Beiträge von Decima Seiana

    Dissonanzen. Jetzt erst begann Seiana zu begreifen, woher der Wind wehte. Es ging um die Auseinandersetzungen, die sie gehabt hatte, erst mit Venusia, dann mit Massa. Und sie begriff immer noch nicht, wo überhaupt das Problem war. Das einzige, was sie gewollt hatte, war dass gefälligst gewartet wurde, bis der Vormund der Kinder die Entscheidung traf – und Vormund war Livianus oder Faustus, aber nicht sie, und auch nicht Massa, der mit den Kindern nicht verwandt war, oder Venusia, die es rein rechtlich gesehen auch nicht war. Seiana war ganz sicher dagegen, dass die Kinder in Germanien aufwuchsen, aber sie maßte sich nicht an, diese Entscheidung zu treffen.


    Allein die Forderung allerdings ließ ihre Stimmung abkühlen. Weil sie dagegen war. Weil sie ganz sicher nein sagen würde, wäre es ihre Entscheidung. Weil sie die Forderung unverschämt fand, und ganz sicher nicht dazu angetan, um eine wie auch immer geartete Freundschaft zwischen den Duccii und den Decimi zu zeigen. Wenn der Duccius darauf wirklich bestand... wenn sein Preis war, die Familie der Decimi auseinander zu reißen und ihnen Magnus' Kinder wegzunehmen – denn dass Venusia die Chance nutzen würde nach Germanien zu ziehen mit den beiden, stand für Seiana fest –, dann konnte von einem Freundschaftsbündnis keine Rede sein. Wenn sie sich so erpressen lassen mussten, nur um die Unterstützung eines der Sieger dieses Bürgerkriegs zu bekommen und vielleicht ein bisschen schneller wieder auf der Sonnenseite zu stehen... In Seianas Augen war es das nicht wert. Sie konnte nicht alles für die Familie tun, und dann ihre Nichte und ihren Neffen fortgeben. Es wäre ein Abschied für immer – sie hatten es doch mit Livianus' Kindern erlebt, was passierte, wenn Kinder fern ihrer Familie groß wurden, in irgendeiner Provinz am Rande des Reichs. Sie fanden nie wieder den Weg in den Schoß der Familie zurück.


    Das war kein Mittel, an ihre Freundschaft zu erinnern... nur einer um sie dauerhaft zu erinnern, dass sie gedemütigt worden waren, noch mehr als ohnehin schon dadurch, dass sie auf Verliererseite standen. Und zumindest Seiana würde das nicht so schnell vergessen. Sie verschränkte die Arme leicht vor ihrem Oberkörper, und ihre Miene war versteinert. „Das ist eine Entscheidung, die ich nicht treffen kann, Duccius. Ich bin nicht der Vormund der Kinder.“ Das Problem war nur: sie konnte sich denken, wie Faustus wohl entscheiden würde, wie er entschieden hätte, ganz ohne jeden Druck, hätte Venusia auch nur ein einziges Mal mit ihm darüber gesprochen. Das hatte Seiana schon befürchtet, als sie mit der Duccia das erste Mal geredet hatte, aber trotzdem hatte sie auf ihn warten wollen, bis er – damals noch aus Ägypten – zurückgekehrt war. Sie fragte sich nur, warum Venusia nie mit ihm gesprochen hatte, er war immerhin eine ganze Zeitlang in Rom gewesen. Und obwohl Seiana immer noch dagegen gewesen wäre: es wäre etwas anderes gewesen, wenn Faustus diese Entscheidung aus freien Stücken getroffen hätte. Und nicht, weil sie dazu erpresst wurden. „Venusia hat meines Wissens nach keine Gelegenheit genutzt, selbst mit meinem Bruder zu sprechen. Zeit genug hätte sie gehabt. Und ich... kann mir vorstellen, dass er nichts dagegen hätte.“

    Seiana reagierte auf das Lächeln nicht wirklich – sie fühlte sich nicht einmal wirklich in der Stimmung, es aus purer Höflichkeit zu erwidern, wie sie es sonst getan hätte. Sie war zu ausgelaugt dazu. Also musterte sie ihn einfach nur und wartete ab, während sie weiterhin versuchte ihre Gedanken in geordneten Bahnen zu halten – mehr oder weniger erfolgreich. Dass sie sich dazu zwingen musste, dass sie jetzt einen Grund hatte um Konzentration aufzubringen, half dabei, aber sie merkte freilich auch, dass sie einfach nicht ganz auf der Höhe war.


