Beiträge von Decima Seiana

    Im Gegensatz zu Seneca war Seiana ziemlich nüchtern – sie achtete sehr darauf, ja nicht zu viel zu trinken, nie so viel, dass sie auch nur ansatzweise das Gefühl bekam sich selbst nicht mehr kontrollieren zu können. Seit jenen Tagen, kurz bevor Seneca sie auf dem Landgut besucht hatte... seit damals hielt sie sich zurück, was Alkohol betraf. Trotzdem fühlte sie sich beschwingt wie selten. Die Hochzeit war vorbei, es war nichts schief gegangen, sie hatte die Rituale und den Rummel hinter sich, und Seneca... gehörte endlich, endgültig, offiziell zu ihr. „Der Pferdestall...?“ Sie zog die Brauen hoch und bemühte sich um einen indignierten Gesichtsausdruck. „Da bin ich dann doch froh, dass wir das Haus angesteuert haben.“ Sie ließ sich von ihm über die Schwelle führen, und obwohl sie eigentlich froh war, dass sie nicht alle Rituale hatte hinter sich bringen müssen – für einen winzigen Moment gab es ihr doch einen winzigen Stich, dass sie darauf verzichten mussten. Die Salbung des Türpfostens. Das Tragen über die Schwelle. Wasser und Feuer, und das Verteilen der Asse. Alles Zeichen, dass sie zusammen gehörten, eine Familie sein wollten.
    Seiana vertrieb den Gedanken. Es war nicht so wichtig. Sie gehörten sowieso schon zusammen – wichtig war, dass es jetzt offiziell war. Und vielleicht konnte sie in Germanien für sich das ein oder andere nachholen. Sie lächelte ihn an, als sie nach ihm eingetreten war. „Ja, irgendwie schon. Aulus.“ Sie legte ihm eine Hand die Wange und strich über seine Haut. Aulus. Sie hatte sich nie, niemals erlaubt, diese vertraute Anrede zu nutzen. Zu groß war die Gefahr, dass sie sich in Gegenwart anderer versprach, wenn sie es sich erst mal angewohnt hatte ihn so zu nennen. Dass sie Seneca sagte statt Iunius, ließe sich immer irgendwie erklären, aber sein Praenomen nicht. Jetzt allerdings... sprach nichts mehr dagegen. Im Gegenteil. „Ich glaube es wird noch dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe.“

    Die Hochzeitsfeier auf Meridius' Landgut war noch nicht für alle vorbei, aber Seneca und Seiana hatten sich irgendwann im Lauf des Abends verabschiedet. Den Brautzug hatten sie bereits beim Ritual nachgestellt, verkürzt und abgewandelt, weil die Umstände nicht passten – aber das gehörte zu jenen Traditionen, bei denen sie beschlossen hatten sie zu dehnen. In diesem konkreten Fall nicht nur deswegen, weil sie eine einfachere Feier wollten, sondern auch weil sie keine große Wahl hatten. Aber Seiana störte es ganz und gar nicht, jetzt allein zu sein. Die meisten Gäste, die über Nacht blieben, hatten sie auf dem deutlich größeren Landgut einquartiert, aber sie selbst würden auf Seianas kleinerem Nachbargut schlafen. Sie hatte sich vorher schon gedacht, dass ihr das gut tun würde nach diesem Tag – Abstand zu der Feier, dem Rummel, den vielen Menschen. Und so war es auch. Allein die frische Luft tat ihr gut, und die Aussicht darauf, zurück zu ihrer eigenen kleinen Villa rustica zu können, die in den vergangenen Jahren zu ihrem Heim geworden war, die Aussicht darauf, dort dann allein mit Seneca zu sein, mit ihrem Mann... Ihrem Mann. Es wirkte immer noch so irreal. Seiana griff nach seiner Hand, als sie ihr Landgut erreicht hatten und sie die letzten Schritte zur Tür gingen. „Wir hätten vielleicht doch drüben bleiben sollen“, scherzte sie leise. „Dort hat immerhin alles angefangen, es hätte irgendwie gepasst.“ Trotzdem war sie froh, dass sie außer ein paar Sklaven jetzt niemanden mehr um sich hatten.

    Seiana nickte flüchtig, als sie Senecas Kommentar hörte. Sie konnte sich vorstellen, wie es ihm ging, aber Papierkram war etwas, woran sie gewöhnt war. „Du hast die Hochzeit überstanden. Das wirst du wohl auch noch schaffen“, neckte sie ihn ebenso leise, und folgte ihm in das Officium hinein. Wo sie außer einem höflichen „Salve“ ihm das Reden überließ und den Scriba nur leicht anlächelte.

    „Im Ostflügel, hm?“ machte Seiana, und beinahe ohne es zu wollen rutschte ihre linke Augenbraue nach oben, als Seneca auf sein Bett wies. „Daran solltest du dann vielleicht arbeiten. So viel Zeit hast du vermutlich auch nicht mehr, deinen Palast zu erkunden.“ Ihre Lippen zuckten in der Anwandlung eines Lächelns, aber das nächste Thema verdarb für den Moment ein wenig die Stimmung. Sie atmete leise, aber tief ein. Auf ihre Frage nach seiner Familie ging er glücklicherweise gar nicht richtig ein – notwendig war das ja auch nicht. Warum sonst sollte er auch hier sein? Und was ihren Bruder anging... „Im Großen und Ganzen das gleiche, was ich dir schon erzählt hatte. Neu ist letztlich nur, dass er etwas gegen deinen Patron hat.“ Was eine massive Untertreibung war. Faustus hatte gefordert, dass Seneca sich einen anderen Patron suchen sollte, aber das erzählte Seiana nicht. Vielleicht später irgendwann, aber jetzt... spätestens seit sie in Rom angekommen war, hatte es scheinbar fast nur Grübeleien, Sorgen, Nervosität gegeben. Und auch in der Zeit davor hatte sie das wieder vermehrt gehabt – seit sie ja gesagt hatte zu ihm. Sie bereute das nicht, aber sie wünschte sich, es wäre wenigstens ein bisschen einfacher. Nachdem sie das aber nicht haben konnte, wollte sie zumindest einfach nicht mehr weiter darüber reden, nicht jetzt. Auch nicht mehr daran denken. Für eine Zeit lang wenigstens. „Ich erzähl dir später alles, nur jetzt... ich will jetzt nicht weiter darüber reden, wenn das in Ordnung ist.“ Sie lächelte und griff nach seinen Händen, verschränkte ihre Finger mit seinen, dann hob sie eine ihrer Hände an und küsste seine Finger. „Der Ostflügel. Was dagegen, ihn mir zu zeigen?“

