Beiträge von Decima Seiana

    Ein Sklave reagierte, kaum dass der Iunius seinen Wunsch geäußert hatte, und reichte ihm einen Becher mit dem Gewünschten. Seiana indes lehnte sich ein wenig zurück und ließ sich die nächsten Worte ihres Gasts durch den Kopf gehen... immer noch unschlüssig, wie sie diesen Besuch einordnen sollte. Es spielte insofern eigentlich keine Rolle, da sie ihren Mann kaum darauf ansprechen würde, wenn es tatsächlich darum ging sie zu kontrollieren. Trotzdem wäre es interessant zu wissen – schon allein, weil sie dann einschätzen konnte, wie vorsichtig sie weiterhin würde sein müssen.


    Sie nippte kurz an ihrem Wasser. „Ja, ich kann mir vorstellen wie viel er im Moment zu tun haben muss. Wenn du wieder zurückkehrst kannst du ihm ausrichten, dass hier alles in Ordnung ist... eine Sorge weniger, die er sich machen muss.“ Seiana setzte ein Lächeln auf, um ihre Worte überzeugender zu machen. Nein, ihr Mann sollte sich keine Sorgen um sie machen. So sehr sie es genoss, ein wenig Gesellschaft zu haben und Ablenkung von ihren Grübeleien – sie wollte nicht, dass hier ständig ein Aufpasser ihres Mannes vorbei kam, der alles an ihn berichten würde, was sie tat. Schon gar nicht, wenn sie tatsächlich beschließen würde, nach Rom zurückzukehren bevor er sie holen ließ. Es galt also, den Iunius davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Und wenn er schon mal da war, konnte sie die Gelegenheit darüber hinaus auch gleich nutzen: „Was geht in Rom vor sich? Was habt ihr schon herausgefunden, gab es Verhaftungen, was sagen die Gerüchte auf den Straßen? Und ich bitte dich: sei ehrlich. Erzähl mir nicht die offizielle Variante...“

    Seiana wandte sich um, als sie hörte wie der Iunius – überraschend schnell, wie ihr schien – den Raum betrat. „Sicher doch, mach es dir bequem.“ Sie näherte sich, ließ ihm die Wahl ob er einen Sessel bevorzugte oder doch eher eine Kline, und setzte sich selbst dann in einen Sessel in seiner Nähe. „Das Essen dauert noch ein wenig... aber Getränke kann ich dir anbieten. Möchtest du einen Falerner?“ Nachdem der Iunius gewählt hatte, ließ sie sich selbst Wasser einschenken und nippte kurz an ihrem Becher. „Mein Mann hat dich also geschickt. Hat er dir eine Botschaft für mich mitgegeben?“ Sie musterte ihr Gegenüber, versuchte in seinem Gesicht zu lesen... und setzte dann ein Lächeln auf, eines ihrer vagen, das nichts preisgab über das, was sie denken mochte. In diesem Fall sollte es ihre nächsten Worte als Scherz wirken lassen... aber es fehlte der echte Humor in ihren Augen dafür. „Oder sollst du einfach nur nach dem Rechten sehen?“

    Der Vibienus war es, der die Schreiben des Praefectus Urbi in Empfang nahm. Und da die Auctrix derzeit ohnehin nicht in der Stadt weilte und sie herzlich wenig zu tun hatten, weil es dank der Ausgangssperre denkbar schwierig war, überhaupt an vernünftige Informationen zu kommen... und sie die wenigen, die sie bekamen, auch nur sammeln, aber im Augenblick nicht verwerten konnten... beschloss er einfach den Anweisungen im ersten Schreiben zu folgen. Das er im Anschluss daran dann gut sichtbar im Redaktionsraum platzierte, damit da auch ja niemand auf die Idee kam, sich noch um Kopf und Kragen zu reden... oder zu schreiben. Allerdings: suizidgefährdete Schreiber, die das Risiko eingehen würden in der momentanen Situation etwas zu veröffentlichen, was sich gegen den derzeitigen Machthaber in Rom richtete, hatten sie dann doch eher nicht in ihren Reihen.


    Aber sicher war sicher.

    Seiana besah sich den Eintrag kurz, aber prüfend, wartete bis auch ihr Mann noch einen Blick darauf geworfen hatte und lächelte dem Beamten dann höflich zu. „Danke... dir auch einen schönen Tag“, verabschiedete sie sich dann.

    „Es ist nicht das gesellschaftliche Leben, das ich vermisse...“, murmelte Seiana, und es blieb unklar, ob sie es tatsächlich ihm als Antwort gab, oder ob sie es nicht mehr zu sich selbst sagte. Tatsächlich war das einer der wenigen Vorteile momentan: dass sie nicht auf irgendwelche gesellschaftlichen Anlässe gehen musste. Aber irgendwie schien alle Welt von Frauen zu erwarten, dass sie so etwas gern taten. Abendessen mit mehr oder weniger engen Bekannten. Kleine Feiern. Große Feste. Empfänge... Sie mied diese Dinge, so gut es ging, aber als Auctrix und Ehefrau des Praefectus Praetorio ging das eben nicht besonders gut. Es wurde erwartet, dass sie sich bei solchen Anlässen sehen ließ. Nein, was ihr fehlte, war die Arbeit. Und in Rom würde sich da immer etwas finden lassen, immer... selbst unter den momentanen Umständen.


    Sie sah ihm hinterher, wie er ging, und nachdem sie dann Anweisungen an die Sklaven verteilt hatte, wandte sie sich zum Tablinum. Sie wusste nicht, wie lange er brauchen würde, aber dennoch setzte sie sich noch nicht, sondern blieb lieber stehen, an einem der Fenster, die zum Garten hin gingen, und sah hinaus. Warum hatte ihr Mann jemanden geschickt? Machte er sich tatsächlich Sorgen um sie – oder nicht doch eher darum, ob sie überhaupt brav hierher gekommen war? Oder vielleicht schon wieder Vorbereitungen für ihre Abreise traf? Letzteres war gar nicht so weit hergeholt, denn tatsächlich hatte Seiana seit gestern angefangen darüber nachzudenken, auf eigene Faust nach Rom zurückzukehren. Sie hatte geplant, einen Boten dorthin zu schicken, der prüfen sollte wie die Lage war... und wenn alles ruhig schien, sprach doch sicher nichts dagegen, wenn sie zurückkehrte. Im Grunde genommen war der kurze Kommentar des Iunius alles, was sie brauchte: es herrschte zwar noch Ausgangssperre scheinbar, aber der Versorgungsverkehr war zugelassen – und vor allem: Rom war im Tiefschlaf, wie der Iunius es so schön formuliert hatte. Also keine Krawalle. Keine Plünderungen. Jedenfalls keine, die erwähnenswert gewesen wären. Also war doch alles ruhig dort... Ruhig genug, um sicher zu sein für eine Rückkehr. Und sie hatte das Gefühl, es hier einfach nicht auszuhalten. Zu viel Ruhe. Zu viel Zeit. Und damit verbunden zu viele dunkle Gedanken und Erinnerungen, die sich nicht verjagen ließen.


    So stand sie also da, mit dem Rücken zur Tür, aus dem Fenster sehend, während sie grübelte – und zugleich darauf wartete, dass der Iunius sich zu ihr gesellen würde ins Tablinum.

    „Wenn dein Centurio selbst dafür bürgt, dass deine Arbeit nicht zu kurz kommt, wirst du wohl nicht allzu sehr fehlen“, lächelte sie zurück und wies ihm dann den Weg. „Ich werde dafür sorgen, dass sich jemand um dein Pferd kümmert. Du kannst dich derweil im Balneum erfrischen – nimm dir ruhig so viel Zeit wie du möchtest.“ Seiana ging nicht davon aus, dass er den Ritt hierher auf sich genommen hatte, nur um nach einem kurzen Wortwechsel sofort wieder zu verschwinden. Zwar könnte er hier sein Pferd wechseln und ein frisches bekommen, was einen baldigen Rückritt nach Rom möglich machte... dennoch war es ja auch für den Reiter anstrengend, und es erschien ihr einfach unsinnig, unter solchen Umständen überhaupt den Weg auf sich zu nehmen – so lange es sich nicht um wirklich dringende Nachrichten handelte. Und hätte er solche dabei gehabt, hätte er sie schon geäußert.


    „Es macht keine Umstände. Im Gegenteil, ich freue mich über deinen Besuch...“ Sie winkte eine Sklavin heran und warf ihm dann einen kurzen Blick zu. „Den... Umständen entsprechend“, antwortete sie auf seine Frage, ein wenig zögernd, und wählte ihre Worte dabei recht vorsichtig. „Ich bin es nicht gewohnt, so wenig zu tun zu haben wie es hier der Fall ist. Cynane hier“, fuhr sie gleich ohne Pause fort, als sich die Sklavin zu ihnen gesellte, „wird dich ins Balneum bringen. Wenn du etwas brauchst, gib ihr einfach Bescheid... und wenn du fertig bist, lass dich von ihr ins Tablinum bringen. Ich werde dort warten.“ Sie lächelte ihm zu und wartete noch, bis er mit der Sklavin verschwunden war, dann wandte sie sich um und rief weitere Sklaven zu sich, denen sie die Anweisung gab etwas zu essen vorzubereiten – bevor sie ins Tablinum ging, wo sie wie angekündigt auf ihren Gast warten würde.

    Der Iunier sah auch nicht sonderlich auf der Höhe aus – aber bei ihm fand Seiana das absolut verständlich. Sie konnte sich vorstellen, dass die Prätorianer in der augenblicklichen Lage viel zu tun hatten. Umso weniger wusste sie, was sie davon halten sollte, dass ihr Mann ihr einen seiner Leute hinterher schickte. Es überraschte sie ein wenig, und... nun ja. Sollte sie sich davon geschmeichelt fühlen, weil er sich um ihre Sicherheit sorgte? Oder überwacht, weil er ihr einen Spürhund hinterher schickte, der kontrollierte was sie tat?


    „Hat er das? Ich hoffe, dass deine Kameraden in Rom auf dich verzichten können.“ Sie lächelte leicht und verbarg ihre Gedanken bezüglich ihres Mannes. Der Iunius konnte am wenigsten dafür, und darüber hinaus konnte sie nicht leugnen, dass sie froh war, etwas Ablenkung zu haben. Sie überlegte für einen Moment, entschloss sich dann aber, dass es das Höflichste war, ihm erst mal Erfrischung und eine Stärkung anzubieten. Er hatte den Weg von Rom hinter sich, er war ein Bote ihres Mannes, er bedeutete Ablenkung, und was vielleicht das Wichtigste war: aus irgendeinem Grund mochte sie ihn. Er hatte, zumindest auf den jetzigen ersten Eindruck hin, nicht mehr wirklich etwas von dem verlegenen, etwas unbeholfenen Mann, den sie damals auf dem Markt getroffen hatte... aber seine zurückhaltende Art schien ihm geblieben zu sein, die etwas Beruhigendes an sich hatte. „Du hast sicher einen anstrengenden Ritt hinter dir. Möchtest du dich etwas erfrischen? Ich könnte unterdessen etwas zu essen herrichten lassen.“

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    Bran bemerkte, dass der Kerl sich anspannte, sah wie sich eine Hand zur Faust ballte, und auch er spannte sich an. Er war nicht umsonst sein halbes Leben lang Gladiator gewesen. Und er freute sich auf eine deftige Prügelei – die Decima war nicht die einzige, der hier langweilig war... Zu seiner Enttäuschung allerdings hatte der Soldat sich im Griff, und lieferte nicht nur eine einwandfreie Meldung ab, sondern gleich auch noch mindestens einen Grund, der Bran davon abhielt, doch noch Streit vom Zaun zu brechen: er kam vom Mann der Herrin. Besser, sich zusammenzureißen, entschied er.


    Mit einem Achselzucken stieß Bran also die Tür auf und machte eine Kopfbewegung, die mit etwas gutem Willen sogar als einladend bezeichnet werden konnte, und ging dann voraus ins Atrium. „Warte hier, ich hol sie gleich.“


    ~~~



    Es dauerte nicht lange bis Seiana auftauchte. Ihr Absturz lag mittlerweile immerhin einen Tag zurück – was hieß, sie sah bei weitem nicht mehr so furchtbar aus wie noch einen Tag davor. Ihre Erscheinung war wie üblich, schlicht, elegant, bis ins letzte Detail abgestimmt, und sie war stocknüchtern – aber weder das noch die dezente Schminke in ihrem Gesicht oder das höfliche Lächeln konnte nicht überdecken, dass sie übernächtigt wirkte und ihr Gesicht schmal war, beinahe hohlwangig.


    „Iunius“, begrüßte sie ihn. Sie winkte einem Sklaven, der sie begleitet hatte, dem Soldaten etwas zu trinken anzubieten, was dieser auch geflissentlich tat. „Es freut mich, dich wieder zu sehen. Was führt dich hierher?“

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    Von den Veteranen, die das Landgut der Decimer beschützten, war bereits gemeldet worden, dass ein Besucher kam – da jener allerdings eindeutig Prätorianer war, hatten sie ihn nicht aufgehalten. Trotzdem war es nicht irgendein Sklave, der dem Mann öffnete, sondern Bran, einer der Leibwächter der Decima. Und er öffnete zwar die Tür, aber er öffnete sie wohlweislich so, dass es für den Soldaten davor keine Möglichkeit gab, sich ungewollt an ihm vorbei zu drängen. Er räusperte sich, zog ein wenig Rotz hoch und spuckte aus – deutlich genug am Schwarzrock vorbei, dass es diesen verfehlte, aber nicht so weit, dass klar war ob das nun Absicht war... oder Versehen. „Was gibt’s?“





    CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA

    Wich er leicht zurück, als sie ihn berührte? Seiana war sich nicht ganz sicher, aber allein der schwache Eindruck reichte schon aus, um sie zu verunsichern. Sie fühlte sich schutzlos in diesem Augenblick, nackt wie sie war, verletzlich, weil es gerade nichts gab wohinter sie sich verstecken könnte – auch innerlich. Sie würde sich ja gerne einreden, dass es sie nicht interessierte, was er von ihr dachte, von ihr hielt. Oder dass es sie nicht kümmerte, wie ihr Verhältnis zueinander war oder besser: wie es sich entwickelte. Aber die Wahrheit war, dass es sie sehr wohl interessierte. Sie konnte nicht damit umgehen, wenn ihr jemand Komplimente machte, und sie sah sich vor allem selbst bei weitem nicht so, aber natürlich wollte sie, dass er einen guten Eindruck von ihr hatte. Dass er sie respektierte, sie vielleicht sogar irgendwann als Ratgeberin sah. Und sie wollte, dass sie eine gute Ehe hatten... trotz der Umstände, unter denen diese geschlossen worden war. Aber sie wusste noch viel zu wenig von ihm und wie er war, und sie hatte zu wenig Erfahrung, was Zwischenmenschliches betraf, wusste nicht, wie sie das angehen, wie sie sich verhalten sollte. Und diese beiden Dinge kombiniert führten dazu, dass sie sich jetzt nicht nur recht hilflos, sondern eben auch verletzlich fühlte... nackt, wenn man so wollte, in mehr als nur physischer Hinsicht. Sie wusste ja noch nicht mal, wie sie es anstellen sollte ihn zu verführen, ohne dass es etwa plump oder zu forsch wirkte oder sie ihn überrumpelte... also einen schlechten Eindruck bei ihm hinterließ.