    Als Duccius dann sagte, was er wollte, starrte Seiana ihn erst mal nur an. Sie hatte mit vielem gerechnet... aber nicht wirklich damit. Obwohl es bei längerem Nachdenken logisch war... und gleichzeitig etwas, wozu sie unmöglich ihr Einverständnis geben konnte. Er wollte Magnus' Kinder? Wollte er sie in Germanien haben, damit sie dort bei seiner Familie aufwachsen? Wollte er sie vielleicht sogar adoptieren, sie zu Duccii machen? Es ging hier um Magnus' Kinder. Er hätte vielleicht gewollt, dass sie die Familie ihrer Mutter kennen lernten, aber ganz sicher nicht, dass sie seine Familie, ihre eigene Familie aufgaben. Seiana schloss kurz die Augen und versuchte ihre Gedanken zu fokussieren. Ein Schritt nach dem anderen. „Was meinst du mit: du willst sie? Egal wer ihre Mutter ist, sie sind Decimi. Sie gehören zu ihrer Familie.“ Seiana hatte ihre Vorstellungen schon lang angepasst, was ihr Familienmotto anging, hatte eine andere Auffassung vor allem von Ehre als Faustus... aber Familie war etwas anderes. Alles was sie in den vergangenen Jahren getan hatte, war für ihre Familie gewesen. Jemanden zu verheiraten, das war überhaupt kein Thema, aber Kinder fortzugeben, sie aus der Familie zu reißen... Seiana spürte schon wieder, wie sie sich zusammenreißen musste.

    Flüchtig ging es Seiana durch den Kopf, dass Faustus einfach viel zu anständig war für einen Posten wie den des Praefectus Praetorio. Er hätte überlaufen sollen... hätte den Rebellen seine Unterstützung anbieten sollen. Die Kräfte waren, so weit sie es mitbekommen hatte, halbwegs ausgeglichen gewesen... wäre Faustus übergelaufen, hätte er genau das Zünglein an der Waage sein können, dass dem Cornelius einen deutlich weniger verlustreichen Sieg gebracht hätte.
    Aber es brachte nicht viel, über ein hättewärewenn nachzudenken, und es war auch eigentlich nicht Seianas Art, überhaupt in solche Gedanken abzudriften. Sie atmete tief ein und musterte den Duccius, versuchte in seinen Zügen zu lesen, aber sie hatte ohnehin nicht wirklich eine Wahl, und davon abgesehen: warum hätte er sie rufen sollen, wenn er nicht meinte was er sagte? Dass er nicht darauf aus war, sie einfach nur zu demütigen, war recht offensichtlich, sonst würde er sich ganz anders verhalten.


    Sie trank noch einen Schluck Wein, genoss ein weiteres Mal die Wärme des Alkohols, neigte sich dann nach vorn und stellte den Becher dann mit einer bedächtigen Geste auf dem Tisch ab. „Das wird... würde ein beträchtliches Stück Arbeit werden. Und nicht ohne Risiko für dich.“, antwortete sie, bevor sie sich wieder zurück lehnte. Sie rieb sich kurz über die Stirn und musterte ihn. „Versteh mich nicht falsch, ich bin überzeugt, dass die Decimi wieder kommen werden. Wieder Einfluss und Macht haben werden, egal wie lang es dauert. ... Aber es wird nicht einfach. Wir können Hilfe gebrauchen, gerade von jemandem wie dir.“ Kam das nur ihr so vor, oder war der letzte Satz irgendwie ein bisschen zusammenhanglos an die vorigen gekleistert? Und dann war da noch das winzige Detail, dass sie selbst in ihrem Zustand nicht um Hilfe betteln wollte... aber trotzdem irgendwie zeigen musste, dass sie seine Hilfe wollte. Dass sie sie annehmen würde, wenn er sich denn dazu entschied. Sie holte erneut tief Luft. „Wenn du dich dazu durchringen würdest... was würdest du dir davon versprechen? Was willst du?“

    Egal wie. Seiana wollte widersprechen, wollte sagen dass es nicht egal war, weil es ganz sicher nicht völlig ohne Risiko für ihn war, weil er... weil er doch eigentlich zu den Feinden derer gehörte, die jetzt hier das Sagen hatten. Er musste doch selbst in Gefangenschaft geraten sein, und es dann geschafft haben, die Seiten zu wechseln, sonst würde er nicht frei herumlaufen, aber trotzdem war es nicht ungefährlich für ihn hier zu sein. Aber sie sagte nichts. Der Gedanke entwischte ihr, bevor sie ihn wirklich festhalten konnte, und irgendwie wollte sie es auch gar nicht, wollte nicht über solche Dinge diskutieren. Sie wollte einfach nur seine Nähe spüren, damit war sie schon zufrieden.