    „Habt vielen Dank für die Glückwünsche“, erwiderte Seiana auf die wohlformulierten Floskeln. Man merkte doch eindeutig den Unterschied, wem man gegenüber stand, ob mit einem Militär oder einem Consular und seiner Frau. Wie bei den anderen Gästen auch stand sie da und hörte zu, lächelte angemessen – und erstarrte dann flüchtig. Viele Kinder, sagte er. Das Alter, in dem sie mittlerweile war, sprach ziemlich deutlich gegen viele Kinder. Aber sie überwand den Moment, lächelte einfach nur weiter und wandte sich dann an die Tiberia. „Ich würde euch ja einen ausgedehnten Besuch anbieten, aber die Gelegenheit dafür wird es wohl so bald nicht mehr geben.“ Mal ganz davon abgesehen, dass ihr Bruder das wohl niemals zulassen würde, dass der Duccius längere Zeit auf Meridius' Landgut weilte. Ihr eigenes, das war etwas anderes... aber nicht hier. Dass die beiden allerdings kürzlich Eltern geworden waren, war eine Neuigkeit, die auch an Seiana nicht vorbei gegangen war – so etwas machte durchaus die Runde. „Das kann ich mir vorstellen, ja. Herzlichen Glückwunsch zur Geburt eures Kindes.“


    Als der Duccius dann sein Hochzeitsgeschenk präsentierte, konnte Seiana nicht anders – ein ehrlich amüsiertes Schmunzeln glitt über ihre Züge. Sie kannte ihn nun schon ziemlich lange, und so etwas... so etwas passte schlicht und einfach zu ihm. Pragmatisch und durchdacht, völlig egal, was andere davon halten mochten. Sie konnte jetzt kaum hingehen und sich die beiden Tiere genauer ansehen, Gebiss und Glieder überprüfen, wie sie es von kleinauf gelernt hatte, bei der heimischen Pferdezucht in Hispania. Aber auch so war zu sehen, dass die Pferde – obwohl sie vom Äußeren nicht so viel hermachen mochten – solide Tiere waren. „Das werden wir wohl bald ausprobieren können.“ Sie warf Seneca einen schnellen Blick zu, immer noch mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen. „Ich freue mich schon darauf.“ Zumindest was die Tatsache anging, die Tiere auszuprobieren... was Germanien betraf, war sie sich nicht ganz so sicher, das würde sich noch erweisen.

    Seiana winkte ab, als Avianus' Begleiterin sich bei ihr bedankte. „Das ist nicht der Rede wert“, lächelte sie. Die Getränke gab es ja sowieso, insbesondere für die weiblichen Gäste, die des Öfteren auf Nichtalkoholisches auswichen. Was Sibel dann auch ohne Umschweife sofort tat – es dauerte nicht lange, und der Sklave hatte ihr einen neuen Becher gebracht. Seiana gab ihm unauffällig noch einen Wink, und kurze Zeit später stand ein weiterer Krug auf dem Tisch von Avianus und Sibel, der denselben Inhalt hatte wie der neue Becher. Es war vielleicht für den Anfang die einfachere Lösung, nur Wein und Wasser auf den Tischen stehen zu haben, aber wenn man erst mal wusste, welcher Gast was bevorzugte, konnte auch gleich mehr davon gebracht werden.


    Seiana schmunzelte kurz, als die Männer über den Transport scherzten, klinkte sich selbst aber erst ein, als es um einen möglichen Besuch ging. „Das wäre wunderbar, wenn ihr uns besuchen kommen würdet. Auch wenn die Reise etwas beschwerlich ist und Zeit in Anspruch nimmt, wird es sich sicher lohnen.“ Nicht dass Seiana das über Germanien wirklich sagen konnte, sie selbst war noch nie dort gewesen – aber sie würde im Zweifel dafür sorgen, dass sich ein Besuch lohnte. Sibel wusste hingegen offensichtlich noch nichts davon, dass Seneca und Seiana wohl nach Germanien gehen würden. „Offiziell ist glaube ich noch nichts“, sagte Seiana und warf Seneca einen fragenden Blick zu, bevor sie ihren Blick kurz schweifen ließ und zum duccischen Consular sah, der in der Nähe saß. Dann sah sie zu Sibel. „Seneca wird voraussichtlich versetzt werden“, erklärte sie, „die Frage nach dem Wollen stellt sich also nicht. Es wird eine Herausforderung, das ganz sicher.“

    Als der Praefectus seine Überraschung über die Hochzeit äußerte, wurde Seianas Lächeln ein bisschen gezwungen, und sie zog es vor, nichts dazu zu sagen. Auch wenn das jetzt vorbei war, der Gedanke an das zurückliegende Versteckspiel gefiel ihr nach wie vor nicht. Aber das Gespräch spielte sich ohnehin größtenteils zwischen den beiden Männern ab, die sich von ihrer Einheit kannten, was Seiana aber ganz angenehm war. Obwohl die Feier verhältnismäßig klein angelegt war, waren trotzdem viele Gäste da, erst recht gemessen an dem, was Seiana gewohnt war. Nicht mit allen auch noch viel reden zu müssen, kam ihr durchaus recht. Sie lächelte nur an den passenden Stellen, und beim letzten Kommentar des Iulius stellte sie eine Frage: „Was hat dich nach Rom geführt, wenn ich fragen darf?“

    Seiana ließ ihren Blick in die Ferne schweifen, als Senecas Vetter davon sprach, dass es seine Gens von innen zerreißen könnte. Sie wusste nicht, was sie darauf noch hätte erwidern sollen. Sie wollte nicht, dass es dazu kam, genauso wenig wie sie gewollt hatte, dass es in ihrer eigenen Familie Ärger gab... sie hatte ja nicht ohne Grund gezögert, als Seneca sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wollte. Sie hatte nicht ohne Grund gezweifelt, und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie bis heute Zweifel. Aber sie wollte mit ihm zusammen sein, und er mit ihr, und wenn das hieß, dass sie manche vor den Kopf stoßen würden damit... dann war es offenbar so. Es gefiel ihr ganz und gar nicht. Aber Seneca deswegen aufzugeben, wo sich endlich die Chance zu bieten schien ein gemeinsames Leben zu führen... nein.
    „Mach dir keine Gedanken“, versicherte sie ihm letztlich nur, als Avianus sich dann noch entschuldigte, das Thema überhaupt angesprochen zu haben. „Bei allem, was passiert ist, und so eng, wie du und Seneca befreundet seid... da kann ich dir nicht verdenken, dass du Fragen hast, die du mir selbst stellen wolltest.“


