Beiträge von Decima Seiana

    Seiana behielt eine ausgeglichene Miene bei, aber ihr war nach einem Schmunzeln, als sie erneut Senecas Erklärung hörte, warum er einfach so drauflos hatte gehen wollen. Sie würden noch genug Gelegenheiten haben, Stadt und Leute kennen zu lernen... und das weniger stressig als in Verbindung mit der Suche nach einem Heim. Fand sie. Andererseits: sie mussten ja nicht sofort etwas finden. Sie jedenfalls hatte ganz sicher nicht vor, sich heute schon für etwas zu entscheiden, erst recht nicht wenn sie vorab keine Informationen hatte einholen können und heute sowieso mehr ein Kennenlernen der Stadt auf dem Plan stand. „Ja... wegen mir muss es auch kein Haus mitten in der Stadt sein.“ Sie waren in Germanien, ein Landgut so weit außerhalb der Stadt wie sie es in den Albaner Bergen gehabt hatte, dabei wäre ihr dann wohl doch etwas unwohl, zumal es hier kaum Klienten-Veteranen ihrer Familie gab, die vertrauenswürdig und die sie verhältnismäßig günstig hätte anheuern können zum Schutz. Aber etwas am Stadtrand oder zumindest in direktem Umfeld Mogontiacums... nah genug, dass die Sicherheitsmaßnahmen nicht überhand nahmen, weit genug, dass sie ihre Ruhe hatten.


    „Ja, das wäre großartig“, antwortete sie ihrer Nichte, als diese anbot sie erst mal etwas herumzuführen. „Entscheide erst mal du wohin, wir folgen dir einfach.“ Dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. „Denk dir nichts dabei, die Hochzeit ist ja nun schon etwas her. Aber danke für die Glückwünsche.“ Verheiratet. Sie. Mit Seneca. Das war immer noch... unbewohnt. Zumal sie bislang noch nicht wirklich im Alltag einer Ehe angekommen waren – in Italia hatte Seneca noch in Mantua gedient, dann hatten sie die Reise vorbereiten müssen, dann war die Reise selbst gekommen... seit ihrer Heirat waren sie im Grunde aus dem Ausnahmezustand nicht heraus gekommen. Nicht dass das schlimm gewesen wäre, bei allem, was sie erlebt hatten bislang, war das nichts gewesen – dennoch freute sie sich darauf, wenn endlich ein wenig Ruhe, ein wenig Normalität einkehrte. „Wir haben in den Albaner Bergen geheiratet. Eher klein... so klein es möglich war, wenn man unsere Familien bedenkt.“ Es gab immer Verwandte, Klienten, Freunde, die man nicht ausklammern konnte, selbst wenn man eine Feier dieser Art noch so klein halten wollte. „Aber schön, nicht wahr?“ Sie lächelte Seneca zu und berührte flüchtig seine Hand.

    Tage waren seit ihrer Ankunft vergangen, Tage, in denen Seiana sich bemüht hatte sich wenigstens etwas einzuleben. Es war ja nicht so, dass sie es nicht gewöhnt war sich umzustellen. Sie war in Hispania groß geworden, hatte in Rom gelebt und in Alexandria. Trotzdem war es hier... anders. Und das lag nicht nur daran, dass sie mittlerweile älter war. Sie wagte zu vermuten, dass sie sich an die Alexandriner Art leichter wieder gewöhnt hätte. Alexandria war griechisch geprägt, es war dort zwar durchaus lockerer, aber es war nicht so... so rau wie hier. Seiana fiel kein anderes Wort ein um zu umschreiben, wie sie die ersten Tage in Mogontiacum, den ersten Eindruck des Lebens hier, empfand. Es war rau. Vielleicht lag es daran, dass das Wetter rauer war und die Umgebung und die Menschen daher auch... Vielleicht führte der Mangel an Sonne, an Wärme dazu. Aber egal woran es lag, es fiel ihr schwer, sich hier einzuleben, und dass sie im Grunde seit langem nun schon gewöhnt war für sich zu leben, machte es nicht gerade besser. Immerhin: die Reise lag endlich hinter ihr. Egal wie abgehärtet manche auch sein mochten oder wie stoisch sie die Strapazen ertragen hatten, Seiana war sich sehr sicher, dass am Ende jeder von ihrer Gruppe froh gewesen war, endlich anzukommen und nicht mehr quasi auf der Straße leben zu müssen. Trotzdem... das Eingewöhnen hier würde eine ganze Weile dauern, fürchtete sie.


