Beiträge von Decima Seiana

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    Sie fiel auf die Knie, und ihr Körper wurde geschüttelt von den Würgkrämpfen, so heftig waren sie. Álvaro brauchte einen winzigen Moment, um seine Überraschung zu überwinden, dann war er mit einem Sprung an ihrer Seite. Legte den Arm um ihre für ihr sonst so sicheres Auftreten verblüffend schmalen Schultern. Strich ihr die Haare aus dem Gesicht und hielt ihren Kopf, während sie weiter würgte und alles erbrach, was in ihrem Magen war, bis nur noch Galle hochkam – und selbst dann hörte ihr Körper noch nicht auf zu rebellieren, nicht nur gegen den Alkohol, sondern ganz allgemein gegen das, was sie ihm in den letzten Tagen zugemutet hatte.
    Als der Würgreiz endlich nachließ, sackte die Decima komplett in sich zusammen und wäre wohl zur Seite gekippt, wenn Álvaro sie nicht gehalten hätte. Stattdessen sackte sie also gegen seine Brust… und begann zu weinen. Zu weinen, wie er noch nie einen Menschen zuvor weinen gehört hatte, so einsam, so verzweifelt, dass es unmöglich vom Alkohol kommen konnte. Der war vielleicht das gewesen, was auch die letzte Barriere weggefegt hatte… aber keinesfalls der Auslöser. Nicht für das hier. Und in diesem Augenblick, als er das herzzerreißende Schluchzen seiner Herrin hörte und ihr Körper unter seinen Händen schon wieder von Krämpfen, diesmal Heulkrämpfen, geschüttelt wurde, begann Álvaro zum ersten Mal, seit er in Rom angekommen war, zu begreifen, dass seine Schwester Recht gehabt hatte. Die Decima brauchte jemanden. Jemand, der für sie da war. Auch wenn das verdammt schwer war, weil sie niemanden an sich heranließ… wenn sie nicht gerade wie jetzt sämtliche ihrer Schutzmauern selbst weggerissen hatte.


    Álvaro wartete… ignorierte dabei das Erbrochene neben ihnen, ignorierte Feuchtigkeit, die sich auf seiner Kleidung ausbreitete, wo die Decima in den Stoff hinein heulte, und ignorierte erneut diese leise Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass ihn das hier eigentlich nichts anging. Kein Wort kam dabei über seine Lippen. Er hielt sie einfach nur in den Armen und wartete, bis das Schluchzen irgendwann nachließ. Auch dann sagte er allerdings nichts. Er stand nur auf und nahm sie noch in derselben flüssigen Bewegung auf seine Arme, um sie anschließend aus dem Atrium hinaus zu tragen.
    Sein erstes Ziel war das Balneum, und dort, den Göttern sei Dank, war jemand. Im Atrium hatte sich kein Sklave offen blicken lassen – was nicht hieß, dass keiner dort gewesen war, darüber war sich Álvaro im Klaren. Er war sich ziemlich sicher, dass der ein oder andere einen Blick riskiert hatte, aber zu helfen hatte da keiner für nötig gehalten… Nysa, die Haushälterin jedoch hatte die Zeit offenbar genutzt, das Balneum entsprechend vorzubereiten. Das Bad selbst war nicht gefüllt, aber der Raum war warm, und sie hatte eine große Schale warmen Wassers vorbereitet sowie eine Liege, auf der Álvaro die Decima nun ablegte, die mittlerweile keinen Laut mehr von sich gab, sondern nur teilnahmslos vor sich hinstarrte… so teilnahmslos, das er sich fast schon wieder Sorgen machte.
    „Danke“, murmelte er Nysa zu. „Bisher war noch keiner da, um zu helfen…“
    Nysa deutete ein Kopfschütteln an. „Ich hab alle fortgeschickt. Hat dir eh keiner helfen können da… und wer nichts tun kann, muss auch nicht da stehen und gaffen.“
    Ein wenig überrascht musterte Álvaro sie kurz, überrascht deshalb, weil sie tatsächlich so weit mitgedacht hatte. Dann nickte er nur und trat von der Liege ein wenig zurück, und Nysa übernahm das weitere Kommando. Er half ihr, die Decima auszuziehen, aber als sie begann, ihre Herrin mit einem weichen Schwamm zu waschen, stand er etwas hilflos daneben. „Los, geh dir auch was anderes anziehen“, meinte sie nach einem Moment – und einem kurzen Blick auf seine Kleidung, die durchaus den ein oder anderen Spritzer abbekommen hatte. Und Álvaro gehorchte.
    Als er wieder kam, war Nysa beinahe fertig. Die Decima trug jetzt wieder eine Tunika, eine leichte, die zum Schlafen geeignet war – und lag, wie Álvaro besorgt feststellte, immer noch teilnahmslos da. Nysa indes achtete darauf nicht, oder wenn sie es tat und sie sich auch Gedanken machte, dann ließ sie sich nichts anmerken. „Bring sie in ihr Zimmer, damit sie ihren Rausch ausschlafen kann.“
    Álvaro nickte nur, hob die Decima wieder hoch und trug sie wie geheißen in das Cubiculum, das sie hier bezogen hatte. Behutsam legte er sie dort in ihr Bett und deckte sie zu, und für einen Moment blieb er dann neben ihr stehen, unschlüssig, was er tun sollte. Sie rührte sich immer noch nicht. Starrte immer noch blicklos ins Leere. Endlose Momente blieb Álvaro so stehen, und dann, schließlich, als sich nichts änderte, wandte er sich ab, um zu gehen. Und blieb nach nur einem Schritt schon wieder stehen und drehte sich um, weil er die Decima etwas murmeln gehört hatte. „Herrin?“ fragte er nach, nicht ganz sicher ob es nur Einbildung gewesen war – aber beim Klang seiner Stimme bewegte sie sich nun endlich wieder aus eigenem Antrieb, drehte den Kopf und sah ihn an, aus Augen, die wieder feucht waren. „Lass mich nich allein“, wisperte sie. Das anschließende „Bitte“ hätte es gar nicht mehr gebraucht, um deutlich zu machen, dass das kein Befehl war. Und diesmal zögerte Álvaro nur einen winzigen Augenblick, bevor er sich zu ihr setzte, sich ans Kopfteil des Betts lehnte und seinen Arm hinter ihrem Kopf ablegte, so dass seine Hand auf ihrer anderen Schulter zu ruhen kam. Einen Moment lang rührte sich die Decima nicht… dann drehte sie sich, wandte sich ihm zu, legte ihre Stirn an seine Seite, so dass ihr Kopf unter seinem Arm geborgen war, und zog die Knie an ihren Körper. Ihre linke Hand krallte sich in den Stoff über seinem Bauch, und Álvaro fühlte sich beinahe an den verzweifelten Griff eines Ertrinkenden erinnert, der sich an einen letzten Strohhalm klammert. Und so blieb sie liegen, bis ihr Atem irgendwann verriet, dass sie eingeschlafen war.





    CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA

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    Álvaro war mehr als nur peinlich berührt von der Szene, die sich da abspielte. Und er war schon drauf und dran, sich wieder abzuwenden. Es ging ihn nichts an. Er war ihr Leibwächter, nicht mehr und nicht weniger. Es war seine Aufgabe, die Decima vor Feinden zu beschützen – nicht vor sich selbst. Und erst recht nicht ihr Kindermädchen zu spielen. Nur… da war seine Schwester. Pass auf sie auf, hatte Elena gesagt, und es war klar gewesen, dass sie mehr meinte als nur aufzupassen wie ein Leibwächter es tat. Und er hatte es ihr versprochen. Álvaro schloss kurz die Augen – dann gab er sich einen Ruck. Und trat vollends in das Atrium hinein. Als der Sklave bei der Decima ihn sah, warf er ihm einen flehenden Blick zu… den Álvaro mit einem Nicken beantwortete, während er näher kam. Erleichterung breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er die Decima so herum bugsierte, dass sie nun ihren Leibwächter ansah. Und dann war er auch schon verschwunden. Álvaro hätte am liebsten das Gesicht verzogen – er hatte vorgehabt zu helfen, nicht das Drama hier ganz alleine zu bestreiten, aber jetzt war es zu spät. Seine Miene jedenfalls blieb ruhig, während er endgültig zu der Betrunkenen trat. „Herrin…“
    „Wass?“ ranzte sie ihn aufgebracht an. „Du wills mich doch auch nua… nur… fesshaltn.“
    Als er hörte wie stark sie schon lallte, merkte wie unsicher ihre Bewegungen bereits waren, und ihren weingeschwängerten Atem roch, verzog Álvaro nun doch beinahe unmerklich das Gesicht. „Du wirst hier nicht festgehalten, Herrin“, versuchte er es zunächst mit Reden, wie bei Bran schon angekündigt. Auch wenn er wenig Hoffnung hatte, dass das funktionieren würde.
    „Ha haaA“, machte sie, und am Schluss wurde ihre Stimme schrill und überschlug sich fast. „Naü.. na.. nadürlich werdch dass! Das… hia… chwär doch nie freiwillch herekommn.“ Sie entdeckte den Weinbecher in ihrer Hand und setzte ihn an die Lippen, und bevor Álvaro sie daran hindern konnte, hatte sie ihn geleert. Rechts und links ihres Mundes rannen zwei dünne, rote Fäden Wein ihre Wangen hinab, und enttäuscht besah sie sich den nun leeren Becher. Dann streckte sie den Arm aus, nicht zu Álvaro, sondern ins Atrium hinein, und verlangte fordernd: „MEA!“ Dass niemand da war, der darauf hätte reagieren können – niemand außer Álvaro, aber den sprach sie offenkundig nicht an –, schien sie gar nicht zu bemerken. Und der Iberer überwand nun auch die letzte Distanz zwischen ihnen und drückte ihren Arm leicht hinunter, bevor er ihr den Becher entwand. Oder besser, zu entwinden versuchte, denn die Decima wollte ihn nicht loslassen. „Was? Ne. Neeeenenehehehe. Neiin, lass das, ssmains!“ Sie griff sogar mit beiden Händen nach dem Becher, und so gab er es für den Moment auf. War ohnehin niemand da, der ihrem Wunsch nachgekommen wäre. „Herrin… warum gehst du nicht in dein Cubiculum? Ruh dich aus. Du-“
    „Ich WILL nich aussrun! Ich will wech, ch will… will.. rausss!“
    „Morgen ist doch si-“
    „Sscchhwwwwachsinn morgn! Morgn nich, übamorgn nich, un am Tag danach au nich! Dassss… is so… UNGERECH! Warum hallet ihr mich alle fes?“ lamentierte sie. „Ihr ssseid MAIINNE Sklafn, ihr müsse.. müs.. müssdet tun was iiich sag!“
    „Herrin, wir sind hier zu deinem Schutz.“
    „Schwahsinn!“ tönte es erneut von ihr. „Wir sin hia wegn IHM. Wail er unnns her… her…“ Sie hickste, ohne den Satz zu beenden, aber es war auch so klar, was sie meinte. Und wen. Selbst wenn es nicht durch die bisherigen Geschehnisse klar gewesen wäre: mit er war in der Regel immer der Terentius gemeint. Er war ihr Mann, und deshalb wollte sie ihn wohl verständlicherweise weder mit seinem Gensnamen noch seinem Posten bezeichnen, wenn sie von ihm sprach… aber augenscheinlich tat sie sich immer noch schwer damit, den vertraulicheren Cognomen zu nutzen… oder gar den sehr vertraulichen Praenomen, wie sie es tat, wenn sie mit ihm zusammen war – auch wenn sie es selbst dann in der Regel vermied, ihn direkt anzusprechen. „Hat er“, bestätigte Álvaro ruhig. „Und das hat er getan, um dich zu schützen. Damit dir nichts passiert.“
    „Nein! Damid ich… ch abgeschnidn bin… vo. Vo. Von. Vo allm.“ Sie pfefferte den Becher durch die Gegend. „Er hamch geswungn su fliehn! Absuhaun, w… wie… wien Feigling! N räudiger Hun! Ich bbbin Desima. Desima fliehn nich! Aba er… hahad geswungen… wien räudiga Hund!“ Ihre Hand schnellte vor und fegte eine Vase von einem Tischchen in ihrer Nähe, die zum Glück – oder zum Pech, je nachdem aus welcher Perspektive man es betrachtete – groß genug war, dass sie sie auch tatsächlich traf. Mit einem lauten Klirren zerbarst das Stück auf dem Boden. „Aba jets is genuch! Jets… jes… gech!“ Und mit diesen Worten ging sie wieder Richtung Vestibulum, das hieß, sie torkelte vielmehr – und das auch nur zwei Schritte, bevor sie von Álvaro aufgehalten wurde. „La… la.. lassmchloss!“ fauchte sie wütend, und diesmal blieb es nicht bei lautstarkem Lamentieren, wie bei dem Sklaven zuvor – diesmal begann sie sich zu wehren. Álvaro hielt sie, versuchte gleichzeitig ihren Körper zu bändigen, der sich seinem Griff zu entwinden versuchte, ihre Hände einzufangen, mit denen sie auf ihn einschlug, und den Tritten ihrer Füße auszuweichen.
    Ein paar Momente lang ging das so. Dann hatte Álvaro genug. Mit einem Klatschen landete seine Hand auf ihrer Wange, heftig genug, dass ihr Kopf herumgerissen wurde – und ihre Gegenwehr sofort erlosch. Es war schwer zu sagen, wer in diesem Moment schockierter aussah: der Leibwächter oder die Herrin. Álvaro starrte die Decima an, und die starrte zurück – und er wartete nur darauf, dass sie anfing die ganze Villa zusammen zu brüllen.