    Ihr spontan geäußerter Zweifel, ob er wirklich verstehen konnte, was sie getrieben hatte, schien Avianus nicht so ganz zu gefallen, und Seiana presste flüchtig die Lippen aufeinander. Sie wollte ja, dass er verstand, und sei es nur um Senecas Willen. Aber sie wusste nicht so recht, wie sie es erklären sollte, ohne sich ganz und gar zu öffnen – und das kam nicht in Frage. Selbst jetzt schon fühlte sie sich ein wenig unwohl, zwang sich, an Seneca zu denken, um mit Avianus so zu reden, wie sie es tat. Es half zwar, dass er nicht abweisend reagierte, aber das hieß nicht dass sie sich damit wirklich wohl gefühlt hätte. „Kein wahres richtig oder falsch“, wiederholte sie, ihre Stimme ein wenig bitter. „Ja, das stimmt wohl. Manchmal hat man nur die Wahl, welche Entscheidung einem weniger falsch erscheint. Und dabei passiert es nur allzu leicht, dass man seine Prioritäten falsch setzt.“ Wieder starrte sie in die Ferne, und unruhig bewegten ihre Finger das Stück Papyrus. Für einen winzigen Moment war sie völlig gedankenverloren, dachte zurück, wie sie Seneca kennen gelernt hatte, wie sie zueinander gefunden hatten. „Ich weiß, dass ich mich nicht auf ihn hätte einlassen sollen. Es war nur...“ So schwierig gewesen. So viel Druck. So viel Einsamkeit. Seneca war da gewesen, als sie ihn am dringendsten gebraucht hatte, und das obwohl sie damals noch gar nicht gewusst hatte, dass sie ihn brauchte. Seiana löste ihren Blick schließlich aus der Ferne und sah Avianus wieder an. „Trotz der Schwierigkeiten habe ich es nie bereut“, sagte sie schließlich noch, ohne ihren vorigen Satz zu beenden, und nach kurzem Zögern reichte sie ihm dann den Papyrus mit Senecas Worten, der ersten Nachricht, die er ihr überhaupt geschickt hatte.


    Als Seiana dann erfuhr, dass Avianus von Silana wusste, spürte sie wie so etwas wie Panik in ihr aufzusteigen begann. Es gab dafür keine wirklich rationale Erklärung, dass es sie so heftig erwischte. Das wusste sie selbst. Trotzdem war es so, und mühsam kämpfte sie dagegen an. Seit sie realisiert hatte, dass sie schwanger war, hatte sie sich selbst wieder und wieder eingebleut, dass außer ein paar wenigen Menschen niemand, niemand jemals davon erfahren durfte, was es mit Silana auf sich hatte. Das Kind war der lebende Beweis für ihre Untreue, für ihr Versagen. Gerüchte konnte man von sich abperlen lassen, aber wer von dem Kind wusste, konnte es gegen sie benutzen. Es würde ihr schaden, es würde dem Mädchen schaden, es würde Seneca schaden. Dass das Kind überhaupt hier war, bei ihr, lag sowieso nur an Seneca – wäre es nach Seiana gegangen, sie hätte das Mädchen weggeschickt, in irgendeine weit entfernte Provinz, wo es bei weit entfernten Verwandten hätte aufwachsen können. Aber Seneca hatte das nicht gewollt, und sie hatte es nicht über sich gebracht, das einfach gegen seinen Willen durchzusetzen. Hätte sie es getan, hätte sie Seneca vermutlich verloren, nicht sofort, aber auf Dauer. Sie bezweifelte, dass er ihr das hätte vergeben können... Und sie musste sich eingestehen, dass sie trotz der Unsicherheit, die sie im Umgang mit ihrer Tochter spürte, sich mittlerweile auch nicht mehr vorstellen konnte, sie nicht in ihrer Nähe zu wissen.
    Seiana atmete einmal tief durch. Es gab keinen Grund für Panik. Avianus hatte bereits bewiesen, dass er vertrauenswürdig war, oder nicht? Seneca hatte sich einmal der falschen Person anvertraut, aber die hatte das sofort gezeigt. Avianus wusste nun auch schon länger Bescheid, über mehr Details ihrer komplizierten Beziehungsgeschichte, als ihr eigentlich lieb war, und er hatte bislang nichts getan, was ihr einen Grund zu Misstrauen oder Furcht hätte geben können. Was machte es da, wenn er noch ein weiteres Detail wusste? „Entschuldige bitte. Ich war nur überrascht, das ist alles. Von dem Kind-“ Seiana hielt kurz inne und zwang sich, den Namen ihrer Tochter auszusprechen: „Von Silana – wer sie wirklich ist – weiß kaum jemand. Seneca. Mein Bruder.“ Dazu die Amme, die nicht reden konnte, und ihre drei loyalsten Sklaven. „Und wie du dir wohl vorstellen kannst, ist es sehr relevant, dass das auch so bleibt.“ Womit sie mehr oder weniger bei der ursprünglichen Frage wäre, die Avianus gestellt hatte. „Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass es viel bringen würde, ihr irgendwann die Wahrheit zu sagen.“ Im besten Fall war es ihr egal – im schlimmsten Fall würde es ihr weh tun, und warum nicht ihr letzteres ersparen, wenn man es konnte? Vielleicht hielt Seneca es für wichtiger, ihr irgendwann reinen Wein einzuschenken, Seiana war das bewusst, aber sie hielt es für keine gute Idee. „Zumindest so lang sie noch klein ist, macht es ohnehin keinen Sinn. Ich... wir haben vor, sie als eine weiter entfernte Verwandte von mir auszugeben, die gestorben sind, und die ich aufgenommen habe. Wenn etwas Zeit vergangen ist, wird Seneca sie adoptieren.“

    Es hatte ein bisschen gedauert, bis sie sich zu Avianus und seiner Begleiterin durchgeschlagen hatten, die schon einen Abend zuvor auf Seianas kleineres Landgut in der Nachbarschaft gekommen waren. Wie bei den anderen Gästen, die von Senecas Seite gekommen waren, wartete Seiana zunächst ab, bis sie Gelegenheit gehabt hatten sich auszutauschen. Als es dann um sie ging, spürte sie wie ihr tatsächlich ein wenig Wärme in die Wangen schoss – mit Komplimenten hatte sie noch nie sonderlich gut umgehen können, daran hatte sich wenig geändert, nur dass sie mittlerweile seit Jahren meistens einfach darüber hinweg ging, ohne zu reagieren. Heute allerdings, wo Seneca gar nicht aufzuhören schien damit, ihr irgendwelche Komplimente zu machen und die meisten Gäste auch noch darauf eingingen, fiel ihr das mit dem Ignorieren irgendwann nicht mehr ganz so leicht.
    „Es ist schön, dass ihr hier seid und mit uns feiert“, schloss sie sich Seneca an und lächelte den beiden zu. „Wenn du lieber etwas ganz anderes trinken möchtest, musst du es nur einem Bediensteten sagen. Es gibt auch einige Säfte zur Auswahl, diese nur nicht direkt auf die Tische gestellt worden.“ Auf den Tischen selbst waren zunächst nur Wein- und Wasserkrüge platziert worden, weil das vermutlich sowieso die Hauptgetränke sein würden, und weil es so zumindest für den Anfang einfacher war.