    Seneca hatte sie in der letzten Zeit auch nicht übermäßig häufig gesehen. Was sie verstehen konnte, ein neues Amt war erst mal immer mit viel Arbeit verbunden. Was etwas blöd für sie war: noch gab es für sie nicht wirklich viel zu tun. So lange sie nicht entschieden hatten, wo sie wohnen würden, machte es wenig Sinn das Praetorium aufwendig einzurichten, und sowieso war das keine wirklich erfüllende Tätigkeit für sie. Sie erzählte Angestellten, was sie wollte, und dann sollten die machen, so einfach war das für Seiana. Sie musste nicht selbst Hand anlegen bei so was und alles kontrollieren, dafür war ihr so etwas wie die Hauseinrichtung nicht wichtig genug – selbst wenn es ihr am Ende nicht gefiel, konnte sie es immer noch ändern lassen. Zurückziehen und sich mit ihren eigenen Dingen beschäftigen ging in der Castra auch schlecht, dafür war hier zu viel los, zu viele Menschen, selbst wenn sie vom Praetorium fernblieben. Ihr fehlte dafür die Weite und Einsamkeit, die sie in den Albaner Bergen gehabt hatte... Und sonst eine Aufgabe hatte sie hier bisher noch nicht.
    Allerdings hatte Seneca sich nach ein paar Tagen etwas Zeit freischaufeln können, und so waren sie nun unterwegs in der Stadt, um Ausschau zu halten nach Unterkunftsmöglichkeiten. Seiana selbst hätte ja lieber geplant, als einfach auf gut Glück loszugehen, hätte lieber Erkundigungen eingezogen und gezielt das ein oder andere angesehen, aber sie hatte Seneca den Wunsch auch nicht abschlagen wollen, einfach loszuziehen. Sie hatte nur ihrer Nichte einen Boten geschickt mit der Frage, ob sie mitkommen wolle, und jetzt waren sie hier, in der Stadt, in der sie sich nicht auskannten – also, überhaupt nicht, nicht einmal wo welche Wohnviertel waren –, und zumindest Seiana versuchte sich zu orientieren. Sie unterdrückte ein Seufzen und sah zu ihrer Nichte, als diese genau das anmerkte, was Seiana sich dachte. Vielleicht war da doch noch eine Decima in ihr... auf der Hochzeit hätte sie das jedenfalls nicht gedacht, hatte sich im Gegenteil viel eher bestätigt gesehen in ihren Befürchtungen, die sie von Anfang an gehegt hatte. Aber viel hatten sie nicht miteinander reden können, dafür waren es zu viele Menschen gewesen, und so hatte Seiana beschlossen, diesen ersten Eindruck einfach mal... nun ja, stehen zu lassen wie er war, und abzuwarten. „Nun, wir... wissen es tatsächlich noch nicht so genau“, erwiderte sie und überging, dass das die Idee ihres Gatten gewesen war. Dem warf sie nur von der Seite einen Blick mit hochgezogener Augenbraue zu frei nach ich hab's dir ja gesagt, verband das aber mit einem angedeuteten Lächeln, so dass es neckend wirkte, nicht vorwurfsvoll. „Aber wir müssen auch nicht sofort etwas finden. Wir verschaffen uns erst mal einen Überblick, was überhaupt möglich ist hier. Holen uns Inspirationen.“

    Seiana seufzte lautlos, als sie endlich das Atrium des Praetoriums betrat. Sie wusste nicht, ob das hier ihr endgültiges Heim werden würde, Seneca und sie hatten bereits darüber gesprochen, sich etwas anderes zu suchen. Zumindest etwas zusätzlich zum Praetorium in der Castra... wenn nicht etwas stattdessen. Seiana war sich unschlüssig, ob sie hier, in der Castra, wirklich leben wollte oder nicht. Sie wollte nicht als abgehoben oder verwöhnt erscheinen, aber... nun ja. Wenigstens einen Rückzugsort irgendeiner Art zu haben, außerhalb des Militärlagers, war ihr ganz recht.
    Aber das würde noch etwas dauern, also luden die Sklaven das Gepäck, das sie mitgebracht hatten, aus und brachten es herein. Seiana verschaffte sich einen ersten Überblick über das Haus, die Räume, und gab erste Anweisungen, wo was hin sollte, bevor sie sich daran machte, sich zu waschen und umzukleiden für die Hochzeitsfeier.

    Seiana blieb in dem Reisewagen, während die Modalitäten am Tor ausgehandelt wurden, und gab ihren Leibwächtern nur zu verstehen, dass sie gleich zum Praetorium gebracht werden wollte. Seneca würde sich wohl zuerst in der Principia melden, davon ging sie jedenfalls aus, aber dort hatte sie nicht wirklich etwas zu suchen. Und davon abgesehen blieb ihnen nicht mehr allzu viel Zeit, mussten sie sich doch für eine Hochzeitsfeier auf die Schnelle fertig machen.