    Was nicht geschah. Stattdessen kotzte sie ihm plötzlich vor die Füße.





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    Álvaro hatte das Atrium kaum betraten, da sah er die Decima schon. Und auch dass sie betrunken war, war zu erkennen… ach was, betrunken. Sternhagelvoll traf es schon eher. Und das Schlimmste war: es war ja nichts Neues mehr. Seit sie hier angekommen waren, hatte die Decima zu viel getrunken. Schon am ersten Abend war es losgegangen, wo sie so unglaublich wütend auf ihren Mann gewesen war, eine Wut, die zwar jeder gemerkt hatte, die sie aber nicht wirklich herausgelassen, sondern vielmehr in sich hineingefressen und schließlich in Alkohol ertränkt hatte, und das hatte sich an den folgenden Abenden, befeuert durch die Verbitterung sowie die lähmende Untätigkeit, zu der sie sich gezwungen sah, nicht geändert… im Gegenteil. Der Zeitpunkt, an dem sie diese vage Grenze des zu viel überschritt, war jeden Tag ein bisschen früher gekommen, und Álvaro hatte inzwischen den Verdacht, dass sie sich systematisch betrank.


    Neu war an diesem Tag also höchstens, dass sie noch früher als in den letzten Tagen voll war, und sich ihre Ausfälle daher auch nicht auf den hinteren Teil der Villa beschränkten, wo sie sich am Abend aufhielt. Im Augenblick stand sie da und wurde von einem Sklaven mühsam daran gehindert, zum Vestibulum zu marschieren. Vermutlich um die Villa zu verlassen. Álvaro stand da, noch unentdeckt, und zögerte einen Moment lang. In der Hand hielt die Decima einen Becher, aus dem immer wieder Flüssigkeit schwappte, während sie mit großzügiger Gestik dem Sklaven klar zu machen versuchte, dass er zu verschwinden hatte; auf ihrem Kleid prangte ein frischer Weinfleck; und ihr Gesicht war beinahe gespenstisch, hohlwangig und mit dunklen Augenringen, während ihre Frisur kaum noch als solche zu bezeichnen war. Und das bei einer Frau, die so sehr Wert auf ein gepflegtes, elegantes Erscheinungsbild legte. Mitleid stieg in Álvaro auf, Mitleid von der schlimmsten Sorte – jenes Mitleid, das kombiniert war mit einer mal mehr, mal weniger starken Schaulust und einem vagen Anflug von Ekel für dieses Häufchen Elend, das sich da präsentierte. Und einem massiven Gefühl des Fremdschämens.





    CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA

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    „Lass. Mich. LOS!“


    Der Aufschrei kam aus dem Atrium. Álvaro, der mit Bran in der Küche saß und sich mit dem Kollegen die Zeit mit einem Spiel vertrieb, verdrehte die Augen, während Bran nur grinste. Als kurze Zeit später eine Sklavin mit einem verschreckten Gesichtsausdruck in die Küche kam, seufzte Álvaro lautlos. „Jetzt schon?“
    Die Sklavin, ein junges Ding, das schon Zeit seines Lebens hier auf dem Landgut gewesen war, guckte ihn verstört an. „Ja“, sagte sie in jammerndem Tonfall. „Ich weiß nicht was ich tun soll!“
    Wieder seufzte Álvaro. Diesmal vernehmlich. Er hatte wenig Lust, da einzugreifen. Aber da war das Versprechen, dass er seiner Schwester gegeben hatte… Und dafür hatte er sich das Ganze schon viel zu lange angesehen, ohne etwas zu tun. „Ich kümmere mich darum.“
    „Was willstn da groß tun?“ Bran lehnte sich lässig zurück und zwinkerte der Sklavin zu, die daraufhin leicht errötete. Álvaro stellte immer wieder mit Erstaunen fest, wie leicht es Bran offenbar viel, Weiber für sich zu gewinnen. Dafür, dass der Kerl ungehobelt und größtenteils desinteressiert an den Belangen seiner Mitmenschen war und darüber hinaus eine ziemlich fiese Ader hatte… Nein, er verstand es nicht wirklich, warum Frauen sich von dem Kerl beeindruckt zeigten. Musste wohl daran liegen, dass er mal Gladiator gewesen war, und keiner von den kleinen Nummern.
    „Reden. Ruhig stellen. Wird mir schon was einfallen“, antwortete er. Obwohl er Bran nicht wirklich mochte, waren sie doch zu einer Art schweigenden Übereinkunft gekommen… dass es besser war, wenn sie die Eigenheiten des anderen einfach ignorierten und auf kollegialer Basis miteinander umgingen. War angenehmer für beide so, und sie gingen damit Ärger aus dem Weg, den sie sicher irgendwann von den Herrschaften bekommen hätten. Ein Paar Leibwächter, das sich gegenseitig bekriegte, konnte keiner gebrauchen. Und wo Bran sich größtenteils einfach nur seinen guten Lebensstil weiter erhalten wollte – was als Leibwächter einer reichen und hochgestellten Frau für ihn so ziemlich die einzige Möglichkeit darstellte –, war Álvaro tatsächlich daran gelegen, der Decima ein hervorragender Leibwächter zu sein. Weil er, im Gegensatz zu Bran, so was wie Anstand und Ehrgefühl besaß. Und weil er es seiner Schwester versprochen hatte. Also biss er in den sauren Apfel und versuchte, sich mit Bran zu arrangieren. Denn bei allen Macken, die der sonst haben mochte: er war ein guter Leibwächter. Álvaro wusste mittlerweile, dass er sich in einem Kampf auf ihn verlassen konnte, und die Decima in guten, oder besser: in sicheren Händen war.
    Just in diesem Moment bewies Bran allerdings wieder mal, was für ein Holzklotz er war. „Leg sie einfach flach, Alter. Die braucht wahrscheinlich nur nen Kerl zwischen den Schenkeln“, spottete er mit einem anzüglichen Grinsen. „Falls du nicht Manns genug bist – ich stell mich gern für diese Aufgabe zur Verfügung…“
    Wieder verdrehte Álvaro die Augen, trank seinen Posca aus und erhob sich mit einem Ruck. „Halt‘s Maul, Bran“, brummte er, setzte den Becher ab und verschwand aus der Küche. Die junge Sklavin, das bemerkte er wohl, blieb hingegen. Und dem lüsternen Blick nach zu schließen, den Bran der Kleinen zuwarf, würde der Hibernier heute sicher noch jemanden flach legen.





    CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA

    Sie hatten Stunden gebraucht, um von Rom hierher zu kommen. Und trotzdem war es Seiana zu schnell gegangen. Viel zu schnell. In der Stadt, als sie noch im Acta-Haus gewesen war und etwas hatte tun können, da hatte sie funktioniert, und zwar tadellos. Da war einfach kein Raum gewesen für Chaos in ihrem Kopf, oder für Entsetzen, nicht einmal schlichte Fassungslosigkeit. Das kam erst nach und nach während der Reise zu den Albaner Bergen – die sie noch dazu ohnehin recht schnell hinter sich hatten bringen müssen. Die Prätorianer wollten rasch wieder zurück in die Stadt, und Seiana konnte es ihnen nicht mal verdenken. Sie wollte das ja auch. Sie hätte einiges dafür gegeben, wieder mit zurück gehen zu können. Und sie haderte mit sich selbst... haderte damit, dass sie nicht mehr unverheiratet war, wo es niemanden interessiert hätte wenn sie in Rom geblieben wäre, erst recht nicht, da nach wie vor kaum einer ihrer Familie in Rom war – und erst recht keiner, der wirklich Verantwortung für die Gens übernahm. Und sie haderte fast noch mehr damit, dass sie kein Mann war. Wäre sie ein Mann, hätte ihr niemand befohlen, die Stadt zu verlassen. Wäre sie ein Mann, hätte ihr keiner vorschreiben können, sich in Sicherheit zu bringen. Wäre sie Mann, wäre es mehr als selbstverständlich gewesen, dass sie Stolz und Pflichtgefühl genug empfand, um in Rom bleiben, die Stellung ihrer Familie halten und ihrer Arbeit nachgehen zu wollen... Aber sie war kein Mann. Und ganz egal, was sie in den letzten Jahren sich auch an Eigenständigkeit erarbeitet hatte, egal, was sie versucht hatte um so selbstverantwortlich wie möglich zu sein: sie war und blieb eine Frau. Und als solche ein Spielball der Männer, wenn es hart auf hart kam.


    Mit diesen bitteren Gedanken traf sie schließlich auf dem Landgut ein. Den Prätorianern schenkte sie keinen Abschiedsgruß, noch nicht einmal einen zweiten Blick, bevor diese verschwanden. Kaum hatte sie das Haupthaus betreten, orderte sie Sklaven und Angestellte dazu, die Villa zu sichern, schickte einige von ihnen los, um die Vorräte aufzustocken und Klienten zu organisieren, die hier in der Gegend lebten, Klienten von Meridius und Livianus, die Veteranen aus deren Militärzeit waren. Sie wusste nicht, was in Rom geschehen würde – natürlich nicht, sie war ja nicht dort! –, aber es bestand die Möglichkeit, dass die Unruhen dort sich über die Stadtgrenzen hinaus ausweiteten. Ganz abgesehen davon, dass sicher auch im Umland Plünderer ihr Glück versuchen würden. Es war schlicht besser, für alles gewappnet zu sein, auch hier, und eine bewaffnete Schutztruppe aus Veteranen war so ziemlich das Beste, was sie organisieren konnte. Und nachdem sie sich um all das gekümmert hatte, zog sie sich zurück in ihr Cubiculum – und trank erst mal einen Becher Wein.