    Und in diese Situation hinein kam der Eindruck, dass er vor ihr ein wenig zurückwich, und natürlich verunsicherte sie das. Sie presste die Lippen aufeinander und hätte die Hand wohl zurückgezogen, wenn es nicht schon zu spät gewesen wäre und sie seine Haut nicht schon berührt hätte. So allerdings ließ sie ihre Finger dort liegen, zumal er dann doch blieb wo er war. Trotzdem machte sie sich aber wie von selbst sofort wieder Gedanken. Ob es an ihr lag, ob es ihm unangenehm war, von ihr berührt zu werden, ob er sie eigentlich gar nicht wollte... und das wurde nicht besser, als er keinerlei Anstalten machte, im Gegenzug sie zu berühren. Zwar wiederholte er erneut, dass er sie schön fand... aber er berührte sie nicht, und er tat auch sonst nichts, um zu zeigen, dass es mehr als nur Worte waren. Stattdessen fragte er sie, ob sie das wusste, was ihre Verunsicherung nun komplett machte. „Nein“, antwortete sie zunächst langsam, um sich dann gleich zu verbessern: „Ja. Nein, ich meine...“ Sie brach ab, als sie ins Stottern geriet, wich seinem Blick aus und starrte auf die Wasseroberfläche zwischen ihnen, während sie ihre Hand sinken ließ, die gerade noch seine Brust berührt hatte. Was sollte sie auf diese Frage denn antworten? Es machte sie schlicht verlegen, das zu hören, und sie konnte nicht damit kokettieren wie sie es bei anderen Frauen schon erlebt hatte, wenn ihnen Komplimente gemacht wurden, oder gar auf eine Art reagieren, die darauf abzielte noch mehr Komplimente und Aufmerksamkeiten von Männern zu bekommen. Sie hatte das noch nie gekonnt – das Aufwachsen mit drei Brüdern und deren Freunden und rauen Spielen hatte dafür gesorgt, dass sie in dieser Hinsicht andere Erfahrungen gemacht hatte als andere Mädchen, und später dann hatte ihre kühle Art das Übrige dazu getan, dass sie in dieser Hinsicht stets unbeholfen blieb. Und auch jetzt wusste sie nicht weiter, wusste nicht, was sie sagen sollte. Natürlich wusste sie, dass sie nicht hässlich war. Sie achtete auf ihr Äußeres, darauf, stets gut auszusehen, ihrem Geschmack entsprechend gekleidet, frisiert und geschminkt zu sein. Und ihr war auch klar, dass sie zufrieden sein konnte mit ihrem Körper, auch wenn das etwas war, woran sie eher wenig Gedanken verschwendete, zumeist jedenfalls. Trotzdem wusste sie nicht, was sie sagen sollte. „Du... würdest du...“ Nein. Oh nein. Sie konnte ihn doch nicht einfach fragen, ob er mit ihr jetzt schlafen wollte. Zu direkt. Zu plump! Seiana wurde ein wenig rot, und obwohl sie eigentlich wollte, dass er näher kam, dass er sie berührte, war es jetzt sie, die ein winziges Stück zurückwich. „Wie lange möchtest du hier bleiben?“ versuchte sie abzulenken, mit einer Frage, die völlig unsinnig war, denn natürlich wusste sie, wie lange sie bleiben würden, sie hatten ja schon in Rom darüber gesprochen, als sie diese Reise organisiert hatten. Und sie verfluchte sich innerlich gleichzeitig dafür, dass ihr nichts Besseres einfiel – und erst recht dafür, dass sie überhaupt abzulenken versuchte... und dass sie so unbeholfen war.

    Einmal an diesem Punkt angekommen in ihren Gedanken, war auch klar, dass sie nicht länger einfach so liegen bleiben konnte – obwohl sie sich elend genug dazu fühlte, genau das zu tun. Aber ihr Vorsatz sich von jetzt an wieder zusammenzureißen stünde unter keinem guten Licht, wenn sie dessen Umsetzung damit begann, erst mal im Bett zu bleiben, um ihren Kater auszukurieren. Sie richtete sich also ein weiteres Mal auf, diesmal komplett, und schwang die Beine aus dem Bett heraus zu Boden. Und blieb dann erst mal sitzen, während sie darauf wartete, dass die durch die Bewegung erneut rasant gestiegenen Kopfschmerzen wieder ein wenig abklangen. Sie stützte ihre Ellbogen auf den Knien auf und legte ihr Gesicht in die Hände. Die Schmerzen in ihrem Schädel, die Schwäche in ihrem ganzen Körper... und dazu dieser widerliche Geschmack in ihrem Mund. Himmel, war das furchtbar...