    Zitat

    Original von Aulus Iunius Seneca
    Seneca fand es irgendwie seltsam in einer fremden Hochzeitsgesellschaft aufzuschlagen, aber der Duccier hatte ihn ja eingeladen und es war eine gute Gelegenheit frühzeitig einige Kontakte zu knüpfen und Land und Leute kennenzulernen.
    Der Iunier war sich nicht sicher ob seine Frau überhaupt Lust hatte auf diese Veranstaltung zu gehen, aber er versuchte sie aufzuheitern und nahm ihre Hand während sie den Garten betraten und die ersten Augenblicke ein wenig verloren dastanden.


    Gerade erst angekommen, im Grunde, und schon ging es auf eine Feier... nein, Seiana war von dem zeitlichen Ablauf nicht wirklich begeistert. Aber sie konnten auch schlecht nein sagen, wenn sie vom Legatus Augusti eingeladen wurden. Noch dazu wo hier ihre Nichte und ihr Neffe lebten, die sie ohnehin hatte besuchen wollen. Wenn auch nicht unbedingt am Tag ihrer Ankunft nach einer mehrwöchigen Reise...


    An Senecas Seite betrat sie den Garten und ließ die Szenerie erst mal auf sich wirken, während sie, noch mehr unbewusst als bewusst, schon Vergleiche anstellte zu dem, was sie kannte. Und hier war einiges anders. Die Kleidung einiger Gäste war da nur der Anfang... und beim Benehmen hörte es noch lange nicht auf. Seiana bekam nicht wortwörtlich mit, was der plötzliche Trubel zu bedeuten hatte, aber offensichtlich waren ein paar Leute überrascht davon, dass der Duccius – der, den sie aus Rom kannte – hierher zurückgekehrt war.

    Seiana hörte sich wortlos an, was ihr Bruder zu sagen hatte. Es gab einiges, was sie noch hätte sagen können... aber es schien irgendwie sinnlos zu sein. Sie redeten aneinander vorbei oder wollten nicht hören, was der andere sagte. Faustus' Reaktion auf die Nennung des Flaviers zeigte das, genauso wie das, was er erneut über den Duccier sagte. Seiana konnte nicht anders, unwillkürlich kam es ihr so vor, als ob ihr Bruder sich da irgendetwas zusammenreimte, was so nie passiert war. Sie hatte mit Aquila geredet, und der Duccius hatte ihn nie, niemals angegriffen, so wie Faustus es gerade behauptete. Flavius Furianus war ihn angegangen. Aurelius Lupus war ihn angegangen. Der Duccius hingegen hatte ihn verteidigt. Seiana begriff nicht, woher Faustus also diese Anschuldigungen nahm, wenn er denn nicht die Anfeindungen anderer dem Duccius zuschrieb, weil er sie – bewusst oder unbewusst – ihm zuschreiben wollte.
    Sie saß da, und sie hörte wortlos ihrem Bruder zu, und bevor sie sich irgendwann hätte sammeln und etwas erwidern können, beendete er ihr Gespräch und ging. Und Seiana... blieb noch sitzen, einige lange Momente, bevor sie sich schließlich ebenfalls erhob und das Zimmer verließ.

    Seianas Blick ging in den Garten hinein, aber sie sah das Grün der Pflanzen nicht wirklich. Stattdessen ging ihr Blick ins Leere, während sie daran zurückdachte, was gewesen war. „Ich weiß es nicht“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Vespa. Sie wusste nicht, ob die Iunia ihr etwas vorgespielt hatte oder nicht. Eigentlich besaß sie eine recht gute Menschenkenntnis, oder zumindest glaubte sie das – ihre Arbeit bei der Acta hatte das auch irgendwie erfordert. Aber in dem Fall konnte sie es wirklich nicht sagen. Eine Zeitlang hatte sie geglaubt, dass es nicht gespielt war, aber im Rückblick betrachtet, nach dem, was seitdem passiert war, ging sie davon aus dass sie ihr Eindruck da einfach getäuscht hatte. Warum das so war, konnte sie nur mutmaßen. Vielleicht gab sie ihr die Schuld daran, dass ihr erster Mann sich vom Tarpeischen Felsen gestürzt hatte. „Ich weiß es nicht“, wiederholte sie dann, diesmal an die Aelia gerichtet, und jetzt sah sie sie auch wieder an. „Ich habe aber auch darauf geachtet, dass unser Verhältnis professionell bleibt. Privat hatte ich seit damals so gut wie nicht mit ihr zu tun.“


