Dissonanzen. Jetzt erst begann Seiana zu begreifen, woher der Wind wehte. Es ging um die Auseinandersetzungen, die sie gehabt hatte, erst mit Venusia, dann mit Massa. Und sie begriff immer noch nicht, wo überhaupt das Problem war. Das einzige, was sie gewollt hatte, war dass gefälligst gewartet wurde, bis der Vormund der Kinder die Entscheidung traf – und Vormund war Livianus oder Faustus, aber nicht sie, und auch nicht Massa, der mit den Kindern nicht verwandt war, oder Venusia, die es rein rechtlich gesehen auch nicht war. Seiana war ganz sicher dagegen, dass die Kinder in Germanien aufwuchsen, aber sie maßte sich nicht an, diese Entscheidung zu treffen.
Allein die Forderung allerdings ließ ihre Stimmung abkühlen. Weil sie dagegen war. Weil sie ganz sicher nein sagen würde, wäre es ihre Entscheidung. Weil sie die Forderung unverschämt fand, und ganz sicher nicht dazu angetan, um eine wie auch immer geartete Freundschaft zwischen den Duccii und den Decimi zu zeigen. Wenn der Duccius darauf wirklich bestand... wenn sein Preis war, die Familie der Decimi auseinander zu reißen und ihnen Magnus' Kinder wegzunehmen – denn dass Venusia die Chance nutzen würde nach Germanien zu ziehen mit den beiden, stand für Seiana fest –, dann konnte von einem Freundschaftsbündnis keine Rede sein. Wenn sie sich so erpressen lassen mussten, nur um die Unterstützung eines der Sieger dieses Bürgerkriegs zu bekommen und vielleicht ein bisschen schneller wieder auf der Sonnenseite zu stehen... In Seianas Augen war es das nicht wert. Sie konnte nicht alles für die Familie tun, und dann ihre Nichte und ihren Neffen fortgeben. Es wäre ein Abschied für immer – sie hatten es doch mit Livianus' Kindern erlebt, was passierte, wenn Kinder fern ihrer Familie groß wurden, in irgendeiner Provinz am Rande des Reichs. Sie fanden nie wieder den Weg in den Schoß der Familie zurück.
Das war kein Mittel, an ihre Freundschaft zu erinnern... nur einer um sie dauerhaft zu erinnern, dass sie gedemütigt worden waren, noch mehr als ohnehin schon dadurch, dass sie auf Verliererseite standen. Und zumindest Seiana würde das nicht so schnell vergessen. Sie verschränkte die Arme leicht vor ihrem Oberkörper, und ihre Miene war versteinert. „Das ist eine Entscheidung, die ich nicht treffen kann, Duccius. Ich bin nicht der Vormund der Kinder.“ Das Problem war nur: sie konnte sich denken, wie Faustus wohl entscheiden würde, wie er entschieden hätte, ganz ohne jeden Druck, hätte Venusia auch nur ein einziges Mal mit ihm darüber gesprochen. Das hatte Seiana schon befürchtet, als sie mit der Duccia das erste Mal geredet hatte, aber trotzdem hatte sie auf ihn warten wollen, bis er – damals noch aus Ägypten – zurückgekehrt war. Sie fragte sich nur, warum Venusia nie mit ihm gesprochen hatte, er war immerhin eine ganze Zeitlang in Rom gewesen. Und obwohl Seiana immer noch dagegen gewesen wäre: es wäre etwas anderes gewesen, wenn Faustus diese Entscheidung aus freien Stücken getroffen hätte. Und nicht, weil sie dazu erpresst wurden. „Venusia hat meines Wissens nach keine Gelegenheit genutzt, selbst mit meinem Bruder zu sprechen. Zeit genug hätte sie gehabt. Und ich... kann mir vorstellen, dass er nichts dagegen hätte.“