    Als sie dann spürte, wie seine Hand sich sachte über ihren Bauch bewegte, wich sie unwillkürlich ein wenig zurück. Die Schmerzen waren immer noch da, dumpf zwar, aber vorhanden, und alles schien so furchtbar empfindlich zu sein... bei seiner Frage allerdings war Seiana fast ein wenig irritiert. Schwangerschaft? Sie war nicht schwanger. Nicht schon wieder. Konnte sie auch gar nicht sein, niemand hatte sie angerührt, schon seit ihrer Scheidung nicht mehr. Dann erst ging ihr auf, was er gemeint hatte – obwohl es sie immer noch ein wenig irritierte... wäre sie noch schwanger, hätte er das gar nicht übersehen können, so viel Zeit wie inzwischen vergangen war. Seiana lehnte sich leicht zurück und legte ihre Hand auf seine, verschlang ihre Finger mit seinen. „Es... die... Geburt war vor... zwei Wochen. Ungefähr. Es ist in Ordnung“, murmelte sie und fügte dann noch an: „War es, bis ich verhaftet wurde.“

    Seiana sparte sich die Frage danach, zu wem sie gebracht wurde – sie bezweifelte, dass sie eine Antwort bekommen würde, mit der sie etwas anfangen konnte. Stattdessen versuchte sie lieber, einen klaren Kopf zu bekommen. Auch wenn sie in den letzten Tagen zunehmend weniger Grund gefunden hatte sich die Mühe zu geben, war zumindest einem Teil von ihr jetzt schlagartig wieder bewusst, warum sie das ganz sicher sollte: weil es ihre Pflicht war. Und weil es nicht vorbei war, auch wenn sie viel zu schnell begonnen hatte das zu glauben, in der Düsternis und Einsamkeit des Carcers, und mit dem Loch in ihr, das seit der Geburt ständig in ihr zu lauern schien.


    Nachdem sie sich erst mal an die Helligkeit gewöhnt hatte, erkannte sie den Weg zum Officium ihres Bruders, wo sie ihn das ein oder andere Mal besucht hatte. Wen sie darin allerdings finden würde, damit hatte sie nicht gerechnet: Duccius Vala. Sie wusste dass er auf Rebellenseite gewesen war, sein Name hatte ja auch auf der Proskriptionsliste gestanden, aber dass er hier sein würde, in der Castra Praetoria... Seiana war sich nicht ganz sicher, ob das jetzt gut oder schlecht für sie war, in jedem Fall führte es allerdings dazu, dass sie noch mehr peinlich berührt war als sie sich sowieso schon fühlte. Sie legte durchaus viel Wert auf ein angemessenes Äußeres, und es war schon schlimm genug, dass sie überhaupt jemand so sah... und dass es auch noch jemand war, den sie kannte, jemand der wusste, wie erbärmlich sie gerade war, weil er wusste wie sie normalerweise war, machte das ganze nicht besser. Gerade deshalb bemühte sie sich allerdings nach Kräften, das zu ignorieren. So zu tun, als wäre nichts, als sähe sie nicht so aus wie direkt aus dem Carcer gekommen. Haltung zu bewahren. Das war ohnehin das einzige, was ihr im Moment blieb. „Duccius“, grüßte sie mit einem leichten Neigen ihres Kopfes zurück, der Klang ihrer Stimme etwas rau, weil sie sie in den letzten Tagen kaum benutzt hatte, bevor sie langsam weiter in den Raum kam und auf dem Stuhl Platz nahm, den er ihr angedeutet hatte. Sie zögerte einen kurzen Moment, als ein Sklave ihr verdünnten Wein anbot, beschloss dann aber dass das hier weder Zeit noch Ort für falschen Stolz war, nahm den Becher dann an und trank einen Schluck. Und spürte mit einem leichten Schaudern die angenehme Wärme, die der Wein, auch wenn er verdünnt war, beinahe sofort durch ihren Körper zu senden schien.


