Einmal an diesem Punkt angekommen in ihren Gedanken, war auch klar, dass sie nicht länger einfach so liegen bleiben konnte – obwohl sie sich elend genug dazu fühlte, genau das zu tun. Aber ihr Vorsatz sich von jetzt an wieder zusammenzureißen stünde unter keinem guten Licht, wenn sie dessen Umsetzung damit begann, erst mal im Bett zu bleiben, um ihren Kater auszukurieren. Sie richtete sich also ein weiteres Mal auf, diesmal komplett, und schwang die Beine aus dem Bett heraus zu Boden. Und blieb dann erst mal sitzen, während sie darauf wartete, dass die durch die Bewegung erneut rasant gestiegenen Kopfschmerzen wieder ein wenig abklangen. Sie stützte ihre Ellbogen auf den Knien auf und legte ihr Gesicht in die Hände. Die Schmerzen in ihrem Schädel, die Schwäche in ihrem ganzen Körper... und dazu dieser widerliche Geschmack in ihrem Mund. Himmel, war das furchtbar...
Sie blieb eine ganze Weile so sitzen, oder besser: es kam ihr so vor, als ob es eine ganze Weile war. Ganz sicher war sie sich allerdings nicht, wie sehr sie ihrem Zeitgefühl im Augenblick trauen konnte... und als irgendwann Álvaro wieder herein kam, mit einem Tablett in der Hand, wurde ihr klar, dass es gar so lange nicht gewesen sein konnte. Der Leibwächter war zuverlässig, in allem was er tat. Sie bezweifelte, dass er lang gebraucht hatte um etwas zu essen zu organisieren. „Danke...“ sagte sie leise, in seiner Gegenwart schon wieder verlegen. „Stell es einfach da hin.“ Sie nickte zu dem Tisch hinüber, der in einem Eck platziert war.
Álvaro gehorchte, blieb danach allerdings nicht stehen oder machte Anstalten, sich zurückzuziehen, sondern nahm stattdessen den Becher vom Tablett und kam zu ihr, um ihn ihr in die Hand zu drücken. Als Seiana daran schnupperte, stellte sie fest, dass es irgendein Kräuterzeug war... und wenn sie sich nicht irrte, enthielt das Gebräu auch Posca. Was da noch drin war, wollte sie lieber gar nicht wissen, entschied sie.
„Trink das. Es hilft“, meinte der Iberer zu ihr.
„Danke“, murmelte sie erneut, bevor sie einen kräftigen Schluck nahm – und noch während des Trinkens das Gesicht verzog. Das Zeug schmeckte grausig... aber immerhin spülte es den Geschmack in ihrem Mund weg. Álvaro wartete mit undurchdringlicher Miene, bis sie noch einen Schluck genommen hatte, dann erst ging er ein paar Schritte zur Tür. „Wenn du etwas brauchst, Herrin, ruf nach mir.“
Seiana zögerte einen Moment, aber bevor Álvaro den Raum verlassen konnte, hielt sie ihn mit leiser Stimme auf. „Warte.“
Der Iberer drehte sich um zu ihr, und immer noch konnte sie in seinem Gesicht nicht lesen, was er wohl gerade denken mochte. „Ich...“ Seiana zögerte, drehte den Becher in ihren Fingern, holte Luft und setzte dann erneut an, in noch leiserem Tonfall als zuvor: „Es tut mir leid, Álvaro.“ Jetzt konnte sie auf seinem Gesicht eine Regung erkennen... und wenn sie nicht alles täuschte, dann war ihm das, was sie jetzt sagte, fast so unangenehm wie ihr. Aber er hatte eine Entschuldigung verdient. Sie hatte auch als Herrin eine Verantwortung, und dazu gehörte in ihren Augen auch, ihren Sklaven nicht derartige Dinge zuzumuten. „Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen, das war... unangebracht. Es tut mir leid. Und ich danke dir, dass du dich... gekümmert hast.“
Nach diesem Satz wurde offensichtlich, dass es Álvaro unangenehm war. Ganz leicht pressten sich seine Lippen aufeinander, bevor sie sich öffneten und er etwas erwiderte. „Nicht der Rede wert, Herrin.“
Seiana hätte darauf nun noch einiges sagen können, hätte sagen können, dass es eben doch der Rede wert war, und ausführen können warum... aber sie ließ es. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut – und davon abgesehen war er ein Sklave. Ein loyaler Sklave und hervorragender Leibwächter, dazu der Bruder ihrer ehemaligen Leibsklavin und besten Freundin, und auch wenn er nicht so direkt im Kreis der decimischen Geschwistern gewesen war wie Elena, war doch auch er mit ihr aufgewachsen... weswegen er auch diese Entschuldigung verdient hatte. Aber dennoch: ein Sklave. Selbst wenn ihm die Situation gerade nicht unangenehm gewesen wäre, wäre es kaum angebracht gewesen, wenn sie als Herrin noch mehr gesagt hätte. Und so nickte sie nur und schnitt ein anderes Thema an: „Sorg bitte dafür, dass das... gestern... unter uns bleibt.“ Die meisten Sklaven waren ohnehin von hier und würden kaum Gelegenheit haben zu tratschen, aber trotzdem wollte Seiana, dass allen klar war, dass sie den Mund zu halten hatten.
„Ich kümmere mich darum, Herrin“, nickte Álvaro, und Seiana schloss ganz kurz die Augen, während sie die Götter anflehte, dass tatsächlich niemand tratschen würde. Nicht auszudenken, wenn ihr Mann davon erfuhr, wie sie sich in den letzten Tagen hatte gehen lassen. „Du kannst gehen, Álvaro“, sagte sie dann, als sie die Augen wieder öffnete – und wies nach einem winzigen Moment noch auf die Weinkaraffe, die in ihrem Raum bereit stand. „Nimm das da mit.“ Der Iberer erwiderte auf diese Worte nichts mehr, neigte nur leicht den Kopf, nahm die Karaffe an sich und verließ dann ihr Cubiculum. Und Seiana blieb zunächst weiterhin so sitzen, wie sie war, beachtete das Essen nicht, das bereit gestellt war, trank dafür aber in langsamen Zügen das Kräutergetränk leer, das ihr Leibwächter ihr gebracht hatte.