    Bei der nächsten Frage spannte Seiana kurz ihre Kiefermuskeln an, als sie die Zähne leicht aufeinander presste. Sie hatte mit der Sache abgeschlossen, eigentlich, oder glaubte es zumindest – aber daran zurückzudenken fiel ihr trotzdem immer noch nicht leicht. Der Aelius bedeutete ihr nichts mehr, aber wie lange sie sich hatte betrügen lassen, wie lange sie sich blind gestellt und Erklärungen für die Anzeichen gefunden hatte, nur weil sie die Wahrheit nicht hatte sehen wollen, das war selbst so lange Zeit danach noch etwas, das stach. Hauptsächlich, weil sie sich selbst die Schuld dafür gab, nicht schon früher die Augen aufgemacht zu haben. „Wochen“, erwiderte sie. „Zwei, drei Monate vielleicht. Es ging schon in Aegyptus los, so ehrlich war er immerhin zu mir, als ich endlich dahinter gekommen bin.“ Danach verzog sie ganz leicht das Gesicht. „Nein, schön ist das wirklich nicht, aber leider kommt es auch nicht wirklich überraschend. Vor allem nicht bei Senecas Cousine.“


    Bei Vespas nächsten Worten hielt Seiana dann für einen Augenblick inne. Sie mochte die Aelia. Es tat ihr gut, mit ihr so reden zu können, und es freute sie ehrlich, dass sie zugesagt hatte ihre Pronuba zu sein. Einem Teil von ihr widerstrebte der Gedanke daher, der sich ihr nun regelrecht aufdrängte. Andererseits war diese Gelegenheit zu gut – zu gut, um eventuellen Gerüchten bereits jetzt vorzubauen, die möglicherweise in Umlauf geraten könnten über Seneca und sie. Zu gut, um sie nicht zu nutzen. Wie Vespa zuvor ließ nun auch Seiana einen Blick durch den Garten schweifen, um sich zu vergewissern, dass sie nach wie vor alleine waren und ihnen niemand lauschte. „Sie bezichtigt mich, Affären gehabt zu haben. Auch während meiner ersten Ehe.“ Es fiel ihr schwer, das zu sagen, nicht nur weil das in Bezug auf Seneca stimmte und weil sie selbstverständlich nicht vorhatte, das zuzugeben, ganz im Gegenteil, obwohl sie Vespa eigentlich nicht anlügen wollte – sondern auch, weil sich das Rad mit jedem Mal Aussprechen weiterdrehte, obwohl Seiana es am liebsten einfach nur angehalten hätte. Trotzdem fuhr sie fort. „Zumindest hat sie das mir bereits vorgeworfen, und ich gehe davon aus, dass sie das auch Seneca gesagt hat, um ihn von einer Ehe mit mir abzuhalten. Falls du derartige Gerüchte in Zukunft hören solltest über mich, wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dem entgegen treten könntest.“

    Nein, jetzt anzufangen es zu bereuen wäre wirklich eine schlechte Idee. Und sie war weiter davon entfernt denn je... sie hatte nicht vergessen oder verdrängt, was alles falsch oder ungünstig gelaufen war, aber das Wissen, dass sie Seneca morgen heiraten würde, ließ es verblassen im Vergleich dazu.
    Dann musste auch sie lächeln, ein feines, liebevolles Lächeln. Sie wusste, dass Seneca sie liebte. Das aber in der Deutlichkeit von seinem Vetter zu hören, war... sie konnte es schwer beschreiben. Es machte es auf gewisse Art noch realer. Vor allem als Avianus den Unterschied in Senecas Verhalten herausstrich, wie er sonst war, und wie er war wenn es um sie ging. Ihr wurde wohlig-warm, und beinahe überrascht stellte sie fest, dass es ihr gut tat, das zu hören. „Die Logik über Bord geworfen haben wir beide...“ sinnierte sie, immer noch lächelnd, und nickte dann zu der Botschaft hin. „Das war die erste. Alle anderen sind vernichtet, aber ich habe es bisher nie über mich bringen können, die erste zu zerstören. Es mag lächerlich klingen, aber selbst jetzt noch fällt mir das schwer... Umso mehr scheint mir das die passende Opfergabe zu sein.“ Natürlich hatte sie auch andere Dinge vorbereitet, das übliche, aber wenn es darum ging, was ihr wirklich etwas bedeutete, dann hatte kein Wein, kein Obst, keine Opferkekse den Wert, den dieses Stück Papyrus für sie hatte.