    Schweigend hörte sie dem Duccius dann zu, und sie wich seinem Blick aus, schloss für einen längeren Moment die Augen, als er davon sprach wie es um die Decimi stand. Drei von ihnen im Carcer... sie, ihr Bruder. Wer noch? Der Centurio bei ihrer Gefangennahme hatte noch etwas gesagt, sie konnte sich nur nicht mehr genau daran erinnern, was es gewesen war... aber wenn Duccius meinte, die anderen wären zu unwichtig, konnte es sich eigentlich nur um Varenus handeln. Seiana öffnete die Augen wieder und sah hoch, hielt seinem Blick diesmal stand, während er weiter sprach. Sie zuckte nur einmal unwillkürlich zusammen, als er von ihrem Bruder sprach, blieb aber ansonsten so ruhig, als wäre sie eine Statue – und auch, als er geendet hatte, regte sie sich einen Moment lang nicht. Er hatte also mit ihrem Bruder gesprochen, wenn sie das richtig verstanden hatte... und was auch immer er vorgeschlagen hatte: Faustus schien nicht interessiert gewesen zu sein. Kein Wunder, so wie sie ihren Bruder kannte.
    Jetzt rührte sie sich, hob die Hände und strich ihre Haare erneut zurück, zog sie streng nach hinten und rollte sie in ihrem Nacken zusammen. Diesmal diente die Geste mehr dazu, sich zu konzentrieren, als tatsächlich dafür zu sorgen, dass sie einen etwas präsentableren Eindruck machte. Duccius Vala schien gewillt zu sein, ihr eine Chance zu geben, schien darauf aus zu sein, den Decimi zu helfen... und wenn das so war, brauchte sie einen klaren Kopf für dieses Gespräch. Dringend. Seiana setzte dazu an, etwas zu sagen, räusperte sich als ihre Stimme zunächst versagte und setzte dann erneut an: „Ich glaube es braucht nicht viel, um in dieser Sache... verständiger als mein Bruder zu sein.“ Natürlich war Faustus dagegen, sich von jemandem auf Rebellenseite helfen zu lassen, das bedeutete Verrat in seinen Augen... aber Seiana war längst nicht mehr so stur und strikt, was ihre Ehrvorstellungen betraf. Und wenn der Duccius tatsächlich meinte, was er da andeutete... nun, sie hatte kein Problem damit, ihren Bruder und den Rest der Familie zu ihrem Glück zu zwingen, wenn es sein musste. „Wenn du kein Interesse daran hast, die Decimi am Boden zu sehen, wollen wir beide das gleiche. Ich frage mich nur, wie... groß dein Interesse daran ist. Was du beitragen würdest, um das zu ändern.“ Und was er als Gegenleistung dafür haben wollte. Unterstützung, das sicher, aber so wie sie ihn bisher kennen gelernt hatte, vermutete sie dass er sich von dieser Unterstützung durchaus schon konkrete Vorstellungen gemacht hatte, und sie war sich recht sicher, dass es einiges sein würde. Aber welche Wahl hatten sie schon? Sie brauchten Hilfe... jede Hilfe, die sie kriegen konnten. Sonst würde es Ewigkeiten dauern, bis die Decimi auch nur halbwegs wieder so angesehen waren wie zuvor.

    Eintönigkeit. Nachdem die Schmerzen in Füßen und Unterleib abgeklungen waren, die sie in den ersten Tagen hier noch geplagt hatten, war Eintönigkeit eines der vorherrschenden Merkmale ihrer Gefangenschaft. Kaum jemand schien sich für sie zu interessieren, so als ob sie schlicht vergessen worden wäre. Mit dem Sklaven war immer eine Unterhaltung möglich, wenn er kam um essen zu bringen, und obwohl er ziemlich auf die Nerven ging, war Seiana doch schon nach kurzer Zeit dankbar für jede Form der Ablenkung – auch deshalb hielt sie sich den Sklaven gewogen, zwang sich zu Freundlichkeit selbst dann, wenn sie selbst in Düsternis zu versinken drohte. Die übrige Zeit blieb einfach... leer, so leer wie es in ihr so häufig aussah zur Zeit, und je länger sie einsam in dieser kaum erhellten Zelle saß, desto schwerer fiel es ihr, dagegen anzukämpfen, und das vielleicht Schlimmste war: sie begann sich schon bald zu fragen, warum sie sich überhaupt die Mühe machen sollte. Dennoch versuchte sie es... sie bewegte sich in ihrer Zelle, machte sich mit ihr vertraut, sie rezitierte Dramen, die sie vor langer Zeit hatte auswendig lernen müssen, und sie nutzte im Rahmen der Möglichkeiten alles, was möglich war, um sauber zu bleiben – auch wenn das freilich weit entfernt war von dem, was sie hinsichtlich Körperpflege gewohnt war.


    Nach ein paar Tagen im Carcer hatte sich ihr Zeitgefühl daran gewöhnt, dass es kein hell und dunkel mehr gab, woran es sich orientieren konnte... sondern nur der Rhythmus der sich öffnenden Tür, und auf den war in der Regel Verlass. Als also wieder die Tür zu einer anderen Zeit aufging, fiel es Seiana diesmal durchaus auf... und tatsächlich steckte diesmal ein Soldat den Kopf in ihre Zelle. Wortlos stand Seiana auf und leistete der Aufforderung Folge, barfuß, wie sie immer noch war, aber auch beim Gehen inzwischen schmerzfrei, auch wenn der Schorf an manchen Stellen noch empfindlich war. Beinahe ohne darüber nachzudenken, strich sie ihre Haare zurück und drehte sie im Nacken zusammen, fuhr sich über die einfache Tunika, die immer noch dieselbe war wie am Tag, als sie hergebracht worden war – und wünschte sich, sie könnte erst mal ein Balneum aufsuchen, bevor sie irgendwem unter die Augen trat, ganz egal wem.