    Bei der Beschreibung des Geschenks, das die beiden ausgesucht hatten, breitete sich ein Lächeln über Seianas Gesicht aus. „Ein Lararium? Eigens für uns gefertigt?“ Unwillkürlich griff sie nach Senecas Hand, und ihr fiel auf, dass sie das bisher noch bei jedem Geschenk getan hatte, das auf sie beide zugeschnitten war. Sie konnte es immer noch nicht so recht fassen, bemerkte sie in diesem Augenblick, dass Seneca und sie jetzt tatsächlich... zusammen gehörten. Endgültig, und so offiziell, dass ihnen ihre Nichte ein Gedicht schrieb, und dass sie von Senecas Vetter und seiner Begleiterin ein Lararium für ihr gemeinsames Heim bekamen. „Vielen Dank. Das ist wirklich eine großartige Idee.“

    Vorsichtige Erleichterung machte sich in Seiana breit, als sie Avianus antworten hörte. Er machte ihr keine Vorwürfe, er wurde nicht laut, er bezichtigte sie nicht der Lüge. Avianus war, so weit sie ihn bisher kennen gelernt hatte, ein freundlicher und besonnener Mann – trotzdem, pessimistisch, wie sie manchmal war, hatte Seiana eine andere Reaktion befürchtet. Die schien allerdings auszubleiben. „Ich habe nichts von diesem Streit. Ich hatte noch nie etwas davon. Seit der Sache mit dem Aelius wollte ich eigentlich einfach nur nichts mehr mit ihnen zu tun haben, weder mit ihm, noch mit ihr“, erwiderte Seiana. Das konnte ihr nun wirklich keiner verdenken, nach den Monaten des Betrugs, der dieser ganzen Sache vorangegangen war, und all der Peinlichkeiten, die damit einher gegangen waren. Der Skandal auf der aurelischen Hochzeit. Das Essen beim Pompeius, lange bevor die Iunia auch nur daran gedacht hatte, diesen Mann zu heiraten... bei dem sie sich zum Aelius auf die Kline gekuschelt und sich an ihn geschmiegt hatte, vor Seianas Augen, nur um Seiana danach zu küssen. Die Auflösung der Verlobung, die Seiana gesellschaftlich erst mal ins Aus manövriert hatte. Die Querelen mit dem Aelius danach, mit denen er sie gepiesackt hatte... Nein. Keiner konnte ihr verdenken, dass sie nichts mehr mit den beiden hatte zu tun haben wollen, und wer das doch tat, war ihr herzlich egal. „In beruflicher Hinsicht habe ich dann auch diesen Wunsch zurückgestellt. Weil sie eine gute Mitarbeiterin war. Ich wollte sie in der Acta halten, unabhängig von dem, was zwischen uns persönlich passiert sein war.“ Warum die Iunia nach all den Jahren dann derart ausgeflippt war, kaum dass sie von Seneca gehört hatte, dass er sich mit ihr eingelassen hatte, war Seiana bis heute ein Rätsel. Dass es ihr nicht gefallen hatte, war verständlich. Auch dass sie es hatte beendet wissen wollen. Aber dass sie Seiana vorgeworfen hatte, ihren Mann mit zahlreichen anderen zu betrügen? Mit Seneca nur zu spielen, aus Langeweile? Es war ihr einfach schleierhaft, wie die Frau auf diese Idee gekommen war, noch dazu nach den zaghaften Annäherungen, die es in den Jahren davor zwischen ihnen gegeben hatte.


    Dass Avianus dann zu lachen anfing, als Seiana seine Hilfe ablehnte, war sie doch ein wenig irritiert... und dann, als er begann zu erklären, wich jede Gefühlsregung aus ihrer Miene. Ihre Maske, lange nicht mehr so perfekt wie früher noch, aber immer noch da, immer noch funktionsfähig, für Momente wie diesen, wenn sie sich nichts von dem anmerken lassen wollte, was in ihr vorging. Die Iunia glaubte also, sie wäre der Feind? Ein ums andere Mal fragte Seiana sich, woher diese Frau das bloß nahm. Sie hatte ihr nie etwas zuleide getan. Das einzige, was sie sich hatte zuschulden kommen lassen war, dass sie nach der Sache mit dem Aelius die Entschuldigung der Iunia nicht hatte annehmen wollen. Davon abgesehen hatte sie ihr nie auch nur ein Haar gekrümmt, sondern sie im Gegenteil sogar gefördert. Die Iunia hingegen hatte eine Verlobung und eine Ehe von Seiana zerstört. Wäre das ein Bestandteil olympischer Spiele und sie beide würden gegeneinander antreten, die Iunia würde um Längen voraus liegen. Aber so wie Avianus klang, schien ihr auch das noch nicht genug zu sein. Etwas unternehmen, hatte er gesagt, und Seiana wusste, was das hieß. Es gab nur eine einzige Sache, die die Iunia hätte unternehmen können. Und wenn sie das wirklich tat... nun. Dann konnte Seiana wohl nur hoffen, dass die meisten das als Gerücht abtun würden. „Ich heirate morgen einen Iunius. Ich habe vor, mit ihm eine Familie zu gründen. Unsere Kinder werden seinen Namen tragen. Ich bin ganz sicher kein Feind deiner Gens.“ Sie zögerte einen winzigen Moment, dann fügte sie hinzu: „Und ich werde auch ihr nicht schaden.“ Sie hatte bisher darauf verzichtet, irgendetwas gegen sie zu unternehmen, obwohl die Iunia ihre Drohung wahr gemacht hatte – um Senecas willen. Und Seneca war mehr denn je ein Grund dafür, einfach zu ignorieren, was womöglich kommen würde. Bei dem Gedanken daran wurde Seianas Miene ein wenig weicher, nicht viel, aber genug, dass ihre Maske wieder fiel. „Ich will, dass er glücklich ist. Als er mir einen Antrag gemacht hat, da... da habe ich ihn gefragt, ob er sich wirklich sicher ist. Ich habe ihm gesagt, dass er es wesentlich einfacher haben könnte, dass er eine Frau haben könnte, die deutlich jünger ist, und nicht vorbelastet mit alten Streitereien. Eine, mit der es unkompliziert wäre. Er hat mir nur gesagt, dass er es nicht einfach haben will. Sondern mich.“ Seiana wurde immer noch warm ums Herz, wenn sie daran dachte. „Ich werde nichts tun, was ihm weh tun könnte.“