    Sie blieb eine ganze Weile so sitzen, oder besser: es kam ihr so vor, als ob es eine ganze Weile war. Ganz sicher war sie sich allerdings nicht, wie sehr sie ihrem Zeitgefühl im Augenblick trauen konnte... und als irgendwann Álvaro wieder herein kam, mit einem Tablett in der Hand, wurde ihr klar, dass es gar so lange nicht gewesen sein konnte. Der Leibwächter war zuverlässig, in allem was er tat. Sie bezweifelte, dass er lang gebraucht hatte um etwas zu essen zu organisieren. „Danke...“ sagte sie leise, in seiner Gegenwart schon wieder verlegen. „Stell es einfach da hin.“ Sie nickte zu dem Tisch hinüber, der in einem Eck platziert war.
    Álvaro gehorchte, blieb danach allerdings nicht stehen oder machte Anstalten, sich zurückzuziehen, sondern nahm stattdessen den Becher vom Tablett und kam zu ihr, um ihn ihr in die Hand zu drücken. Als Seiana daran schnupperte, stellte sie fest, dass es irgendein Kräuterzeug war... und wenn sie sich nicht irrte, enthielt das Gebräu auch Posca. Was da noch drin war, wollte sie lieber gar nicht wissen, entschied sie.
    „Trink das. Es hilft“, meinte der Iberer zu ihr.
    „Danke“, murmelte sie erneut, bevor sie einen kräftigen Schluck nahm – und noch während des Trinkens das Gesicht verzog. Das Zeug schmeckte grausig... aber immerhin spülte es den Geschmack in ihrem Mund weg. Álvaro wartete mit undurchdringlicher Miene, bis sie noch einen Schluck genommen hatte, dann erst ging er ein paar Schritte zur Tür. „Wenn du etwas brauchst, Herrin, ruf nach mir.“
    Seiana zögerte einen Moment, aber bevor Álvaro den Raum verlassen konnte, hielt sie ihn mit leiser Stimme auf. „Warte.“
    Der Iberer drehte sich um zu ihr, und immer noch konnte sie in seinem Gesicht nicht lesen, was er wohl gerade denken mochte. „Ich...“ Seiana zögerte, drehte den Becher in ihren Fingern, holte Luft und setzte dann erneut an, in noch leiserem Tonfall als zuvor: „Es tut mir leid, Álvaro.“ Jetzt konnte sie auf seinem Gesicht eine Regung erkennen... und wenn sie nicht alles täuschte, dann war ihm das, was sie jetzt sagte, fast so unangenehm wie ihr. Aber er hatte eine Entschuldigung verdient. Sie hatte auch als Herrin eine Verantwortung, und dazu gehörte in ihren Augen auch, ihren Sklaven nicht derartige Dinge zuzumuten. „Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen, das war... unangebracht. Es tut mir leid. Und ich danke dir, dass du dich... gekümmert hast.“
    Nach diesem Satz wurde offensichtlich, dass es Álvaro unangenehm war. Ganz leicht pressten sich seine Lippen aufeinander, bevor sie sich öffneten und er etwas erwiderte. „Nicht der Rede wert, Herrin.“
    Seiana hätte darauf nun noch einiges sagen können, hätte sagen können, dass es eben doch der Rede wert war, und ausführen können warum... aber sie ließ es. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut – und davon abgesehen war er ein Sklave. Ein loyaler Sklave und hervorragender Leibwächter, dazu der Bruder ihrer ehemaligen Leibsklavin und besten Freundin, und auch wenn er nicht so direkt im Kreis der decimischen Geschwistern gewesen war wie Elena, war doch auch er mit ihr aufgewachsen... weswegen er auch diese Entschuldigung verdient hatte. Aber dennoch: ein Sklave. Selbst wenn ihm die Situation gerade nicht unangenehm gewesen wäre, wäre es kaum angebracht gewesen, wenn sie als Herrin noch mehr gesagt hätte. Und so nickte sie nur und schnitt ein anderes Thema an: „Sorg bitte dafür, dass das... gestern... unter uns bleibt.“ Die meisten Sklaven waren ohnehin von hier und würden kaum Gelegenheit haben zu tratschen, aber trotzdem wollte Seiana, dass allen klar war, dass sie den Mund zu halten hatten.
    „Ich kümmere mich darum, Herrin“, nickte Álvaro, und Seiana schloss ganz kurz die Augen, während sie die Götter anflehte, dass tatsächlich niemand tratschen würde. Nicht auszudenken, wenn ihr Mann davon erfuhr, wie sie sich in den letzten Tagen hatte gehen lassen. „Du kannst gehen, Álvaro“, sagte sie dann, als sie die Augen wieder öffnete – und wies nach einem winzigen Moment noch auf die Weinkaraffe, die in ihrem Raum bereit stand. „Nimm das da mit.“ Der Iberer erwiderte auf diese Worte nichts mehr, neigte nur leicht den Kopf, nahm die Karaffe an sich und verließ dann ihr Cubiculum. Und Seiana blieb zunächst weiterhin so sitzen, wie sie war, beachtete das Essen nicht, das bereit gestellt war, trank dafür aber in langsamen Zügen das Kräutergetränk leer, das ihr Leibwächter ihr gebracht hatte.