    Seiana nahm gar nicht so wirklich wahr, was er sagte, und ein Teil von ihr glaubte auch immer noch nicht so recht, dass er da war – auch wenn sie eher bezweifelte, dass sie träumte oder sich das gar einbildete. So etwas war nicht ihre Art, und das einzige, was doch dafür sprach, war die Tatsache, dass Seneca doch eigentlich auf Seiten der Verlierer gestanden hatte... sicher konnte er überlebt haben, aber wie kam er dann hier in den Carcer?
    Aber im Grunde war das auch egal. Er war da. Seiana schloss die Augen und ließ sich ein wenig nach vorne sinken, bis ihre Stirn an seiner lag, und noch ein wenig mehr, bis sich auch ihre Lippen sacht berührten. Seneca war am Leben. Serapio auch, jedenfalls wenn der Centurio, von dem sie verhaftet worden war, die Wahrheit gesagt hatte. Wie sie war ihr Bruder im Carcer, und sie hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde... aber dass die beiden Männer überhaupt am Leben waren, war etwas, worauf sie bis vor kurzem nicht zu hoffen gewagt hatte. „Was... machst du hier? Ich meine, wie hast du das geschafft, dass sie dich sogar in den Carcer lassen?“ murmelte sie, ihr Gesicht immer noch an seinem.

    Liegend sah Seiana, wie Seneca ihre Zelle betrat, und nur langsam richtete sie sich auf, wartete... erwartete, dass er jeden Moment verschwand, wie ein Trugbild. Sie glaubte immer noch nicht, dass er wirklich da war. Sie war sogar fast schon überzeugt gewesen, dass er wohl tot sein musste, einfach weil sie es nicht ertragen hätte zu hoffen, und diese Hoffnung dann doch irgendwann zerstört zu sehen.
    Aber er kam näher, immer näher, und schließlich war er da... berührte sie. Zuerst bewegte sie sich gar nicht, dann legte sie eine Hand sachte über die seine, die ihre Wange berührte. Drückte sie ein wenig fester an sich und sog den Geruch ein, der von seiner Haut aufstieg. „Seneca“, murmelte sie. Die Berührung wirkte so real... und nach und nach begann sie langsam, vorsichtig, daran zu glauben, dass er tatsächlich hier war. Dass er lebte. Dass er überlebt hatte. „Du lebst...“

    Seiana wusste nicht, wie lange sie schon in dieser Zelle saß. Ein Tag? Zwei? Vier? Viele konnten es noch nicht gewesen sein, aber sie hatte schon innerhalb der ersten paar Stunden das Zeitgefühl verloren hier drin, so schnell, dass sie selbst ein bisschen erschrocken darüber war. Der einzige Anhaltspunkt, der es überhaupt möglich machte die Zeit ein wenig einzuschätzen, war die Regelmäßigkeit, mit der der Sklave kam und Essen vorbeibrachte, oder das Talglicht austauschte. Immerhin war sie auch sonst bisher in Ruhe gelassen worden... was sie als eine von vermutlich wenigen Frauen in einem Carcer nicht unbedingt als selbstverständlich hinnahm, und wofür sie entsprechend dankbar war.
    Was ihr allerdings zu schaffen machte, war die Untätigkeit. Sie sehnte sich sogar auf das Landgut in den Albaner Bergen zurück, obwohl sie damals schon geglaubt hatte den Gipfel an Untätigkeit erreicht zu haben – aber selbst da hatte es immer irgendetwas zu tun gegeben. Sie hatte sich nicht unbedingt damit beschäftigt, weil es Dinge gewesen waren die nicht ihr Interesse weckten, aber sie waren da gewesen. Jetzt hätte sie die Götter wussten was gegeben, um auch nur eines davon hier zu haben. Eine Stickerei, beispielsweise. Seiana hasste es zu sticken, aber hier... in diesem... Loch... mit nichts zu tun außer da zu sitzen, Wände anzustarren, den Schmerzen in ihrem Körper nachzuspüren und in Grübeleien zu versinken... Das Loch, in das sie nach der Geburt gefallen war, tat sich in schöner Regelmäßigkeit vor ihr auf und verschlang sie, und jedes Mal fiel es ihr schwerer, dagegen anzukämpfen, jedes Mal fiel es schwerer, wieder herauszukommen – und Seiana begann sich zu fragen, warum sie sich überhaupt die Mühe machte, wo es hier doch ohnehin nichts gab, und es auch keine Aussicht darauf zu geben schien, dass sich das in absehbarer Zeit ändern würde.