    Als es dann um ihre Tochter ging, wurde Seiana ernst. Ihren mehr als nur impliziten Hinweis, dass von der wahren Herkunft des Mädchens niemand mehr sonst erfahren durfte, nahm Avianus zum Anlass ihr zu erklären, dass er nichts verraten würde – und sein Tonfall sagte ihr, dass er sogar ein wenig gekränkt war davon, dass sie es überhaupt für nötig befunden hatte das zu sagen. Sie presste die Lippen flüchtig aufeinander. „Verzeih bitte. Ich wollte dir nicht zu nahe retten, es ist nur...“ Nicht rational, dachte sie. Avianus wusste auch ohne Silana schon zu viel, wenn es darum ging Seneca und ihr zu schaden. Sie konnte es selbst nicht erklären. Sie hatte sich in den riskantesten Situationen der vergangenen Jahre stets an das Wissen geklammert, dass niemand von Silana wusste, und es war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie nur schwer damit zurechtkam, dass es auch anders war. Sie sah auf ihre Hände hinab. „... jahrelange Gewohnheit“, beendete sie den Satz schließlich, etwas kläglich und mit einer Begründung, die lange nicht aussuchte, was sie wirklich empfand. Statt es aber noch weiter auszuführen, fügte sie nur noch etwas an, was ihr tatsächlich schwer fiel: „Ich bin nicht unbedingt begeistert, dass du es weißt, das gebe ich zu, aber... ich habe auch nichts dagegen. Seneca vertraut dir. Das reicht mir.“ Sie lächelte bei seinen folgenden Worten und nahm das Stück Papyrus wieder entgegen. „Danke, Avianus. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel es mir bedeutet, dass du ihn so unterstützt. Solltest du jemals irgendetwas brauchen, sag mir Bescheid – wenn ich dir helfen kann, werde ich es tun.“ Ohne es selbst zu realisieren, hatte sie ihn zum ersten Mal nur bei seinem Cognomen genannt, und auch bei den restlichen Worten konnte man ihr anhören, dass sie es ehrlich meinte. Für einen Moment machte sie eine Pause, dann fasste sie das Stück Papyrus fester und erhob sich. „Ich denke, ich sollte mich langsam an das Opfer machen. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.“

    Seiana lächelte, als Vespa kundtat dass sie ein paar Tage bleiben wollte, freute sich auf die Aussicht, noch ein bisschen Zeit mit ihr zu verbringen. Sie verstand sich mit der Frau ihres Onkels mittlerweile recht gut, nachdem sie sich in letzter Zeit öfter begegnet waren.
    Für den Moment allerdings warteten auch noch andere Gäste darauf, begrüßt zu werden... und so unterhielten Seiana und Seneca sich zwar noch ein bisschen mit den beiden, verabschiedeten sich dann aber für den Augenblick und gingen dann weiter.

    Seiana fiel es nicht ganz so leicht, die Bedenken wegen Faustus zu vergessen, wie es ihr Onkel ihr riet... aber zumindest für den Moment bemühte sie sich darum, und dass Livianus so positiv war, half ihr dabei. „Der Iunius ist ein aufrechter Mann. Ich kann mich auf ihn verlassen, das ist mir wichtiger als sein Werdegang“, erwiderte sie und lächelte leicht, wurde dann allerdings wieder ernster. „Ja... ich denke ich weiß, wovon du redest. Ich teile seine Meinung allerdings nicht. Auch das ist einer der Gründe, warum ich denke dass Faustus nicht begeistert sein wird.“

    Seiana lächelte leicht und nickte, durchaus dankbar dafür, dass Vespa so bereitwillig helfen wollte. Sie tat sich schwer damit, um Unterstützung zu bitten – sie war es seit Jahren so sehr gewohnt, alles irgendwie alleine zu regeln... da war es sehr angenehm, dass die Aelia so unkompliziert war und kein großes Aufhebens darum machte.


