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Sie fiel auf die Knie, und ihr Körper wurde geschüttelt von den Würgkrämpfen, so heftig waren sie. Álvaro brauchte einen winzigen Moment, um seine Überraschung zu überwinden, dann war er mit einem Sprung an ihrer Seite. Legte den Arm um ihre für ihr sonst so sicheres Auftreten verblüffend schmalen Schultern. Strich ihr die Haare aus dem Gesicht und hielt ihren Kopf, während sie weiter würgte und alles erbrach, was in ihrem Magen war, bis nur noch Galle hochkam – und selbst dann hörte ihr Körper noch nicht auf zu rebellieren, nicht nur gegen den Alkohol, sondern ganz allgemein gegen das, was sie ihm in den letzten Tagen zugemutet hatte.
Als der Würgreiz endlich nachließ, sackte die Decima komplett in sich zusammen und wäre wohl zur Seite gekippt, wenn Álvaro sie nicht gehalten hätte. Stattdessen sackte sie also gegen seine Brust… und begann zu weinen. Zu weinen, wie er noch nie einen Menschen zuvor weinen gehört hatte, so einsam, so verzweifelt, dass es unmöglich vom Alkohol kommen konnte. Der war vielleicht das gewesen, was auch die letzte Barriere weggefegt hatte… aber keinesfalls der Auslöser. Nicht für das hier. Und in diesem Augenblick, als er das herzzerreißende Schluchzen seiner Herrin hörte und ihr Körper unter seinen Händen schon wieder von Krämpfen, diesmal Heulkrämpfen, geschüttelt wurde, begann Álvaro zum ersten Mal, seit er in Rom angekommen war, zu begreifen, dass seine Schwester Recht gehabt hatte. Die Decima brauchte jemanden. Jemand, der für sie da war. Auch wenn das verdammt schwer war, weil sie niemanden an sich heranließ… wenn sie nicht gerade wie jetzt sämtliche ihrer Schutzmauern selbst weggerissen hatte.
Álvaro wartete… ignorierte dabei das Erbrochene neben ihnen, ignorierte Feuchtigkeit, die sich auf seiner Kleidung ausbreitete, wo die Decima in den Stoff hinein heulte, und ignorierte erneut diese leise Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass ihn das hier eigentlich nichts anging. Kein Wort kam dabei über seine Lippen. Er hielt sie einfach nur in den Armen und wartete, bis das Schluchzen irgendwann nachließ. Auch dann sagte er allerdings nichts. Er stand nur auf und nahm sie noch in derselben flüssigen Bewegung auf seine Arme, um sie anschließend aus dem Atrium hinaus zu tragen.
Sein erstes Ziel war das Balneum, und dort, den Göttern sei Dank, war jemand. Im Atrium hatte sich kein Sklave offen blicken lassen – was nicht hieß, dass keiner dort gewesen war, darüber war sich Álvaro im Klaren. Er war sich ziemlich sicher, dass der ein oder andere einen Blick riskiert hatte, aber zu helfen hatte da keiner für nötig gehalten… Nysa, die Haushälterin jedoch hatte die Zeit offenbar genutzt, das Balneum entsprechend vorzubereiten. Das Bad selbst war nicht gefüllt, aber der Raum war warm, und sie hatte eine große Schale warmen Wassers vorbereitet sowie eine Liege, auf der Álvaro die Decima nun ablegte, die mittlerweile keinen Laut mehr von sich gab, sondern nur teilnahmslos vor sich hinstarrte… so teilnahmslos, das er sich fast schon wieder Sorgen machte.
„Danke“, murmelte er Nysa zu. „Bisher war noch keiner da, um zu helfen…“
Nysa deutete ein Kopfschütteln an. „Ich hab alle fortgeschickt. Hat dir eh keiner helfen können da… und wer nichts tun kann, muss auch nicht da stehen und gaffen.“
Ein wenig überrascht musterte Álvaro sie kurz, überrascht deshalb, weil sie tatsächlich so weit mitgedacht hatte. Dann nickte er nur und trat von der Liege ein wenig zurück, und Nysa übernahm das weitere Kommando. Er half ihr, die Decima auszuziehen, aber als sie begann, ihre Herrin mit einem weichen Schwamm zu waschen, stand er etwas hilflos daneben. „Los, geh dir auch was anderes anziehen“, meinte sie nach einem Moment – und einem kurzen Blick auf seine Kleidung, die durchaus den ein oder anderen Spritzer abbekommen hatte. Und Álvaro gehorchte.
Als er wieder kam, war Nysa beinahe fertig. Die Decima trug jetzt wieder eine Tunika, eine leichte, die zum Schlafen geeignet war – und lag, wie Álvaro besorgt feststellte, immer noch teilnahmslos da. Nysa indes achtete darauf nicht, oder wenn sie es tat und sie sich auch Gedanken machte, dann ließ sie sich nichts anmerken. „Bring sie in ihr Zimmer, damit sie ihren Rausch ausschlafen kann.“
Álvaro nickte nur, hob die Decima wieder hoch und trug sie wie geheißen in das Cubiculum, das sie hier bezogen hatte. Behutsam legte er sie dort in ihr Bett und deckte sie zu, und für einen Moment blieb er dann neben ihr stehen, unschlüssig, was er tun sollte. Sie rührte sich immer noch nicht. Starrte immer noch blicklos ins Leere. Endlose Momente blieb Álvaro so stehen, und dann, schließlich, als sich nichts änderte, wandte er sich ab, um zu gehen. Und blieb nach nur einem Schritt schon wieder stehen und drehte sich um, weil er die Decima etwas murmeln gehört hatte. „Herrin?“ fragte er nach, nicht ganz sicher ob es nur Einbildung gewesen war – aber beim Klang seiner Stimme bewegte sie sich nun endlich wieder aus eigenem Antrieb, drehte den Kopf und sah ihn an, aus Augen, die wieder feucht waren. „Lass mich nich allein“, wisperte sie. Das anschließende „Bitte“ hätte es gar nicht mehr gebraucht, um deutlich zu machen, dass das kein Befehl war. Und diesmal zögerte Álvaro nur einen winzigen Augenblick, bevor er sich zu ihr setzte, sich ans Kopfteil des Betts lehnte und seinen Arm hinter ihrem Kopf ablegte, so dass seine Hand auf ihrer anderen Schulter zu ruhen kam. Einen Moment lang rührte sich die Decima nicht… dann drehte sie sich, wandte sich ihm zu, legte ihre Stirn an seine Seite, so dass ihr Kopf unter seinem Arm geborgen war, und zog die Knie an ihren Körper. Ihre linke Hand krallte sich in den Stoff über seinem Bauch, und Álvaro fühlte sich beinahe an den verzweifelten Griff eines Ertrinkenden erinnert, der sich an einen letzten Strohhalm klammert. Und so blieb sie liegen, bis ihr Atem irgendwann verriet, dass sie eingeschlafen war.
CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA