Hemdes darüber und wandte sich um, um zu gehen.
Bisher hatte sie sich stets als freie Ägypterin ausgegeben, was gut gegangen war. Aber irgendwann, das befürchtete sie, würde diese unauslöschbare Zeichnung, welche sie als "proprie M. Aurel. Corv.", als ausschließliches Eigentum des Rhomäers auswies, sie verraten. Und was dann geschah, daran mochte sie nicht einmal denken.