    Als sich draußen plötzlich etwas zu tun begann – zu einer unüblichen Zeit, wie sie meinte, aber nun, auf ihr Zeitgefühl war ja kein Verlass derzeit –, lag Seiana wie so häufig auf der Pritsche und starrte vor sich hin, verloren irgendwo in ihren Gedanken, die sich im Moment wenigstens nicht in einem der zahllosen Kreise drehten, die sie halb verrückt machten vor Angst oder Ungewissheit, sondern eher träge vor sich hin trieben. Sie rührte sich nicht, als sie draußen etwas hörte, und auch als die Tür sich zu öffnen begann, blieb sie noch liegen, weil sie im ersten Moment gar nicht wirklich realisierte, dass das tatsächlich geschah – und selbst wenn, war es doch nur wieder das gleiche: der Sklave, der mit irgendetwas kam. Ein Augenblick später allerdings realisierte sie, dass etwas anders war. Es war nicht der Sklave, der hereinkam, sondern ein Mann, ein Soldat, ein... Seneca. Seiana richtete sich halb auf und starrte ihn an. Einbildung, war ihr erster Gedanke. Das musste eine Einbildung sein. Sie träumte. Sie hatte zwar bisher noch nie davon geträumt, dass er kam, so gütig war Morpheus bisher nicht gewesen, ihr einen solchen Traum zu schicken, aber dann war es eben jetzt zum ersten Mal so. Vielleicht halluzinierte sie ja auch, weil die Dunkelheit der Zelle und das Eingesperrtsein sie verrückt machten. Aber er verschwand nicht... stattdessen kam er nur weiter auf sie zu, und Seiana brachte erst mal nicht mehr fertig, als ihm einfach nur sprachlos entgegen zu sehen.

    Zitat

    Original von Titus Duccius Vala

    http://www.kulueke.net/pics/ir/nscdb/y-diverse/15.jpg

    "Oh, sicher...", flötete der Sklave, "..das Wetter ist heute ohne jeden Tadel.. es scheint fast, als hätte Anextlomarus seinen Narren an den Heeren gefressen, denn seitdem der erste Soldat des Kaisers seinen Fuß auf italisches Gebiet gesetzt hat, wurde uns nur gutes Wetter zuteil. Nicht eine Wolke heute am Himmel! Hätte ich nicht soviel mit den anderen hier unten zu tun, ich würde mich mehr draußen aufhalten, jaja. Man könnte fast glauben, es wäre garkein Krieg, so gut ist das Wetter."


    Das Wetter.
    Das Wetter? Der Sklave redete vom Wetter? Das war jetzt wohl bitte nicht sein Ernst. Seiana starrte ihn flüchtig an, aber sie war zu erschöpft, um ihm etwas von dem zu sagen, was sie ihm normalerweise bei einer solchen Antwort um die Ohren geschleudert hätte. Das einzige, was sie antwortete war: „Ich weiß, wie das Wetter ist. Ich war bis vor kurzem noch draußen und habe es selbst gesehen.“ Ein leiser Schmerzensschrei entfuhr ihr, als sie einen größeren Hautfetzen weg riss. Stirnrunzelnd betrachtete sie dann ihre Fußsohlen. Nicht perfekt... aber genug, hoffte sie, dass sich nichts entzünden würde. Sie neigte sich nach vorn und griff nach der Schüssel, die der Sklave gebracht hatte, und ohne wirklichen Elan aß sie einen ersten Löffel voll von dem Inhalt... der ihre Begeisterung, die ohnehin schon auf dem Nullpunkt war, in frostige Minusgrade sinken ließ. Sie versuchte den Geschmack zu ignorieren und musterte den Sklaven. „Also?“

    Zuerst schien es tatsächlich zu funktionieren... die Meute ließ sich offenbar abschrecken, jedenfalls blieb es still auf der Straße. Drinnen ließ die Aufmerksamkeit dennoch nicht nach, nicht, so lange nicht endgültig Ruhe eingekehrt war in der Stadt, und selbst wenn nicht durch die Luke draußen noch eine Menschenmenge zu sehen gewesen wäre – den Veteranen war klar, dass auch nur annähernd so etwas wie Ruhe frühestens gegen Abend einkehren würde.
    Und dann geschah doch, was die Veteranen befürchteten: der Mob rottete sich wieder zusammen. Der Mann, der zum Anführer aufgerückt war, nachdem ihr eigentlicher von den Soldaten verschleppt worden war, hieß ein paar seiner Männer eilig die Barrikaden hinter der Porta noch zu verstärken, während sich ein weiterer um einen der Bediensteten kümmerte, keinen Sklaven, einen Peregrinus, der irgendwie meinte ausgerechnet jetzt das Haus verlassen zu müssen. Der Mann sah schließlich offenbar ein, was für eine dämliche Idee das war... allerdings ging der Anführer ihm dann doch noch ein paar Schritte nach und trug ihm auf: „He, Peregrinus! Falls die Porta hier nicht hält: sammelt euch beim Stall.“ Vom Stall aus gab es auch noch eine Möglichkeit, das Grundstück zu verlassen, abseits der Hauptstraßen gelegen und für Lieferanten gedacht. Auch der wurde bewacht – allerdings hatte er noch nichts gehört, dass es dort Probleme gab. Falls die Tür nicht hielt, konnten zumindest die Menschen darüber vielleicht in Sicherheit gebracht werden.
    Ohne großartig abzuwarten, wie der Peregrinus darauf reagierte, kehrte der Anführer zurück zur Porta und brüllte durch die Luke dem Mob draußen zu: „BEDANKT EUCH BEI DEN REBELLEN FÜR DEN TOTEN!“