    Beim nächsten Thema verging Seiana das Lächeln allerdings. Warum war die Iunia so sehr gegen sie? Sie wusste es nicht. Es war eskaliert, und sie wusste auch wann – aber sie wusste nicht wieso es in jenem Moment eskaliert war. Wieso die Iunia auf sie losgegangen wie eine Furie, kaum dass sie von Seneca und ihr erfahren hatte.
    Seiana deutete ein leichtes Kopfschütteln an, als Vespa sich im nächsten Moment entschuldigte für ihre offenen Worte. „Nein, kein Grund sich zu entschuldigen.“ Sie machte eine Pause. Überlegte. Wägte ab. Sie war sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Ob sie überhaupt etwas sagen sollte. Aber es einfach so stehen lassen konnte sie auch nicht, war ihr klar. „Es geht um Iunia Axilla. Du erinnerst dich sicher, dass wir eine Vorgeschichte haben, sie und ich.“ Immerhin war Archias ein Verwandter Vespas gewesen. Dennoch umriss Seiana besagte Vorgeschichte noch einmal kurz, erzählte, wie es damals zur Auflösung der Verlobung zwischen ihr und dem Aelier gekommen war, wie lange er sie betrogen hatte, bis sie schließlich gemerkt hatte was vor sich ging, erzählte auch, dass sie keine Entschuldigung hatte annehmen wollen, dass sie einfach gar nichts mehr hatte zu tun haben wollen, weder mit ihm noch mit ihr. „Wir hatten dann trotzdem wieder miteinander zu tun. Ihre Arbeit als freiwillige Mitarbeiterin für die Acta war gut, und als ich zur Auctrix ernannt wurde, wollte ich nicht, dass die Acta aufgrund von persönlichen Differenzen darauf verzichten muss. Also habe ich sie gefördert. Erst zur Subauctrix, dann zur Lectrix gemacht. Privat hatte ich weiter nichts mit ihr zu tun, in der Acta habe ich darauf geachtet, immer neutral und fair zu sein. Das Verhältnis hat sich sogar etwas verbessert, eine Zeitlang... zumindest habe ich das geglaubt. Allerdings war das ein Irrtum, wie sich heraus gestellt hat. Sie kann mich nicht ausstehen, so viel ist klar. Ich weiß noch nicht, wie sie reagiert hat, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie von der Hochzeit angetan sein wird.“ Natürlich ließ sie außen vor, dass Seneca und sie schon lange eine Affäre hatten. Es sprach nicht für sie beide, das wusste sie, selbst wenn es den ein oder die andere geben mochte, die das verstehen konnten. Davon abgesehen allerdings fand sie, dass das in der Sache kein wesentliches Detail war. Es war der Anlass gewesen, warum die Iunia schließlich ihre Maske abgelegt hatte ihr gegenüber. Aber so wie sie sich ihr gegenüber benommen hatte, wie sie sie angegiftet und ihr grundlos Dinge unterstellt hatte, war zumindest für Seiana klar: es konnte nicht der eigentliche Grund gewesen sein. Da hatte weit mehr dahinter gesteckt als Sorge um ihren Vetter oder moralische Ereiferung – zu der die Iunia gar kein Recht hatte, auch wenn sie sich in dem Gespräch mit Seiana damals – wenn man das überhaupt Gespräch nennen konnte – noch so sehr als ehrbare Frau aufgespielt hatte.

    Ihren Onkel und seine Frau gehörten zu jenen Gästen, bei denen Seiana sich darauf freute, sie noch einmal ordentlich zu begrüßen, auch wenn es ihr alles in allem ein wenig zu viel war. Livianus unterstützte sie, ihre Entscheidung, das zu wissen bedeutete ihr viel, und Vespa hatte sich ebenso als Unterstützung erwiesen.
    Dagegen schien Seneca plötzlich der zu sein, der... etwas zurückhaltend wirkte. Trotzdem übernahm er die Begrüßung, und Seiana wartete, bis auch sie selbst etwas sagte. „Wir können uns wahrscheinlich gegenseitig immer weiter danken“, lächelte sie Vespa zu. „Trotzdem: auch von mir ein herzliches Dankeschön. Es lag mir sehr am Herzen, dass du das übernommen hast, und das sozusagen in der Familie geblieben ist.“ Dann wandte sie sich ihrem Onkel zu und umarmte ihn leicht. „Dir auch vielen Dank“, wisperte sie ihm zu. „Ich kann dir gar nicht sagen wie viel es mir bedeutet, dass du heute hier bist.“ Sie löste sich von ihm und trat wieder an Senecas Seite. „Werdet ihr ein paar Tage hier bleiben? Vespa, kennst du das Landgut überhaupt schon?“

    „Das bietet sich dann natürlich an“, erwiderte Seiana auf den Kommentar, dass der Praefectus die Gelegenheit genutzt hatte auch Verwandte zu besuchen. „Vor allem bei einem so freudigen Anlass.“


    Bei der weiteren Unterhaltung hielt Seiana sich zurück. Dass Seneca versetzt wurde, war sein Thema, und darüber hinaus kannten die beiden sich, das war offensichtlich. Sie lächelte nur freundlich und hörte dem Gespäch zu, während sie an ihrem gemischten Wein nippte.