    Bei seinen nächsten Worten atmete Seiana einmal kurz durch. Er fand es auch nicht gut, was passiert war. Natürlich nicht. „Ich habe Fehler gemacht, das weiß ich.“ Und dann sagte er, er könne es dennoch verstehen. „Tust du das?“ fragte sie nach, ein wenig bitter. Sie bezweifelte, dass er wirklich verstand. Sie dachte in diesem Moment gar nicht daran, dass er das Gefühl des Verliebtseins und Liebens meinen könnte, das einen zu solchen Dingen trieb. Sie dachte in diesem Moment daran, was sie dazu gebracht hatte, überhaupt schwach zu werden gegenüber Seneca... Was alles auf ihr gelastet hatte damals. Ihre Familie in Rom präsentieren zu müssen, als so ziemlich einzige der Decimi, in schwierigen und unruhigen Zeiten. Livianus in Tarraco, nachdem er im Senat vor allen Anwesenden den Vescularius angegriffen und ihm die Meinung gesagt hatte. Faustus als Tribun der Prätorianer auf irgendeiner Mission unterwegs, über die er ihr nichts hatte verraten dürfen. Die anderen Verwandten... irgendwo verstreut. Und in dieser Zeit Drohbriefe, die an ihrer Haustür abgeben worden waren. Zwei Hausdurchsuchungen der Prätorianer, die sie alleine hatte durchleben müssen, eine mit Livianus als Ziel, eine mit ihr und der Acta. Das Versprechen des damaligen Praefectus Praetorio, dafür zu sorgen, dass sie in der Arena landen würde, nur um ein Exempel im Sinne des Vescularius statuieren zu können, wenn sie ihm kein besseres Angebot machte... was letztlich damit geendet hatte, dass sie ihn geheiratet hatte. Konnte das überhaupt jemand verstehen, der nicht in der gleichen Situation gewesen war? Diesen unglaublichen Druck auf ihr, unter dem sie mehr als einmal fast zerbrochen wäre. Dieser fast wahnhafte Zwang arbeiten zu müssen, immer noch mehr, immer noch mehr, nur um die Grübeleien in Schach zu halten, die ihre Gedanken dann stets in eine rasende, endlose Abwärtsspirale gezwungen hatten. Und die Einsamkeit... wie furchtbar einsam sie sich gefühlt hatte, jahrelang. Und dann war da plötzlich Seneca gewesen. Mit seiner ruhigen, einfühlsamen Art. Seiner Unaufdringlichkeit. Seinem stillen Verstehen. Seiana war überzeugt, dass sie sich so oder so in ihn verliebt hätte. Aber verheiratet wie sie war, hätte sie damals nie etwas mit ihm angefangen, wenn es ihr nicht so schrecklich elend gegangen wäre.


    Ihre Gedanken hingen noch ein wenig in jener düsteren Phase ihres Lebens, als Avianus sie daraus heraus riss. Mit Worten, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagten. „Dem Mädchen?“ wisperte sie, und ihr Brustkorb schien sich für einen Moment zusammenzuziehen. In ihrem Kopf begann es zu rasen. Das Mädchen. Er konnte nur Silana meinen. Aber woher wusste er von ihr? Seneca musste es ihm erzählt haben, das war die einzige Möglichkeit. Er hatte es ihm erzählt. „Du... du weißt...“

    Seiana nickte auf sein Versprechen hin. So lange er das bei so wichtigen Sachen wirklich machen würde... Sie atmete tief durch, lächelte flüchtig, als seine Hand sich auf ihre legte, und zog sich schließlich ebenfalls einen Stuhl heran, um sich zu setzen. „Ich mich auch.“ Ihre Finger lösten sich von seiner Wange, schlossen sich aber um seine und hielten sie weiterhin. „Oh, was soll ich dazu nur sagen. Viel zu geräumig, so viel Platz brauchst du doch nie“, neckte sie ihn dann, aber in Wahrheit war sie jetzt, wo sie dazu kam sich damit zu beschäftigen, ein wenig bedrückt zu sehen, wie er hier lebte. Es hieß, dass es mit seiner Familie offenbar noch schlechter gelaufen war als sie befürchtet hatte. Sie wurde ernst. „So schlimm bei dir?“ Sie unterdrückte ein Seufzen. Immerhin sie hatte wenigstens teilweise erfreuliche Neuigkeiten. „Onkel Livianus hat sich sehr gefreut. Du bist Ritter, Tribun, ein Verwandter seines Klienten, dienst in seiner alten Einheit... hat er alles als Vorteile benannt. Und er will, dass ich zufrieden bin, sonst hätte er vermutlich schon längst versucht mich zu einer weiteren Heirat zu überreden.“ Jetzt kam sie zu den schlechten Neuigkeiten, und hier konnte sie ein Seufzen nicht mehr verhindern. „Mein Bruder dagegen... hat die Nachricht deutlich weniger gut aufgenommen.“

    Seiana lächelte, wenn auch ein wenig müde, als Vespa ihr gratulierte. „Vielen Dank“, erwiderte sie erst einmal, als die Aelia geendet hatte, und wenigstens für einen Moment wirkte sie auch beinahe so, wie eine glückliche Braut wirken sollte. „Sein Name ist Aulus Iunius Seneca, er ist Tribunus Angusticlavius bei der I. Mein Onkel hat sich gefreut darüber, auch weil er ein Verwandter eines seiner Klienten ist. Mein Bruder... dagegen weniger. Er ist nicht begeistert von meiner Wahl.“ Sie nahm den Becher mit verdünntem Wein an, den ein Sklave ihr nun reichte, machte aber keine Anstalten mit Vespa anzustoßen, und auch jener Moment, in dem sie einfach unbeschwert, zufrieden, ja: beinahe glücklich gewirkt hatte, war vorbei. Das Gespräch mit Faustus lag ihr noch zu sehr im Magen, insbesondere weil sie nun davon selbst angefangen hatte. „Aber vielen Dank für dein Angebot zu helfen. Die Hochzeit soll allerdings auf dem Landgut in den Albaner Bergen stattfinden, hatten Seneca und ich uns gedacht, und ich werde die Bediensteten dort beauftragen, sich um die Organisation zu kümmern. Es kommt also hoffentlich nicht dazu, dass ich dabei Hilfe benötige. Allerdings bräuchte ich eine Pronuba.“ Seiana musterte Vespa. „Ich weiß, du bist nicht in erster Ehe verheiratet, aber das wird auch nicht meine erste Ehe sein. Wir würden daher ohnehin auf die ein oder andere Tradition verzichten, vor allem weil wir eine etwas kleinere Feier möchten. Würdest du also meine Pronuba sein?“

    Seiana war angespannt – aber das ließ nach, Stück für Stück, je mehr die Miene ihres Onkels ein wohlwollendes Lächeln zu zeigen begann. Trotzdem verschwand nicht alles davon, als er dann sprach. „Ja...“, bestätigte sie auf die Fragen hin. Ein Iunier, und ein Tribun bei der I. Und dann sagte Livianus das, was sie hören wollte. Er hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, er freute sich. Seiana war so darauf getrimmt gewesen, dass sie mit Seneca nicht zusammen sein konnte, dass sie tatsächlich befürchtet hatte Livianus könnte wenigstens Zweifel äußern. Zu hören, dass es ganz und gar nicht so war, erleichterte sie ungemein. Seiana erwiderte sein Lächeln aufrichtig, und man konnte ihr ansehen, dass sie sich freute.