    Einsichtig. So konnte man es auch nennen, ja. Seiana hätte es eher gezwungen genannt, denn freilich hätte sie es niemals darauf ankommen lassen, von seinen Soldaten hinaus geschleppt zu werden. Das war so weit unter ihrer Würde, dass es nicht einmal ansatzweise in Frage gekommen wäre, das zu riskieren. „Ja“, antwortete sie nur einsilbig. Und dann verschwand sie ohne ein weiteres Wort im hinteren Teil des Gebäudes, um zu ihrem Officium zu gehen. Hinter der Tür zum Redaktionsraum hatten sich, natürlich, die paar ihrer Mitarbeiter versammelt, die noch hier waren. Als sie so urplötzlich erschien, starrten sie sie erschrocken an, aber Seiana ging überhaupt nicht darauf ein, dass sie offensichtlich gelauscht hatten. Sie weiß einen von ihnen an mitzukommen, und auf dem Weg zu ihrem Büro gab sie eine knappe Erklärung und ebenso knappe Anweisungen. Sie sollten hier die Stellung halten – was Seiana kein schlechtes Gewissen bereitete, denn die, die noch hier waren, waren ohnehin jene, die ein Zuhause hatten das so sicher war wie hier... oder weniger. Die Stellung halten, also, und falls sich eine Gelegenheit bot... sie informieren. Was kaum passieren würde, darüber war sie sich im Klaren, aber nur für den Fall dass die Ausgangssperre weit genug gelockert wurde, ihr Mann sie aber noch nicht zurückholen ließ, weil er die Situation in Rom als noch zu gefährlich einschätzte.


    Es dauerte nicht lang, bis sie wieder zurückkehrte in den Redaktionsraum, wo ihr Mann auf sie wartete. Ein paar Dinge hatte sie dabei, an denen sie gearbeitet hatte, ein paar, die ihr wenigstens etwas Beschäftigung verschaffen würden... und gerade, als sie gehen wollten, kamen der Vibienus und Álvaro zurück. Und Seiana hätte zu gern mit ersterem geredet, hätte zu gern erfahren, was er gesehen und erlebt hatte, aber ihr blieb nicht viel anderes übrig ihm kurz zum Abschied zuzunicken, und Álvaro anzuweisen, sich zu Bran zu gesellen, so dass ihr Leibwächterduo, ohne dass sie seit ihrer Hochzeit nie das Haus verließ, wieder vollständig war.
    Der anschließende Abschied von ihrem Mann fiel, wenigstens von ihrer Seite, denkbar kühl aus, bevor die Prätorianer sie fortbrachten, durch Rom hindurch und hinaus aus der Stadt... und weiter, immer weiter, bis sie nach einigen Stunden das Landgut erreichten, von dem sie zuvor gesprochen hatte. Viel zu schnell, wie es ihr erschien.

    Er meinte es tatsächlich ernst. Seiana starrte ihn noch einen Moment lang an, dann schloss sie die Augen und überlegte, überlegte fast schon verzweifelt, ob ihr nichts einfiel, was ihn umstimmen könnte. Denn dass er seine Worte in die Tat umsetzen, dass er sie notfalls wirklich hinaus zerren lassen würde von seinen Leuten, daran zweifelte sie nicht – nicht so wie ihn kennen gelernt hatte. Der Mann setzte seinen Willen durch, gleich wie. Es spielte gar keine Rolle, was sie dachte. Oder was sie wollte. Und es spielte auch keine Rolle, dass sie sui iuris war und eigentlich selbst entscheiden konnte, was sie tat... Es interessierte ihn nicht. Und seine Soldaten vermutlich auch nicht.
    Ihre Gedanken rasten für Momente dahin. Sie war sui iuris, natürlich dachte sie dennoch an dieses Argument. Sie war Auctrix, hatte hier einen Posten, hatte Verantwortung. Sie war seine Frau... und wenn er Rom zeigen wollte, dass nichts zu befürchten war, war es doch am besten, wenn sie hier bleiben würde.


    Seiana sah ihren Mann wieder an, und gleich, was sie eben noch gedacht, was sie sich zurecht gelegt hatte – nichts davon kam über ihre Lippen. Er würde sich nicht umstimmen lassen, das konnte sie erkennen. Ein harter Zug bildete sich um ihren Mund. „Das Landgut meiner Familie in den Albaner Bergen bietet sich an“, antwortete sie, aber so sehr sie es auch versuchte – ihre Stimme klang nicht so kühl, wie sie es gerne hätte, sondern hatte eher einen leicht bitteren, fast schon verletzten Unterton. Selbst der Gedanke nur zwei Wochen irgendwo untätig auf einem Landgut verbringen zu müssen, war schon zu viel für sie. Noch dazu wo sie gar keine Zeit hatte das vorzubereiten, also entsprechend Arbeit mitzunehmen... oder wenigstens über Boten in Kontakt mit Rom und den Vorgängen hier in Kontakt zu stehen. Sie hoffte nur, dass er sich wenigstens nicht einbildete auch noch bestimmen zu müssen, wo sie hingehen sollte. Dass es ihm Recht war, wenn sie zu besagtem Landgut ging – was ihr wichtig war, weil das wenigstens ein Ort war, den sie kannte, wo sie sich nicht allzu fremd fühlen würde... und wo sie die Menschen kannte, die Sklaven und Angestellten ihrer Familie. Für einen Moment war sie außerdem versucht, ihm zu sagen, er solle Leute zur Casa Terentia schicken, um Sachen von ihr zu holen, Kleidung, irgendetwas. Wenn er schon den Praefectus Praetorio heraushängen ließ, dann konnte er auch das für sie tun. Nur... bei dem, was gerade in Rom los war, wäre es absolut unangebracht gewesen. Es reichte schon, dass die Praetorianer sie aus Rom eskortieren. Es mussten nicht noch mehr Männer von wichtigeren Aufgaben abgezogen werden, nur wegen ihr. „Kann ich hier noch etwas mitnehmen?“

    Jetzt war Seiana erst recht verblüfft. Er wollte WAS? Sie aus Rom fortschaffen? Und bezeichnete sie gleich noch als Dickkopf in der Annahme – freilich richtig, aber trotzdem vorschnell –, sie würde sich weigern? Für einen Moment war sie sprachlos und starrte ihn einfach nur an, weil seine Worte sie kalt erwischt hatten. Mal abgesehen davon, dass der Begriff Dickkopf implizierte, sie sei nicht viel mehr als ein trotziges Kind… sie konnte Rom nicht verlassen. Sie wollte es nicht. Zu versuchen aus der Stadt hinaus zu kommen, der Gedanke war ihr überhaupt nicht gekommen in den letzten Stunden. Sicher hatte ein Teil ihres Bewusstseins durchaus realisiert, dass es in Rom gefährlich war im Augenblick, und vielleicht noch gefährlicher werden würde. Aber das war für sie irgendwie… weit weg gewesen. Nichts, was tatsächlich sie berührte, nicht weil sie das nicht betreffen könnte, sondern einfach weil sie es nicht zuließ. Wegzulaufen kam nicht in Frage.