    Seiana warf einen kurzen Blick auf die Schale, aber selbst wenn das Zeug appetitlicher ausgesehen hätte, hätte sie wohl keinen Hunger gehabt. Allerdings wusste sie auch, dass sie etwas zu essen brauchte. War der Schmerz zu einem diffusen Pochen abgeklungen, als sie hier gelegen hatte, spürte sie ihn jetzt wieder klarer, schärfer, vor allem in ihren Fußsohlen, um die sie sich gerade kümmerte, die sie säuberte, tupfte, Hautfetzen abzupfte. Es klärte ihren Kopf genug, dass sie wieder im Hier und Jetzt war... und eines mit Sicherheit wusste: sie würden sie hier drin kaum verrotten lassen. Was auch immer die Rebellen vorhatten: es würde irgendetwas sein, was öffentlich war. Und sie hatte nicht vor, dann herunter gekommener auszusehen als unbedingt nötig. Was nichts anderes hieß als dass sie ganz sicher essen würde, was sie ihr hier vorsetzten.


    Im Moment allerdings war ihr dann doch wichtiger, sich erst mal um ihre Sohlen fertig zu kümmern. „Ich möchte das hier...“ sie hob kurz ihre Hände, „noch fertig machen. Gibt es nicht irgendetwas, was du mir jetzt schon erzählen kannst?“

    Seiana ließ sich wieder zurück sinken, als der Sklave ging, richtete sich aber endgültig auf, als er wieder kam. „Danke“, murmelte sie und nahm die Schüssel und das Tuch entgegen, setzte sie neben sich ab... und stand dann zunächst vor dem Problem, wie um alles in der Welt sie sich hinsetzen sollte, um ihre Fußsohlen zu säubern. Jede übermäßige Bewegung, jedes zu tiefe Vorbeugen, jedes Spreizen der Beine tat ihr im Unterleib weh... aber das konnte sie kaum vermeiden, wenn sie die Wunden säubern wollte. Also biss sie die Zähne zusammen, verschränkte einen Fuß über dem anderen und neigte sich nach vorn, tunkte einen Zipfel des Tuchs ins Wasser und begann, die Wunden an ihren Sohlen zu reinigen – die zwar nur oberflächlich waren, aber umso mehr zu brennen zu schienen. Erst nach ein paar Momenten fiel ihr auf, dass der Sklave stehen geblieben war und sie beobachtete, und flüchtig hielt sie inne und sah auf. Sie sehnte sich nach Ruhe. Nach Einsamkeit. Aber wenn der Mann schon hier blieb, musste sie einfach versuchen das zu nutzen so gut es ging. „Kannst du mir sagen, was draußen vor sich geht? Was ist passiert, seit die Tore offen sind?“

    Seiana regte sich zunächst gar nicht, als die Tür wieder aufging, jemand hereinkam und irgendetwas sagte. Sie hatte in den vergangenen Tagen auch herzlich wenig auf Raghnalls Versuche reagiert, mit ihr ein Gespräch anzufangen... und jetzt ging es ihr noch mal schlechter, jetzt war da nicht nur diese... diese unglaubliche Leere, die sie seit der Geburt spürte... sondern die Schmerzen, die die Leere aber nicht füllten, sondern auf seltsame Art nebeneinander koexistierten.
    Sie starrte einfach weiter vor sich hin, und erst, als der Mann sich näherte und sie direkt ansprach, hob sie ihren Blick und sah ihn an. Immer noch schweigend. Erst nach einem weiteren, längeren Moment richtete sie sich langsam auf und machte eine merkwürdige Kopfbewegung, fast als wollte sie gleichzeitig nicken und den Kopf schütteln. „Ich bin in Ordnung“, murmelte sie und zog die dünne Decke über sich, die auf der Pritsche lag. „Hast du... könnte ich Wasser bekommen? Und ein sauberes Tuch?“ Irgendwie sollte sie ihre Füße vom Schmutz befreien... sonst würde das bald noch unangenehmer werden als sowieso schon.