    Sie folgte seiner wortlosen Einladung, sich zu setzen, und ließ sich auf einem der Stühle nieder. „Nun...“, beschloss sie, zunächst mit dem schwierigen Teil zu beginnen. Aber es brachte nichts, ihrem Onkel etwas vorzumachen, er würde ohnehin mitbekommen, dass Faustus nicht begeistert sein würde. Mit ihm würde sie zwar erst später reden, aber als er bei ihr zu Besuch gewesen war in den Albaner Bergen, hatte er deutliche Worte über Seneca gefunden. „Ich fürchte, mein Bruder wird nicht so begeistert sein. Mit ihm muss ich noch reden, das wollte ich auch heute noch machen.“ Sie lehnte sich ein wenig zurück und schlug ein Bein über das andere, bevor sie nun auf Seneca selbst zu sprechen kam „Seneca und ich haben uns schon vor dem Bürgerkrieg kennen gelernt und seitdem losen Kontakt gehalten, seitdem. Er hat sich vom Soldaten zum Ritter hochgearbeitet, hat früher bei den Cohortes Praetoriae gedient und es dort bis zum Centurio geschafft. Dank seiner Leistungen, und der Fürsprache seines Patrons Duccius Vala, ist er in den Ritterstand erhoben worden.“

    Seiana öffnete leicht die Lippen, aber kein Ton kam darüber. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte darauf, dass er sie glücklich wissen wollte. Sie fühlte sich... geborgen. Das war es. Und es breitete sich aus. „Du musst keine Berge versetzen.“ Sie lächelte sacht, und jetzt löste sie sich von dem Tisch, an dem sie gelehnt hatte und kam zu ihm, wie er da saß. Sanft strich sie ihm über die Wange, mit den Fingerkuppen nur. „Ich meine, was ich gesagt habe. Es wird schon werden. Wir können endlich zusammen sein, zusammen leben, das ist doch das wichtigste.“ Ihre Hand an seiner Wange hörte mit der Bewegung auf, sackte ein wenig ab, ohne jedoch den Kontakt ganz zu verlieren. „Lass mich einfach... das nächste Mal nicht so... so unvorbereitet hinein laufen. Sag mir wenigstens, dass es eine Überraschung geben wird, auch wenn du mir nicht sagen kannst um was es geht“, bat sie. „Ich... komme mit solchen Überraschungen nicht so gut klar.“

    Sie waren eigentlich schon auf dem Weg zum nächsten Tisch, als Seneca plötzlich nach ihrer Hand griff und seinen Kurs abrupt änderte. „Was...“, begann sie eine Frage, dann sah sie, dass er auf einen weiteren Gast zusteuerte, der offenbar gerade erst gekommen war. Sie verstummte und wartete ab, während die Männer sich begrüßten, als sie dann aber hörte, wer er war, verzogen sich ihre Lippen zu einem ehrlichen Lächeln. Iulius Licinus. Von ihm hatte sie schon viel gehört. „Mir geht es ebenso, Praefectus. Mein Bruder hat viel von dir erzählt, er hält große Stücke auf dich. Es freut mich, dass es dir gelungen ist noch zu kommen.“

    Er nahm ihr Angebot an, nachdem sie beide sich gesetzt hatten, machte ihr das gleiche aber nicht im Gegenzug. Seiana wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte – ob er einfach nur nicht daran gedacht hatte, ob er es für selbstverständlich hielt, oder ob tatsächlich das dahinter steckte, was sie insgeheim fürchtete: dass er ihr die etwas vertrautere Anrede einfach nicht anbieten wollte. Aber warum hätte er sie dann Seiana nennen sollen?
    Nicht zum ersten Mal haderte sie damit, dass sie, sobald es ums Zwischenmenschliche ging, so unfähig war. Sie war eine Ritterin des Imperiums. Sie hatte jahrelang die Acta geleitet und die Schola. Sie hatte schon vor dem Senat gestanden, als eine von wenigen Frauen überhaupt, als einzige seit vielen Jahren, und natürlich war sie aufgeregt gewesen, aber das hatte ihr letztlich keine übermäßigen Probleme bereitet. Aber wenn es darum ging, sich auf ein Gespräch einzulassen, in dem es darum ging sich zu öffnen, einem anderen Menschen näher zu kommen...
    Sie bemühte sich um ein Lächeln, als Avianus auf das Stück Papyrus Bezug nahm. „Nun ja, ich bin zu alt, um noch irgendwelche Kindersachen zu haben, die ich opfern könnte, und außerdem war ich schon mal verheiratet. Ich musste also etwas anderes finden als Symbol.“


    Seneca sei glücklich, so wie nie zuvor, hörte Seiana dann, und erneut glitt ein Lächeln über ihr Gesicht, diesmal unwillkürlich und komplett ehrlich. Er war glücklich, mit ihr. Die Götter mochten wissen warum, aber sie konnte gar nicht ausdrücken, wie dankbar sie dafür war. Das Lächeln verging ihr allerdings schon im nächsten Moment wieder, als Avianus weiter sprach, und diesmal mit etwas aufwartete, was einen harten, kalten Klumpen in ihrem Magen entstehen ließ. Ein Teil von ihr ahnte schon, woher der Wind wehte, und der Name von Senecas Cousine bestätigte ihr Gefühl. Konnte diese Frau sie nicht einfach endlich in Ruhe lassen? Seiana konnte sich nicht erklären, woher dieser Hass auf sie kam. Sie hätte allen Grund gehabt, die Iunia zu hassen, und eine ganze Zeitlang hatte sie das auch getan, in jener Zeit, nachdem Aelius Archias sie – nach Jahren der Verlobung, in denen sie auf ihn gewartet hatte, wohl wissend, dass sie nicht jünger wurde – sitzen gelassen hatte. Wegen der Iunia. Und das auch nicht einfach so, sondern nachdem er sie monatelang mit ihr betrogen hatte, und nachdem er sie alle blamiert hatte, indem er bei der Hochzeit von Aurelius Ursus eine üble Szene gemacht hatte, weil er der Meinung gewesen war, dass die Iunia und Duccius Vala sich zu nahe standen. Sie hatte allen Grund gehabt, sowohl den Aelius als auch die Iunia zu hassen, und sie hatte mit beiden einfach nichts mehr zu tun haben wollen. Trotzdem hatte sich das im Lauf der Jahre gelegt, und das nicht einfach nur so, sondern weil Seiana aktiv daran gearbeitet hatte, weil sie über ihren eigenen Schatten gesprungen war, und das mehr als nur einmal. Sie hatte die Iunia von einer freien Mitarbeiterin für die Acta, die ab und zu einen Artikel geschrieben hatte, zur Subauctrix befördert. Sie war zwar auch danach kühl gewesen gegenüber dieser Frau, aber das war Seiana gegenüber jedem. Sie hatte nicht umsonst den Ruf eines unnahbaren Eisklotzes gehabt in der Acta, oder auch in der Schola. Wichtig war: sie hatte sich auch stets professionell und fair gegenüber allen verhalten, einschließlich der Iunia – hatte bei ihr sogar in gesondertem Maß darauf geachtet, damit nichts die berufliche Zusammenarbeit beeinflusste, und, ja, auch damit ihr keine Vorwürfe gemacht werden konnten. Und dann hat sie die Iunia sogar zur Lectrix befördert, den dritthöchsten Posten, den die Acta bieten gehabt hatte. Eine Zeitlang hatte sie danach geglaubt, dass sie die Vergangenheit tatsächlich einfach ruhen lassen könnten... die Iunia hatte ihr einen Sklaven aus der Erbschaft des Aeliers gebracht, und an jenem Tag hatten sie über ein paar Höflichkeiten oder Arbeitsrelevantes hinaus freundliche Worte miteinander gewechselt. Sie hatte sogar ihrem Bruder vorgeschlagen, diese Frau zu ehelichen.
    Ja, Seiana hatte tatsächlich geglaubt, die Vergangenheit sei damit abgeschlossen, selbst als ihr Bruder ihr Ansinnen abgelehnt hatte, unter anderem weil er herausgefunden hatte, dass die Iunia die Nichte einer Bordellbesitzerin war, bei der sie in Aegyptus gelebt hatte. Aber dann hatte Seneca seiner Cousine von Seiana erzählt – und die Iunia war wie eine Furie auf sie losgegangen. Hatte ihr vorgeworfen, zig Affären zu haben, hatte ihr vorgeworfen mit Seneca zu spielen, hatte ihr gedroht für den Fall, dass sie das nicht beendete. Und das alles, bevor Seiana mehr geäußert hatte als Guten Tag und die Frage danach, was die Iunia von ihr wollte. Natürlich hatte die Sache nicht vereinfacht, dass Seiana sich verraten gefühlt hatte von Seneca in jenem Moment, als ihr im pompeischen Atrium klar geworden war, dass er trotz des Risikos insbesondere für sie jemandem von ihr erzählt hatte, noch dazu ihren Namen genannt hatte – aber was hatte die Iunia bitte erwartet, wie sie reagieren würde, nachdem sie sie derart angefahren hatte? Und dann, nach Seianas Antwort, die natürlich nicht freundlich ausgefallen war, hatte sie sie geschlagen.