    Als Álvaro gegangen war, ließ Seiana sich zunächst zurück sinken in die Kissen und schloss wieder die Lider. Langsam hob sie eine Hand und legte sie sich über ihre Stirn, über die geschlossenen Augen, versuchte so, zusätzlich die Helligkeit auszuschließen. Wenn nur ihr Kopf nicht so dröhnen würde... Die ganzen letzten Tage schienen irgendwie zu verschwimmen unter einem schmerzhaften Nebel, der ihre Gedanken zäh und träge machte. Sie war so... frustriert gewesen, frustriert und enttäuscht und... zurückgesetzt. Sie wusste, dass ihr Mann sie nicht fortgeschickt hatte, weil er ihr schaden wollte, ganz im Gegenteil. Aber es änderte nichts daran, dass sie nicht hier sein wollte. Es ging gar nicht so sehr um Rom selbst. Es war nur... sie hatte hier nichts zu tun. Keine Beschäftigung. Und das bekam ihr ganz und gar nicht gut. Sie war noch nie jemand gewesen, der Müßiggang gut gefunden hätte, und im Lauf der Jahre war sie mehr und mehr dazu übergegangen, sich in Arbeit zu vergraben – zum Teil, weil es ihr gefiel, weil sie es gerne machte... und sie hasste es überdies, sich nutzlos zu fühlen.
    Zum Teil hatte sie sich aber auch begonnen sich mehr und mehr Arbeit anzuschaffen, weil es ihr half. Half, einiges zu verdrängen. Sich nicht mit gewissen Dingen beschäftigen zu müssen, mit denen sie sich nicht beschäftigen wollte. Es hatte ihr geholfen nachdem Faustus abgehauen war. Es hatte ihr geholfen während der Krankheit ihrer Mutter... und nach ihrem Tod. Es hatte ihr geholfen als Aelius Archias ihr so übel mitgespielt hatte. Und es hatte ihr geholfen nach der Sache mit dem Sicinius. Tagsüber, wenigstens. Wenn sie arbeitete, hatte sie nur selten jene Momente, in denen Erinnerung sie gefangen nahm – nur des Nachts suchten sie nach wie vor regelmäßig Träume heim, Träume unterschiedlichster Art, die jedoch selten angenehm waren.


    In jedem Fall: Arbeit half ihr. Mehr noch, sie brauchte Arbeit, brauchte sinnvolle Beschäftigung, weil sie sonst... all die Gedanken, die Grübeleien, die Erinnerungen nicht mehr verdrängen konnte. Und hier, auf dem Landgut in den Albaner Bergen, hatte sie begonnen zu spüren, wie sehr sie ihre Arbeit brauchte. Sie langweilte sich nicht einfach nur hier... Langeweile war nicht angenehm, wäre aber noch erträglich gewesen. Was ihr die Zeit hier so schwer machte war die Tatsache, dass sie nur wenig fand, was ihr half die Schwere und Düsternis in Schach zu halten. Und so waren die letzten Tage waren stets gleich verlaufen: sie war aufgestanden, hatte sich eine Beschäftigung gesucht, irgendeine, die sie genug forderte, hatte eine Runde über das Landgut gemacht, Vorräte geprüft, mit dem Anführer der Männer gesprochen, die das Gut schützten, mit den Verantwortlichen unter den Sklaven und Angestellten... aber jeden Tag war sie irgendwann an den Punkt gekommen, an dem es nichts mehr gab – nichts Sinnvolles mehr, hieß das. Und jeden Tag gab es weniger zu besprechen, weniger, um das sie sich kümmern konnte, weil es da um Dinge ging, um die man sich einfach nicht jeden Tag kümmern musste, und ohnehin wussten hier alle Bescheid, was zu tun war, weil die Sklaven und Angestellten ja häufiger alleine hier waren... weshalb dieser bestimmte Punkt immer früher kam. Und wenn er gekommen war... kamen auch die Bilder. Sie verlor sich in Gedanken und Erinnerungen, mit denen sie sich noch nie auseinander gesetzt hatte, nie wirklich, nie so, dass es auch nur annähernd als abgeschlossen hätte bezeichnet werden können. Oh, sie tat so, als ginge sie all das nichts mehr an, als berühre sie nichts davon, und sie war gut darin. Sie verkroch sich hinter einer distanzierten und kühlen Fassade, äußerlich wie innerlich, und wann immer die zerklüftete Landschaft ihres Inneren ihr Probleme machen wollte, stürzte sie sich umso mehr in Arbeit. Aber hier, wo ihr dieses Mittel fehlte, da... hatte sie zunehmend das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen, während all ihre Fehler, ihre Schwächen, ihre Misserfolge sie überfluteten. Und von diesem Moment an dauerte es nicht mehr lange, bis sie zum Alkohol gegriffen hatte.