    Seiana war sich bewusst darüber, dass sich ihr gerade ein ziemliches Luxusproblem stellte. Andere wären heilfroh um die Gelegenheit, Rom jetzt verlassen zu können – und das sogar unter dem Schutz der Garde, so dass für ihre Sicherheit nahezu garantiert war. Aber sie… der Gedanke, jetzt gehen zu müssen, abgeschnitten zu sein von jeglicher Information, von der Chance zeitnah zu erfahren, was los war, was geschah, und vor allem von der Möglichkeit, selbst zu handeln, wenn auch nur im kleinsten Rahmen… die bloße Vorstellung dessen ließ sie sich bereits jetzt hilflos und unfähig fühlen. Sie brauchte etwas zu tun. Und zwar keine Hausarbeit auf irgendeinem Landgut irgendwo weit ab vom Schuss, sondern etwas was sinnvoll war, und das hier, in Rom.


    Nein. Sie war die Auctrix. Sie war eine Decima. Sie konnte Rom nicht verlassen. Und entsprechend schüttelte sie jetzt den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst“, antwortete sie, in leicht ungläubigem Tonfall. „Bring mich meinetwegen nach Hause, da dürfte es sicher genug sein. Aber ich werde Rom nicht verlassen.“

    Eine Augenbraue wanderte hoch. „Nein“, antwortete Tullius ein wenig herablassend und mit kaum verhohlenem Spott – weil seiner Meinung nach völlig klar war, was der Lectrix ausgerichtet werden sollte. Dass er sich mit dieser Einstellung kaum Freunde gemacht hatte bislang, störte ihn wenig und führte schon gar nicht dazu, seine Art mit Menschen umzugehen zu ändern. „Die Auctrix wollte lediglich, dass die Führungsriege der Acta informiert ist. Über die Gerüchte. Über ihr Vorgehen. So weit möglich.“ Der Vibienus war in der Redaktion gewesen, die Germanica hingegen so weit fort, dass sie kaum zu erreichen war... mal ganz davon abgesehen, dass sie wohl auf dem Landgut ihres Mannes bei Misenum weilte, also vermutlich bereits besser Bescheid wusste als sie hier in Rom. Tullius zuckte die Achseln. „Es haben offenbar genug Gerüchte denselben Kern, um davon auszugehen, dass es stimmt. Interessiert deine Herrin vielleicht.“ Er besah sich die Augen hinter dem Türschlitz kurz, bevor er abschließend fragte: „Soll ich noch auf eine Reaktion von ihr warten?“

    „Der Notstand, die Unruhen...“ Tullius machte eine knappe Kopfbewegung, die hinter ihn weisen sollte, auf das in diesen Straßen nur mäßige Chaos im Vergleich zu dem, was woanders los war. „Es gehen die wildesten Gerüchte um, aber die meisten haben etwas gemein: der Kaiser sei tot, heißt es. Die Auctrix hat Leute losgeschickt, um herauszufinden was dran ist an der Sache.“ Und damit wartete Tullius erst mal die Reaktion hinter der Tür ab.

    Etwas weiter weg von den Ereignissen, die sich um Caius Columnus zutrugen, begann es immer mehr zu brodeln in der Menge. Tumulte entstanden, hier wurde gezogen, dort wurde geschubst, etwas weiter zur Seite zerrten die Leute und mitten drin landeten schon Menschen auf dem Boden, weil sie stolperten in dem Gedränge, den Halt, das Gleichgewicht verloren, und andere darauf keine Rücksicht nahmen. Als die Urbaner dann in immer größerer Zahl aufmarschierten, veränderte sich die Gemengelage abermals – und es mischte sich eindeutig Panik darunter. In den vorderen Reihen jedenfalls, bei denen, die das hautnah mitbekamen. Die begannen umgehend, zurückzuweichen, oder besser: sie wollten es, eigentlich. Aber die hinten Stehenden bekamen nicht so wirklich mit, was sich vorne tat, dass dort Urbaner in einer Zahl und Bewaffnung aufmarschierten, die absolut nichts Gutes verhieß – und drängten rücksichtslos nach vorne, weil sie neugierig waren, weil sie empört waren, weil sie mitbekommen wollten was denn überhaupt los war. „He! HEEEE!! Wie soll ich denn bitte Frau und Kinder ernähren, wenn keiner raus darf! Wer soll den Fraß denn kaufen? Wer soll die Kohle VERDIENEN die ich brauch um den Fraß zu bezahlen!“ brüllte einer lauthals, der irgendwo mitten drin stand – und bekam prompt johlendes Zugeständnis von allen Seiten. Fäuste wurden erhoben und geschüttelt. „Wollt ihr dass wir verhungern?!?“ kreischte eine Frau in die immer aufgeheiztere Atmosphäre... und es dauerte nicht lang, bis das erste Wurfgeschoss nach vorne flog in Richtung der Urbaner, ein kleiner Stein, um genau zu sein – dem allerdings mehrere folgten.