    Seiana fiel auf, dass sie schon eine Weile nichts gesagt hatte, dass Avianus immer noch auf eine Antwort wartete. Sie räusperte sich. „Damit du das verstehen kannst, komme ich wahrscheinlich nicht umhin ein wenig von dem zu erzählen, was vorgefallen ist.“ Sie schwankte. Sie wollte das nicht. Sie wollte eigentlich nicht darüber reden, wollte Avianus nichts davon zu erzählen, weil es alten Groll und Schmerz aufwirbelte und weil es bedeutete, dass sie sich öffnen musste. Aber er wusste ohnehin schon zu viel. Und über allem stand das Wissen, wie viel er Seneca bedeutete. Sie hatte ja sogar versucht auch mit der Iunia noch einmal zu reden, trotz der Vorgeschichte. Für Seneca. Sie hatte es in der Acta versucht und dann bei ihr daheim, und war von deren Mann zum Essen eingeladen worden – und dann hatte man sie erneut gedemütigt. Man hatte sie eine halbe Ewigkeit warten lassen, bevor man sie mit einer fadenscheinigen Ausrede wieder davon geschickt hatte. Sie hoffte nur, bei Avianus würde es anders laufen. „Ich... ich bin kein einfacher Mensch. Ich bin nicht das, was man sonderlich zugänglich nennen könnte, das ist mir bewusst, selbst in Situationen, in denen ich mich anders verhalten will, fällt mir das nicht leicht. Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht wirklich, was Seneca in mir sieht...“ Ihre Stimme verlor sich, als ihr bewusst wurde, dass sie sich verzettelte. Seiana räusperte sich ein weiteres Mal. „Deine Cousine und ich haben eine Geschichte, die schon lange zurückreicht. Sie hat vor Jahren eine Affäre mit meinem ersten Verlobten begonnen, und hat ihn dazu gebracht, sie zu heiraten anstatt mich. Unser Verhältnis danach war... nicht-existent. Ich wollte weder mit ihr noch mit dem Aelius auch nur das geringste zu tun haben, und ich habe beide abblitzen lassen, als sie kamen um sich zu entschuldigen. Ich wollte nichts hören, damals. Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, von beiden. Trotzdem habe ich mich in der Acta, wo deine Cousine und ich zuammen gearbeitet haben, immer professionell verhalten. Als ich vom Senat zur Auctrix ernannt wurde, habe ich sie von einer freien Mitarbeiterin zur Subauctrix und später zur Lectrix befördert. Das alles ist passiert, nachdem das mit dem Aelius war. Ich wollte nie eine persönliche Beziehung zu ihr, aber ich war professionell, neutral und fair ihr gegenüber. Dann hat Seneca ihr von uns erzählt, und dabei auch leider meinen Namen genannt. Sie hat mich zu sich eingeladen, und mich angefahren. Mir unterstellt, ich würde meinen Mann mit zig anderen betrügen, mit Seneca nur spielen, und dass ich es bereuen würde, wenn ich das mit ihm nicht beenden würde.“ Sie stockte kurz. Schon die eine ganze Zeit lang während ihrer Erzählung hatte sie Avianus nicht mehr wirklich angesehen. „Daraufhin habe ich beschlossen, nichts vor ihr zuzugeben. So wie sie mich angegangen ist, hatte ich die Befürchtung, dass sie nur darauf gelauert hat – dass ich es zugebe, und sie später sagen kann ich hätte es vor ihr gestanden, und wer weiß wem noch, der gleichzeitig zugehört hätte, immerhin waren wir im Haus ihres Mannes. Und dann, ja, habe ich umgekehrt ihr gedroht, dass sie es bereuen würde, wenn sie auch nur irgendetwas über Seneca und mich verrät. Nur für diesen Fall. Sie hat schon einmal mein gesellschaftliches Leben zerstört, ich wollte verhindern, dass sie das noch mal tut. Im Gegenzug hat sie mich geschlagen.“ Seiana lachte bitter auf. „Und letztlich hat sich herausgestellt, dass meine Drohung nur eine leere war, während sie die ihre wahr gemacht hat. Sie hat es meinem damaligen Mann verraten. Ich habe keine Beweise dafür, aber er sagte mir damals, dass es ihm eine Frau erzählt hätte. Und sie ist die einzige, die dafür in Frage kommt.“ Natürlich hatte es negatives Gerede über sie gegeben, aber so kühl und unnahbar wie sie sich stets gegeben hatte, so sehr darauf bedacht jeder unnötigen Bewegung aus dem Weg zu gehen, war nie jemand auf die Idee gekommen, ausgerechnet ihr eine Affäre anzuhängen. Die Iunia dagegen... sie hatte Seiana genau das angedroht. Sie hatte von der Affäre gewusst, sie hatte ein Motiv gehabt, und eine Gelegenheit zu finden es ihrem ehemaligen Mann zu verraten, war sicher nicht schwer gewesen.
    Und dennoch... hatte Seiana selbst danach ihre Drohung nicht wahr gemacht. Nie. Sie hatte es nicht einmal versucht. Sie hatte an Seneca gedacht, und hatte es geschluckt. „Aber obwohl ich davon überzeugt bin, habe ich selbst danach nichts gegen sie unternommen. Ich habe sie sogar weiterhin bei der Acta behalten, habe sie nicht einmal degradiert. Weil ich Seneca liebe. Er war und ist mir wichtiger, als jeder Groll, den ich gegen seine Cousine hegen mag.“ Seiana holte tief Luft. „Trotzdem möchte ich mit ihr nichts mehr zu tun haben. Nach allem, was passiert ist, nachdem sie mich bedroht, mich geschlagen und mich bei meinem Mann verraten hat, der mich hätte umbringen können dafür, und ohne Rücksicht darauf, dass er womöglich Seneca verdächtigt“ – was er nie getan hatte, ganz im Gegenteil war er sogar mit dem Bewusstsein aus Rom fortgegangen, dass er ihren Liebhaber erwischt hatte, und sie vermutlich deshalb am Leben gelassen, weil mit dem Schmerz darüber zu leben in seinen Augen eine weit größere Strafe war als der Tod – „und auch ihn tötet, will ich diese Frau nicht mehr sehen. Ich werde Seneca nie davon abhalten, wenn er sie besuchen oder sonstwie Kontakt möchte, aber wenn, muss er das ohne mich tun. Das weiß er. Insofern... hab Dank für dein Angebot zu helfen, aber ich werde es nicht annehmen.“ Dafür war inzwischen viel zu viel Wasser den Tiber hinunter geflossen, als dass Seiana sich noch in der Lage gesehen hätte, ein weiteres Mal einen Schritt auf die Iunia zuzugehen. Abgesehen davon, dass sie es selbst nach dem Schlag noch versucht hatte, nur um sich eine weitere Demütigung einzufangen, abgesehen davon, dass sie überzeugt war, dass es nur wieder genauso laufen würde, dass nur eine weitere Demütigung gleich welcher Art lauern würde – die Iunia hatte sie an ihren Mann verraten, in dem Wissen, dass dieser sie töten konnte, und, wie Seiana überzeugt war, mit der vollen Absicht, dass genau das geschehen würde. Und keiner konnte sie zwingen, noch einmal mit einer Frau ein Wort zu wechseln, die versucht hatte sie umzubringen.