    Seiana stolperte mehr in die Zelle als sie ging. Wie sie erwartet hatte, war der Weg zur Castra absolut kein einfacher geworden für sie. Ihre Beine, ihre Füße, ihr Unterleib... alles tat weh. Die Beine schmerzten von dem Fußmarsch, der für sie ungewohnt lang und schnell gewesen war. Ihre Fußsohlen hatten nicht nur Blasen, sie waren blutig gelaufen. Und ihr Unterleib glühte vor Schmerz. Dass sie nahezu erbärmlich fror in der dünnen Tunika, die sie trug, mit nackten Füßen und ohne Palla, war da nur noch Nebensache.
    Noch bevor sie die Castra erreichten, war ihr Kopf so vernebelt vor Schmerz, dass sie sich auf kaum noch etwas konzentrieren konnte außer darauf, einfach nur irgendwie einen Fuß vor den anderen zu setzen, um endlich, endlich anzukommen. Ganz egal wo. Hauptsache sie kam an.


    Und als sie dann endlich bei der Castra waren, als Seiana hinein gebracht wurde, in den Carcer, bis zu einer der Zellen, achtete sie auch da kaum auf ihre Umgebung. Sie ließ sich einfach nur auf die Pritsche sinken, so erschöpft, dass sie zunächst noch nicht einmal Erleichterung spürte sich ausruhen zu können. Sie setzte sich, schlang die Arme um den Körper, kippte langsam zur Seite und zog die Füße hoch. Und lag einfach nur da, während sie in die nur schwach erhellte Zelle starrte.

    Kaum waren die Soldaten mit ihren Gefangenen verschwunden, kamen die Veteranen schon heraus und begannen, die Tür wieder zu verrammeln, so lange sie noch Verschnaufpause hatten, weil die Anwesenheit der Soldaten den Mob verschreckt hatte... und noch während sie dabei waren, schleppten zwei andere einen Toten heran. Sie drapierten ihn ein paar Fuß weit weg von der Casa, aber so mittig, dass er jedem im Weg lag, der zur Porta wollte, und sie sorgten dabei dafür, dass sein aufgeschlitzter Oberkörper gut zu sehen war, einschließlich der Eingeweide, die aus der großen Wunde herausquollen. Dann zogen sie sich zurück und verrammelten die Tür endgültig.

    http://img853.imageshack.us/img853/2552/rheavilica.jpg Vorbei. Es war vorbei. Langsam erhob Rhea sich, das Zittern mit aller Macht unterdrückend. Sie war Vilica, sie hatte eine Verantwortung, sie konnte sich nicht gehen lassen. Blass sah sie sich um und ging dann zu einem der Veteranen, dem, der die anderen schon wieder rumzuscheuchen begann. „Was nun?“ fragte sie, und versuchte ihre Stimme dabei fest klingen zu lassen. „Braucht ihr Hilfe?“
    Der Veteran musterte sie kurz und zuckte dann die Achseln. „Sieh zu, dass alle das Atrium verlassen. Außer den Männern, und...“, er sah sich nach der Sklavin um, die sich zuvor auf die Soldaten gestürzt hatte, bis ihm einfiel dass die ja auch weggebracht worden war. „Und jedem Weib, das meint sich halbwegs wehren zu können.“
    „Was ist, wenn sie doch reinkommen?“
    „Na was wohl“, knurrte der Veteran. „Wenn sie erst mal drin sind, können wir froh sein, wenn wir mit heiler Haut davon kommen. Vor allem weil die Soldaten nicht mehr viel heil gelassen haben, was den Pöbel ablenken könnt.“
    Rhea wurde ein bisschen blasser, aber bevor sie etwas sagen konnte, fügte der Mann noch hinzu: „Die anderen sollen sich am besten draußen im Stall verstecken. Da ist die Chance am größten, dass keiner hinkommt.“
    Rhea nickte leicht. „Ich kümmer mich darum. Was... ist mit dem Toten?“
    Verständnislos wurde sie gemustert. „Was soll mit dem sein?“
    „Naja.“ Rhea zögerte kurz und gab sich dann einen Ruck. Der Geist des Toten würde es ihnen hoffentlich verzeihen. „Wenn wir ihn draußen vor die Porta legen... meinst du, es könnte vielleicht Plünderer abschrecken?“
    Einen Moment herrschte Stille... dann nickte der Veteran langsam. „Nen Versuch wär's wert. He!“ Er winkte zwei seiner Männer heran. „Schafft die arme Sau nach draußen, vor die Porta. Platziert ihn schön mitten davor.“
    Und während sich die Männer darum kümmerten, ging Rhea daran, alle, die nichts zur Verteidigung würden beitragen können, aus dem Haus und in den Stall zu schaffen.

    Ich hab momentan unter der Woche so viel in der Arbeit zu tun, dass ich abends dann zu wenig anderem Zeug komm... aber am Wochenende kann ich mich um die Palast-Belagerung kümmern, den Thread hab ich fast vollständig (da fehlt nur der letzte Narrator-Beitrag).