    Schon nach der Sache mit Aelius Archias hatte sie entdeckt, dass Alkohol... helfen konnte. Wenn da nur nicht die Nebenwirkungen wären. Die allgemein schlechte Konstitution am Tag danach. Und die... mangelnde Selbstbeherrschung sowie die Unfähigkeit, Grenzen noch zu erkennen und die Situation sowie die eigene Reaktion richtig einzuschätzen. Und dieses Mal hatte sie es eindeutig zu weit getrieben. So etwas hätte ihr nicht passieren dürfen, sie hätte sich nie, niemals, so gehen lassen dürfen. Ganz gleich wie schwer es ihr fallen mochte, sich selbst zu ertragen in ihrer Untätigkeit – sie musste es. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig. Denn so weiter zu machen wie in den vergangenen Tagen war ausgeschlossen. Sie musste sich daran erinnern wer sie war – Decima, Auctrix, und jetzt auch Frau des Praefectus Praetorio. Selbstbeherrschung war unabdingbar.

    „Mattiacus ist vor einiger Zeit nach Griechenland gegangen, um dort seinen Studien nachzugehen“, antwortete Seiana, und aus ihrer Stimme war leichtes Bedauern zu hören. Derzeit war kaum ein Decimer mehr in Rom, und schon gar keiner, der wirklich die Gens hätte vertreten können. Aber irgendwann würde ihr Bruder wieder kommen, davon war sie überzeugt – daran musste sie einfach glauben. Den Gedanken, Faustus könnte eines Tages nicht mehr wieder kehren, ließ Seiana gar nicht erst zu.


    Sie lauschte dem Legaten bei seiner kurzen Darstellung über Mantua, aber bevor sie etwas erwidern konnte, tauchte jetzt ihr Mann auf. Seiana lächelte ihm kurz zu und wartete die erste Begrüßung der beiden Männer ab, dann wies sie auf die vorbereiteten Sitzgelegenheiten. „Möchtest du nicht Platz nehmen?“ Gemeinsam mit den Männern setzte sie sich auf den Korbstuhl, der für sie bereit gestellt worden war, und auf einen Wink von ihr hin begannen Sklaven, die Vorspeisen zu servieren.

    „Oh, das tut mir leid. Richte ihr doch bitte gute Besserung aus“, antwortete Seiana. Sie kannte die Tiberia zwar kaum, hatte sie allerdings doch damals bei deren Hochzeit getroffen – und ein paar Tage später erneut, als Seiana gekommen war um sich zu entschuldigen. Selbst wenn sie sie allerdings gar nicht gekannt hätte, wäre es dennoch angebracht gewesen, gute Besserung zu wünschen. „Ja, sind sie“, lächelte sie dann höflich auf die Frage hin. Nicht ganz die Wahrheit. Wie es Faustus ging, davon hatte sie keine Ahnung, und sie hoffte nur, dass es ihm gut ging, wo auch immer sein Auftrag ihn hingeführt hatte. Dem Rest der Familie allerdings ging es tatsächlich gut. „Insbesondere Livianus, meinem Onkel, scheint der Rückzug aus dem aktiven politischen Leben sehr gut zu tun, von dem was ich höre.“ Sie unterbrach sich kurz, als ein Sklave herbei kam mit Wein und Wasser, um zunächst dem Aurelius die gewünschte Mischung einzuschenken und anschließend ihr. „Nein, offen gestanden habe ich noch kaum etwas von der Stadt gesehen. Während des Stadtfests war zu viel los, um wirklich etwas besichtigen zu können, und wir sind erst seit wenigen Tagen hier.“ Wir. Es war so ungewohnt, in dieser Form zu reden, sich selbst als Ehefrau wahrzunehmen. Seiana fragte sich, wie lange sie wohl brauchen würde, bis sie sich daran gewöhnt hatte – aber vermutlich sollte sie sich deutlich mehr Zeit geben als die knapp zwei Wochen, die seit der Hochzeit erst vergangen waren.