    Und dann geriet erneut Bewegung in die Massen. In Wellen breitete sich Panik aus, zitterte, bebte durch die Menge, während sich parallel mit ihr gellende Schreie fortpflanzten. In all dem Tumult war eines deutlich herauszuhören: Die töten! DIE TÖTEN UNS!“
    Schweine!
    „Auf sie!“
    Raus hier, los!
    Als sich die Nachricht vom ersten Toten in der Menschenmasse, die sich mittlerweile angesammelt hatten, endgültig durchgedrungen war, war das Chaos perfekt. Die ersten waren schon unter trampelnde Füße geraten und gaben keinen Laut mehr von sich, andere kreischten schrill auf, weil sie völlig in der Masse der Leute verloren waren, die vorne bei den Urbanern drückten nun mit aller Macht weg von den Bewaffneten, die in der Mitte versuchten einfach irgendwohin zu entkommen, egal wohin, und achteten in ihrer Panik gar nicht darauf, dass sie teilweise in die falsche Richtung wollten – und die hinteren, die teils überhaupt noch nicht mitbekommen hatten was los war, drängten nach vorne. Vor allem die, die nach wie vor Stunk machen wollten, die immer noch Wurfgeschosse in den Händen hielten und diese auch nutzten, gleich wo sie trafen. Insgesamt bewegte sich die größtenteils panikerfüllte Masse bedrohlich auf die geschlossene Reihe der Urbaner zu.

    Sie starrte ihn verblüfft an. Zum Teil wegen seines Tonfalls, weil er sie ziemlich wütend anfauchte – zu einem weitaus größeren Teil allerdings wegen des Inhalts seiner Worte. Er war wegen ihr hier? Und wegen ihr wütend? Da war nicht noch irgendetwas passiert, kein Bürgerkrieg, nichts dergleichen – sondern sie war der Grund? Hieß das etwa, dass er sich Sorgen um sie machte... irgendwie?
    Das war... damit hätte sie nicht gerechnet. Und ein wenig fühlte sie sich deshalb davon überfordert, wie so häufig in solchen Situationen. „Eh...“ Sie rieb sich kurz über die Stirn und strich sich eine imaginäre Strähne hinters Ohr. Sie musste sich zusammenreißen, und die Sorge, die sie meinte heraushören zu können, ignorieren... besser sie konzentrierte sich auf den Tonfall – den sie ganz und gar nicht in Ordnung fand. Und dass er ausgerechnet ihr an den Kopf warf, sie würde nicht nachdenken, war fast schon wieder lustig.
    Zwischen all dem musste sie allerdings versuchen, eine passable Antwort zu finden – und nichts davon war geeignet darauf einzugehen. Also versuchte sie es erst mal schlicht mit den Fakten. „Ich bin schon seit heute morgen hier.“ Deutlich bevor der Notstand ausgerufen worden war. „Ist... in der Stadt so weit alles in Ordnung?“

    Zitat

    Original von Appius Terentius Cyprianus
    Ziemlich wütend erschien Appius in der casa der Acta:"Schafft meine Frau hierher!" meinte er zu den Sklaven und Schreiberlingen der Acta:"Und zwar Pronto!"


    Nachdem der Nauta der Classis wieder verschwunden war, hatte Seiana sich doch wieder in ihr Büro zurückgezogen, um hier darauf zu warten, dass irgendjemand zurückkam von denen, die sie losgeschickt hatte. Erneut war es allerdings jemand anders, der zuerst erschien... als es jedenfalls an der Tür zu ihrem Officium klopfte und diese gleich darauf aufging, ohne auf ihre Antwort zu warten, stand da einer der Mitarbeiter, die hier geblieben waren – und sah ziemlich verschreckt aus. Den Grund dafür begriff Seiana, als er verkündete: „Verzeih mir, aber dein, äh, dein Mann ist hier. Er möchte dich sehen. Äh. Schnell.“


    Ohne ein weiteres Wort erhob Seiana sich und ging in den Redaktionsraum, und tatsächlich sah sie ihn da stehen, ihren Mann. Und er sah... nicht sonderlich erfreut aus. Selbst für das, was passiert war, selbst für die momentanen Verhältnisse fand Seiana, dass er zu finster dreinblickte, und das wiederum ließ sie sich unwillkürlich fragen, ob noch irgendetwas anderes los war, irgendetwas, wovon sie noch nichts wusste, wovon noch niemand etwas wusste. „Salve“, grüßte sie ihn, während sie auf ihn zuging und den anderen mit einem Wink zu verstehen gab, zu verschwinden. „Was führt dich her?“

    Zitat

    Original von Appius Decimus Massa
    Die Blicke waren unmissverständlich. Der Optio hatte nicht gesagt, dass er um die Vorgänge in Misenum schweigen müsste. Er sollte sich in Rom wegen Neuigkeiten umhören. Hier war das Zentrum Italia's, des gesamten römischen Reiches. Und nachdem, was er beim Betreten Rom's mitbekommen hatte, musste es hier schon angekommen sein, was sich in Misenum zugetragen hatte.


    " Nachdem Tod des Kaisers und seiner Familie, versucht Praefectus Octavius Ruhe in den Reihen der classis zu halten. Wir haben Ausgangssperre, es wird hart durchgegriffen. Desertionen gab es meines Wissens noch nicht. Die Informationen sickern nur spärlich nach außen. Die Prätorianer sind sehr angespannt. Wer weiß, wie es jetzt in Misenum aussieht. Ich bin seit 4 Tagen unterwegs. " er räusperte sich. " Ist hier schon bekannt, wie der Kaiser und seine Familie zu Tode gekommen sind?" Sein fragender Blick, traf einen Mitarbeiter nach dem anderen und blieb dann bei Decima Seiana hängen.


    Das Erwähnen von Liegegebühren in Ostia drang so langsam in sein Bewußtsein vor. Das war wichtig für den Optio. Sonst hatte sie nichts weiter, oder wusste man hier mehr? 4 Tage weg und 3 Tage wieder zurück, überschlug er. Hoffentlich suchten sie ihn nicht schon. Das einzig beruhigende, das Schreiben des Optio, dass er offiziell als Bote unterwegs war.