    „Du kannst ja noch ein paar Tage länger hier bleiben, wenn du möchtest. Heute Nacht werden sowieso einige Gäste bleiben, aber wenn es dir gefällt, dann verbring mehr Zeit hier. Gerade diese Jahreszeit ist hier wesentlich leichter auszuhalten als in Rom“, lächelte Seiana ihre Nichte an. Einen Moment lang überlegte sie, ihr eine Hand auf den Arm zu legen oder ähnliches, als diese kurz traurig wirkte... aber sie ließ es bleiben, wie stets eher abgeneigt vor zu viel körperlichem Kontakt, weil sie sich meistens unbeholfen fühlte in solchen Situationen. Es gab nur wenige, mit denen sie vertraut genug war, dass eine Berührung über das übliche Begrüßen hinaus für sie selbstverständlich war. So lächelte sie sie nur einen weiteren Augenblick an, ein wenig mitfühlend, und nickte dann, als Camelia davon sprach, dass sie zu anderen Gästen müssten. Da hatte sie recht... die Runde hatte erst ihren Anfang genommen. „Vielen Dank noch einmal für dein wunderbares Geschenk, Camelia. Wir haben später sicher noch Gelegenheit mehr miteinander zu reden, wenn du möchtest, kannst du dich einfach zu uns setzen, so bald wir unsere Runde gemacht haben“, bot sie noch an.

    Einige Gäste hatten sie bereits persönlich begrüßt, aber es waren nur wenige gewesen, bis sie zu diesen kamen: Senecas Patron und seine Gattin. So klein die Feier – verhältnismäßig jedenfalls, wenn man sie mit anderen Feiern ihres gesellschaftlichen Stands verglich – auch sein mochte, und so gemütlich sie sein sollte, gab es dann doch ein paar Dinge, auf die man zu achten hatte. Dazu gehörte, den Patron des Bräutigams nicht warten zu lassen.
    „Tiberia Lucia, Duccius Vala... ich freue mich sehr, dass ihr es geschafft habt Rom hinter euch zu lassen und heute hier mit uns zu feiern.“ Seiana war sich augenblicklich nicht wirklich sicher, ob diese beiden hier übernachten würden oder nicht – angeboten hatten sie es allen Gästen, entweder das oder im Zweifel eine anderweitige Übernachtungsmöglichkeit in der näheren Umgebung zu organisieren. Dennoch gab es freilich Gäste, die es vorgezogen hatten auf dieses Angebot zu verzichten, und dass sie nicht wusste, wer das war, irritierte sie für einen winzigen Moment. Normalerweise wusste sie solche Dinge... aber sie hatte ja bewusst versucht, sich von der Organisation fernzuhalten, sich zumindest diesen Stress nicht anzutun, wo es sowieso schon genug gab, was nicht allzu optimal lief. „Ich hoffe ihr habt eine schöne Zeit hier in den Albaner Bergen.“

    So wie Avianus aussah, hatte er noch nichts von der möglichen Versetzung gewusst. Seiana sah kurz zu Boden und gab erst mal den beiden die Gelegenheit, kurz über das Thema zu sprechen – noch stand ja nichts fest, aber trotzdem war die Situation für einen kurzen Moment etwas merkwürdig. Das hieß, merkwürdiger als sie sowieso schon war. Sie konnte nachvollziehen, wie Avianus sich gerade fühlen musste... sowohl was die Überraschung anging, weil sie das gleiche erlebt hatte, als auch was das Gefühl anging, einen Vertrauten bald ziehen lassen zu müssen. Sie hatte das oft genug mit ihrem Bruder erlebt, und mit Seneca. Es war nie so ganz einfach, wenn der Großteil der männlichen Bekanntschaft im Militär diente.
    Als Avianus sich wieder an sie richtete, erwiderte Seiana seinen Blick. „Ja“, antwortete sie schlicht. „Mir graut es zwar ein bisschen vor den Wintern... ich stamme ja auch aus Hispania, und hier in Italien ist es auch nicht gerade kalt“, lächelte sie, „aber: ja. Selbstverständlich werde ich ihn begleiten.“ Unabhängig davon, was der Duccius ihr angeboten hatte, aber das wollte sie Avianus dann auch nicht vorenthalten: „Langweilig dürfte mir jedenfalls nicht werden. Duccius hat mir angeboten, Kultur und Bildung in der Region ein wenig voran zu treiben.“