    Der Ianitor der terentischen Villa öffnete die Tür und ließ den Legat auch sogleich ein, war er doch selbstverständlich informiert über den Gast, den sein Herr und dessen Gattin an diesem Abend erwarteten. Ein weiterer Sklave stand ebenfalls schon bereit, um Aurelius Ursus hinein zu führen ins Triclinium, wo Seiana bereits auf den Gast wartete. Sie hatte noch überlegt gehabt, davor, ob sie erst kommen sollte wenn die Sklaven berichteten, dass der Legat eingetroffen war... hatte das dann aber doch als zu unhöflich erachtet, insbesondere bei einer persönlichen Einladung an einen Gast diesen Rangs. So war sie also bereits da und lächelte den Aurelius an, auf jene höfliche, aber kühle Art, die ihr in den vergangenen Jahren so zueigen geworden war. „Legatus Aurelius“, begrüßte sie ihn. „Ich freue mich, dass du unserer Einladung gefolgt bist. Ich hoffe dir geht es gut?“ Sie winkte einen der Sklaven herbei. „Mein Mann wird sich gleich zu uns gesellen. Was möchtest du trinken?“

    Als Seiana erwachte, kreiste ihr Bewusstsein nur um zwei Dinge: zum einen die fast schon penetrante Helligkeit, die durch ihre noch geschlossenen Lider drang – zum anderen die mörderischen Schmerzen, die durch ihren Kopf dröhnten. Mit einem Stöhnen zwang sie sich, ihre Augen zu öffnen, und verzog das Gesicht, als das Licht sie blendete, das durch die halb geöffneten Vorhänge drang. Sie schloss die Lider wieder, legte sogar schützend eine Hand über Gesicht, um die Augen vor der Helligkeit abzuschirmen, und versuchte so etwas wie Sinn in ihre Gedanken zu bringen. Was sich als gar nicht so einfach erwies – die übliche Schläfrigkeit am Morgen legte Seiana immer schnell ab, sie war Frühaufsteherin, das fiel ihr leicht… diesmal allerdings war da mehr. Kopfschmerzen. Und auch ihr restlicher Körper fühlte sich alles anderes als erholt an. Dazu dieser bittere, pelzige Geschmack in ihrem Mund... Sie unterdrückte ein erneutes Stöhnen. Die letzten Tage war das Aufwachen auch nicht sonderlich angenehm gewesen, aber heute war es doch noch mal um einiges schlimmer als sonst, und sie fragte sich wieso.


    Diese Frage stellte sie sich tatsächlich noch einige Augenblicke lang, bis sich ihr Bewusstsein mehr und mehr aus den Fängen des Schlafs befreite. Dann traf die Erinnerung sie wie ein Schlag. Sie stöhnte ein weiteres Mal auf. Nein. Neineinein. Sie hatte sich am vorigen Abend nicht derart gehen lassen. Das... nein. Nein!
    Aber so sehr sie sich das auch einzureden versuchte: es führte kein Weg daran vorbei sich einzugestehen, dass sie am Abend zuvor wohl... jenseits von Gut und Böse gewesen war. Nach und nach fielen ihr Details ein, die eine eindeutige Sprache sprachen... aber wirklich erschreckend waren die verschwommenen Flecken dazwischen, wo sie Mühe hatte sich zu erinnern, was da gewesen war. Götter... wie hatte sie es nur so weit kommen lassen. Wie hatte sie sich nur derart gehen lassen können. Langsam öffnete sie wieder die Augen, weit vorsichtiger diesmal, und blinzelnd stellte sie fest, dass es so hell gar nicht war. Der Ausschnitt des Himmels, den sie sehen konnte, zeigte das gleiche trübe Bild wie in den vergangenen Tagen: ein trostloses grau in grau, ziemlich genau so, wie sie sich fühlte. Sie setzte sich etwas auf in ihrem Bett und verzog leicht das Gesicht, als die plötzliche Bewegung das bislang heftige, aber dumpfe Dröhnen in ihrem Kopf zu einem stechenden Schmerz anwachsen ließ – und dann fiel ihr noch ein weiteres Detail auf. Ein nicht ganz unwesentliches Detail. Álvaro saß in einem Sessel am Fenster. Und auf einmal schämte sich Seiana noch viel mehr als gerade eben noch, als ihr bewusst wurde, dass er alles mitbekommen hatte. Alles. Und die anderen Sklaven auf dem Landgut vermutlich auch eine ganze Menge.
    Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ihr wollte nichts einfallen. Als Álvaro, der bislang dezent aus dem Fenster geblickt und ihr Zeit gegeben hatte aufzuwachen, nun jedoch merkte, dass sie ihn ansah ohne etwas zu sagen, ergriff er als erster das Wort. „Guten Morgen, Herrin.“
    Seiana setzte zu seiner Antwort an, aber ihre Stimme gehorchte ihr irgendwie noch nicht ganz, und sie musste sich erst räuspern, bevor sie rau etwas sagen konnte. „Ist es überhaupt Morgen?“
    Álvaro warf einen weiteren kurzen Blick nach draußen. „Später Vormittag“, antwortete er dann. „Möchtest du etwas zu essen, Herrin?“
    Bloß nicht, dachte sie. „Gerne“, war ihre Antwort. Weil es höflicher war... und weil es ihr Zeit verschaffen würde, Zeit allein, die sie brauchte um in ihre Gedanken zu bringen. Álvaro in jedem Fall nickte nur stumm, erhob sich und verließ den Raum.