    Also stimmten die Gerüchte. Und mehr als das... der Nauta sprach nicht nur vom Kaiser, sondern auch von dessen Familie. Hätte Seiana nicht über eine solche Selbstbeherrschung verfügt, hätte sie den Mann wohl schockiert angestarrt – so allerdings war es hauptsächlich ein noch schärferer Blick unter gerunzelter Stirn, der ihn traf. „Seine Familie? Willst du damit sagen, sein Sohn ist ebenfalls tot?“ Das konnte doch kein Zufall sein. Dass der Kaiser tot war, mochte tragisch sein und Maßnahmen wie den Notstand für den Moment rechtfertigen – aber irgendwie war es zu erwarten gewesen. Er war ja schon krank gewesen, als dessen Vater in Parthien umgekommen war. Dass allerdings sein Sohn – und offenbar auch seine Frau – tot waren... „Nein“, antwortete sie tonlos. „Der Notstand ist erst heute in Rom ausgerufen worden. Öffentliche Informationen gab es noch keine. Was weißt du über die Umstände?“

    „Ja, die bin ich in der Tat...“ antwortete Seiana – und ließ sich die Schriftrolle reichen. Schnell brach sie das Siegel, öffnete die Rolle und überflog sie. Ein wenig überrascht sah sie auf. „Ich danke dir, Nauta... Nein, Fragen habe ich keine. Nur den Hinweis, dass die Stadt Ostia seit neuestem Liegegebühren fordert... Darum sollte Decimus Massa sich vielleicht kümmern. Beizeiten, wenn die Lage wieder ruhiger ist...“ Seiana musterte den Soldaten einen Moment lang, mit einem forschenden Blick, der ihm das Gefühl geben sollte, dass er ihr ohnehin nichts verheimlichen konnte... weil sie es erkennen würde. „Was weißt du aus Misenum noch zu berichten, Nauta?“ Er war Classis. Und natürlich wusste Seiana, dass die Classis im Grunde nichts mit dem Landsitz des Kaisers zu tun hatte – ergo die Soldaten der Classis wohl auch kaum mehr wussten. Aber Misenum war nun mal Misenum, und dort mussten naturgemäß die Gerüchte früher angefangen haben sich zu verbreiten als hier... einen Versuch war es immerhin wert.

    Zu dem Aushangverbot verschlug es Salonia und einen ihrer Kollegen von der Acta als erstes. Um sie liefen die Menschen teils verwirrt umher... teils standen sie da wie vom Donner gerührt, als könnten sie noch gar nicht so wirklich fassen, was passiert war. Von Panik war im Moment noch wenig zu spüren, die Urbaner waren ja erst vor kurzem losmarschiert, um das Edikt des Praefectus Urbi bekannt zu machen und durchzusetzen... Aber die Gerüchte verbreiteten sich immer mehr, und immer schneller.


    „Hast du gehört? Der Kaiser soll tot sein!“
    „Sssschsccchsschhhh! Verschrei's nicht, am Ende sorgen die Götter dafür dass es wahr wird!“


    Ein paar Schritte weiter klangen die Gerüchte ganz anders...


    Waaas?!?
    „Bist du sicher?“
    „Absolut. Ich hab's von nem Urbaner persönlich! Der Praefectus Urbi hat die Macht an sich gerissen, und den Kaiser hält er in Misenum mit Hilfe der Garde gefangen!“
    „Das ist doch ungeheuerlich...“


    Hinter ihnen...


    „Ich sag's dir, der Kaiser ist verrückt geworden.“
    „Der Kaiser? Der Vescularius wenn dann schon. Der Kaiser hat doch keine Ahnung davon, was hier in Rom vorgeht...“
    „Natürlich hat er das! Aber er ist nicht mehr Herr seiner Sinne, kein Wunder so lang wie er schon krank ist...“
    „Nä. Der PU ist verrückt, so sieht's aus. Warum sonst der Notstand? Das macht doch nur nen Verrückter...“
    „Oder jemand mit gutem Grund! Und jetzt seht zu dass ihr Land gewinnt, ihr könntet eingebuchtet werden für so was!“


    Ein paar Schritte nach links...


    „Vielleicht haben es die Parther bis nach Italia geschafft?“
    „Und stehen jetzt vor den Toren Roms, meinst du? Iupiter steh uns bei!“
    „Komm, lass uns gehen... ich hoff unsere Sklaven können noch genug Vorräte kaufen...“


    Und ein weiteres Stück entfernt:


    „Ungelogen. Ich schwör's dir.“
    „Nein...“
    „Doch.“
    „Nein!“
    „Doch!“
    „Das kann nicht wahr sein!“
    „Wenn ich's dir doch sage! Der Kaiser ist schon seit Wochen tot! Ach was sag ich, Monaten! Seit Monaten! Und der Notstand kommt jetzt, weil sie's nicht mehr unter Verschluss halten konnten!“
    „Wer sollte das unter Verschluss halten wollen?“
    „Na... äh... Prätorianer! Senatoren! Der PU! Die hätten doch alle Gründe dafür!“


    Salonia und ihr Kollege hörten sich um... lauschten den Unterhaltungen, schnappten Gerüchte auf... und machten sich irgendwann aus dem Staub, um woanders weiter zu machen.

    Überraschung, Neugier, sogar eine vage Amüsiertheit war zunächst bei vielen Leuten festzustellen, als sie die Ankündigungen hörten. Allerdings wurde schnell klar – allein schon an der Mannstärke der angetretenen Soldaten –, dass die Urbaner es ernst meinten. Und dass da etwas im Busch war. Sein musste. So leicht ließen sich die Leute aber nicht abspeisen, und bald brachen an den verschiedensten Ecken in der Stadt Tumulte aus.


    „Hä?“
    „Notstand? Warum Notstand?“
    „Was bei allen Göttern ist in euch gefahren?“
    „Was ist los?“
    „Hä?“
    „Ja, was ist los!“
    HÄ?


    Immer mehr rotteten Menschen rotteten sich zusammen, immer mehr Stimmen fügten sich in den Chor aus Gebrüll ein, der auf die Urbaner niederprasselte, und da diese schon längst nicht mehr in drei Centurien geschlossen da standen, sondern sich kleinere Einheiten abgespalten hatten, um sich in der Stadt zu verteilen, war die Menschenmenge, der sich die Soldaten gegenüber sahen, bald deutlich größer als die Einheit, die ihnen klar zu machen versuchte dass sie nach Hause gehen sollten. Und sie wurden zunehmend unruhiger.