    Seiana bemerkte den Seitenblick, den Seneca ihr zuwarf, und sie ahnte worum es ihm ging, sie beide kannten sich lang genug inzwischen. „Es freut mich ebenso, Duccia“, lächelte sie die Frau des Annaeus an, und hörte dann dem Senator zu, wie er über die Ala sprach, seine Klienten, Germanien. Der Mann war lange Statthalter dort gewesen, natürlich kannte er sich aus. In der Zwischenzeit traf auch der Duccius selbst ein und begrüßte die Anwesenden, aber bevor noch jemand weiter reagieren konnte auf etwas, kam der Kaiser selbst mit seiner Familie – und natürlich kamen die Gespräche dadurch zum Erliegen. Seiana neigte grüßend den Kopf, und machte Platz, als das Kaiserpaar sich mit dem Senator und seiner Frau unterhalten wollte.

    An Senecas Seite war auch Seiana zu der Entsendung erschienen. Sie fühlte sich nicht übermäßig wohl, erinnerte sie sich doch noch zu gut an eines der letzten Male, als sie hier gewesen war... genauer gesagt an jenes nach dem Bürgerkrieg. Nach Wochen des Zwangsaufenthalts in der Castra Praetoria hierher gebracht, in den Palast, um Cornelius Palma Rede und Antwort zu stehen. Nein, sie erinnerte sich nicht gerne daran, an die ganze Zeit damals nicht. Aber bereits beim letzten Mal war es anders, und heute noch besser, war sie heute doch nicht allein hier, sondern mit Seneca. Ihre Miene, ihre Kleidung, ihr ganzes Auftreten war dem einer Ritterin des Reichs mehr als würdig – es war genug, um sich dahinter zu verstecken, genug um darin Selbstsicherheit zu finden. Und trotzdem: sie war froh, mit Seneca zusammen hier zu sein, auch wenn sie sich davon nichts anmerken ließ.


    „Salvete, Senator, Duccia“, grüßte sie das Paar, das schon anwesend war, mit einem leichten Nicken und einem höflichen Lächeln. Sie hatte sich lange aus dem gesellschaftlichen Betrieb ausgeklinkt, hatte sich nur über das Nötigste auf dem Laufenden halten lassen. Aber als klar gewesen war, dass sie aus ihrem selbstgewählten Exil wieder zurückkehren würde, hatte sie zugesehen sich genauer darüber zu informieren, was im gesellschaftlichen Leben Roms so passiert war – ebenso wie darüber, was es so über Mogontiacum zu wissen gab. Es ging nichts über eine gute Vorbereitung... und so wusste sie auch, dass Senator Annaeus – den sie vom Sehen her noch von früher kannte – eine Verwandte des Duccius geheiratet hatte.

    Seiana schauderte erneut, als sie seine Finger nun auf ihrer Haut spürte, und ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, als ihr Mann sie ins Schlafzimmer und zum Bett drängte. Sie liebte es, ihn so zu spüren, und das Wissen, dass ihre Beziehung endlich nicht mehr verheimlicht werden musste, machte es so viel besser. Nie mehr dieser Gedanke im Hinterkopf, dass es nicht richtig war. Nie mehr die Befürchtung, eines Tages könnte es, aus welchen Gründen auch immer, vorbei sein, weil die Entfernung zu groß war oder andere Menschen zwischen sie traten. Stattdessen die Gewissheit, dass sie jetzt offiziell zusammengehörten, die sich in jeder ihrer Berührungen zeigte. Sie küsste ihn, erkundete seinen Körper, und obwohl sie ihn so gut kannte nach all den Jahren, wieder entdeckt hatte in den letzten Wochen nach der Zeit der Distanz, war es dennoch anders, auf aufregende Art anders. Der Wein, von dem sie auch heute zwar nicht viel, aber doch mehr als üblich getrunken hatte, tat sein Übriges dazu. Alles zusammen genommen führte es dazu, dass Seiana mehr als sonst aus sich heraus ging, aktiver Einfluss nahm, während sie sich gleichzeitig unter seinen Berührungen wand und schauderte.

    Wunderbar. Na, das wagte sie dann doch zu bezweifeln. Aber so lange man ihr ihre Unsicherheit nicht zu sehr angemerkt hatte, war das auch schon was. „Na, so lange du das denkst, reicht das auch schon“, erwiderte sie auf sein Necken, eine Augenbraue leicht hochgezogen, aber mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
    „Der Duccius hat doch seine ganze Familie dort. Sicher werden sie uns etwas empfehlen können.“ Im Castell der Ala wollte Seiana nicht unbedingt länger wohnen als es nötig war, auch wenn sie davon ausging, dass die Unterkunft des Praefecten gewissen Standards entsprach. „Dann wird es mit der Suche hoffentlich nicht allzu lange dauern.“
    Ihre Frage nach etwas zu trinken beantwortete er nach einem kleinen Moment ablehnend. Stattdessen trat er hinter sie. Umarmte sie und küsste ihren Nacken. Die feinen Härchen stellten sich auf, und eine leichte Gänsehaut breitete sich von dort aus, wo seine Lippen ihre Haut berührten. Seiana seufzte leise und lehnte sich an ihn, ihre Hände auf seinen, die sie von hinten umschlangen. Einen langen Moment blieb sie einfach so stehen, genoss mit geschlossenen Lidern seine Liebkosungen, bevor sie sich in seinen Armen umdrehte und ihn erneut küsste. So oft hatten sie das schon getan. So oft hatten sie schon so da gestanden, in dem Wissen, dem Wunsch, dass dem Kuss mehr folgen würde, und trotzdem... war es heute doch etwas anderes. Seiana hätte nicht geglaubt, dass das Wissen endlich verheiratet zu sein einen Unterschied machen würde, und doch war es so, stellte sie fest, als sie ihren Mann weiter küsste und ihre Finger sich einen Weg unter seine Kleidung suchten.

    Seiana bemühte sich um ein Lächeln, als Vespa zwar bedauerte, wie ihr Bruder zu der Sache stand, es selbst aber offenbar verstand. Tatsächlich hatte ihr Bruder nicht immer etwas gegen die Männer, die sie aussuchte. Den Terentius hatte er für eine großartige Wahl gehalten. Bis er erfahren hatte, wie die Ehe zustande gekommen war... Trotzdem sagte sie: „Da hast du wahrscheinlich recht.“


    Dass sie sie darum bat, ihre Pronuba zu sein, überraschte Vespa sichtlich, aber sie nahm an, und Seiana hoffte zumindest, dass sie es nicht nur aus Höflichkeit tat. „Hab du vielen Dank, dass du das übernimmst.“ Sie lächelte, und jetzt stieß sie endlich leicht mit der Aelia an und trank einen Schluck. „Es wäre wahrscheinlich gut, wenn wir gemeinsam den Ablauf der Feier durchgehen könnten, wenn dieser steht. Wie schon gesagt wollen mein Verlobter und ich auf ein paar Dinge verzichten. Ein weiteres Paar Augen tut da sicher gut um zu prüfen, wie sehr wir abweichen können.“


    Ihre Miene wurde wieder ernster, als Vespa nach Senecas Familie fragte. „Nun... um ehrlich zu sein, mit seiner Familie steht es ähnlich wie mit der meinen. Es gibt eine Verwandte, die nicht einverstanden ist mit der Verbindung. Aber was die Bräuche angeht, dürfte es so keine Problem geben, denke ich.“

    „Aulus“, bestätigte sie mit einem leichten Lächeln, und dann lief ein wohliger Schauer über ihren Rücken, als er sie seine Frau nannte. Er hatte das heute bei der Feier bei fast jeder Gelegenheit getan, und trotzdem verfehlte es immer noch nicht die Wirkung auf sie. „Wir werden beide wohl noch etwas brauchen dafür.“
    Sie lehnte sich an ihn. „Die Feier? Nicht ganz. Um ehrlich zu sein hätte ich es schlimmer erwartet, aber es war... ganz in Ordnung, eigentlich“, antwortete sie ihm. „Dafür dass ich so etwas gar nicht mehr gewohnt bin.“ Und es noch weniger leiden konnte als früher... oder konnte sie sich nach den Jahren des selbstgewählten Alleinseins nur einfach nicht mehr so gut verstellen, so gut beherrschen wie früher? Das war etwas, woran sie würde arbeiten müssen... sie wusste nicht, wie das gesellschaftliche Leben in Mogontiacum beschaffen war, aber als Frau eines Praefectus konnte sie sich nicht komplett zurückziehen. Und wenn sie das Angebot des Duccius tatsächlich annahm, erst recht nicht.
    Als Seneca dann völlig unvermittelt wieder sprach, lachte Seiana unwillkürlich leise auf. „Ich kann es immer noch nicht ganz glauben.“ Sie erwiderte den Kuss und schmiegte sich noch enger an ihn, legte ihren Kopf an seine Brust und genoss die Berührung, den vertrauten Geruch. „Ich liebe dich auch“, murmelte sie, bevor sie wieder ein wenig Abstand nahm, nach seiner Hand griff und mit ihm weiter ins Haus ging, durch die Gänge, in Richtung ihres Schlafzimmers. „Ich weiß immer noch nicht so genau was ich von Germania halten soll... Aber ich freu mich darauf da ein Haus mit dir zu suchen. Möchtest du noch was trinken?“ fragte sie, als sie fast angekommen waren.