Zitat
Original von Decima Seiana
...hat das Schicksal Ähnlichkeit mit einem örtlichen Sandsturm,
der unablässig die Richtung wechselt.
Sobald du deine Laufrichtung änderst, um ihm auszuweichen,
ändert auch der Sturm seine Richtung, um dir zu folgen.
Wieder änderst du die Richtung.
Und wieder schlägt der Sturm den gleichen Weg ein.
Dies wiederholt sich Mal für Mal, und es ist,
als tanztest du in der Dämmerung einen wilden Tanz mit dem Totengott.
Dieser Sturm ist jedoch kein beziehungsloses Etwas,
das irgendwoher aus der Ferne heraufzieht.
Eigentlich bist der Sandsturm du selbst. Etwas in dir.
Also bleibt dir nichts anderes übrig, als dich damit abzufinden
und, so gut es geht, einen Fuß vor den anderen zu setzen,
Augen und Ohren fest zu verschließen, damit kein Sand eindringt,
und dich Schritt für Schritt herauszuarbeiten.
Vielleicht scheint dir auf diesem Weg weder Sonne noch Mond,
vielleicht existiert keine Richtung und nicht einmal die Zeit.
Nur winzige, weiße Sandkörner, wie Knochenmehl,
wirbeln bis hoch hinauf in den Himmel.
So sieht der Sandsturm aus, den ich mir vorstelle.
Alles anzeigen
Seiana blieb regungslos am Fenster stehen, als der Mann ihr Gemach verließ, starrte vor sich hin und verlor sich in Gedanken. Dieses Gespräch war... nun... kein Erfolg gewesen. Und für einen winzigen Augenblick fragte sie sich dann doch, ob das wohl ein Zeichen war, ein Zeichen, dass sie es lassen sollte... dass der Gedanke, der Wunsch nach Rache vielleicht doch kein so guter war. Das Sterben eines anderen Menschen... dies zu verantworten, mehr noch, dies in Auftrag zu geben, überhaupt erst ins Rollen zu bringen, wo es im normalen Lauf der Dinge noch weit entfernt gewesen wäre... Sie entstammte einer Familie voller Soldaten, die militärische Tradition wurde groß geschrieben bei ihr. Ihr Vater war im Kampf gefallen. Sie mochte selbst keinen Krieg, keinen Kampf miterlebt haben, aber sie wusste dennoch, was es hieß, so gut man dies in der Theorie wissen konnte. Sie war Realistin, niemand, der sich so etwas schön redete. Sie machte sich keine Illusionen über glorreiche Kämpfe – der Ruhm kam danach, aber Kampf selbst war schmutzig, davon war sie überzeugt, auch wenn sie noch nie einen erlebt hatte.
Mehr noch als dies jedoch wusste sie, was Tod, was Sterben hieß – und das nicht nur in der Theorie. Sie hatte es bei ihrer Mutter gesehen, hatte es erlebt, hatte sie auf ihrem letzten Weg begleitet. Sie war bei ihr gewesen, als sie immer kränker und kränker geworden war. Sie hatte sie gepflegt, ihr vorgelesen, sie beschäftigt und ihr Gesellschaft geleistet. Sie hatte es ertragen, wenn ihre Mutter unleidlich geworden war aufgrund der zunehmenden Schmerzen. Sie hatte es ertragen, wenn sie unfair geworden war. Sie hatte sich parallel dazu um den Haushalt gekümmert, in dem es neben den Sklaven nur ihre Mutter, sie und einen ihrer Brüder gegeben hatte – der sich allerdings so gekonnt aus jeder Verantwortung herausgezogen hatte, dass er genauso gut auch physisch abwesend hätte sein können, so wie die anderen zwei. Sie dachte nicht gern an diese Zeit, aber in diesem Moment tat sie es, mehr noch, sie war gefangen im Strom ihrer Erinnerungen. Und dieser trug sie immer weiter. Trug sie weiter, bis zu den Momenten, die sie so massiv ausgeklammert hatte aus ihrem Bewusstsein, dass sie ihr Denken nicht mehr berühren konnten, dass sie nur wie eiternde Wunden tief am Grund ihrer Seele schwärten. Sie wusste, was Sterben hieß. Sie hatte es erlebt. Sie war da gewesen, nicht nur über den langen Verlauf der Krankheit ihrer Mutter hinweg, sondern auch in den letzten Wochen, die ihr geblieben waren. Sie hatte über sie gewacht, Stunde um Stunde um Stunde. Sie hatte ihre Hand gehalten, hatte an ihrem Bett gesessen. Hatte gesehen, wie der Körper immer schwächer geworden war, gehört, wie es ihr immer schwerer gefallen war zu atmen. Hatte gespürt, wie es ihr immer schwerer gefallen war zu leben. Sie war an die Grenzen ihrer Kraft gekommen und hatte sie überschritten in diesen Wochen, hatte sich kaum von der Seite ihrer Mutter gelöst, hatte sich an ihr Bett gefesselt gefühlt und war doch immer wieder an den Moment gekommen, an dem sie es nicht mehr ausgehalten hatte. An dem sie hinaus musste, an die frische Luft, an dem sie in den Himmel geschrien und die Götter verflucht hatte, weil sie den Schmerz anders nicht mehr hatte kanalisieren können. Sie hatte Bäume umarmt, weil sie Menschen nicht an sich hatte heranlassen können, keinen außer ihrer Mutter – und von ihr konnte sie keine Kraft bekommen, weil dies der eine Mensch war, für den sie ihre gesamte Kraft aufbrauchte. Und sie war wieder zurückgegangen, getrieben von Gewissen, Pflichtbewusstsein, Liebe und dem Gedanken: was, wenn es jetzt so weit ist. Hatte sich zugleich gewünscht, dass es endlich so weit wäre, dass ihre Mutter endlich starb, damit sie Frieden fand, aber auch, damit sie, Seiana, endlich wieder zur Ruhe finden konnte, endlich diesem Druck entrinnen konnte – und genau das wiederum hatte ihr ein nur noch schlechteres Gewissen verschafft, noch größeres Pflichtbewusstsein, noch größere Schuldgefühle. Weil sie gewusst hatte, dass sie sich den Tod ihrer Mutter aus den falschen Gründen wünschte, aus egoistischen Gründen. Und sie hatte sich wieder an das Bett ihrer Mutter gesetzt. Stunde um Stunde um Stunde. Um es auszuhalten. Das rasselnde Geräusch ihres Atems. Das gelegentliche Zucken des Körpers, der immer seltener wach wurde. Das Unverständnis in den trüben Augen, wenn der Körper doch wach wurde, die Unklarheit, das fehlende Erkennen, da ihre Mutter noch weit seltener den Zustand des wirklich Bewussten erreichte. Und die ganz profanen Dinge... Das Unvermögen, sich um sich selbst zu kümmern. Nicht mehr in der Lage zu sein, zu essen, zu trinken, sich zu waschen... die Körperfunktionen unter Kontrolle zu halten. Ihre Mutter, die immer so penibel gewesen war, so auf Reinlichkeit bedacht, so stolz gewesen war auf ihr selbst im Alter noch gutes Aussehen, und die so selbständig gewesen war, die sich um alles gekümmert hatte nach dem Tod ihres Mannes – die dankbar gewesen war um jede Hilfe, die sie von den Verwandten bekommen hatte, die sich aber dennoch alleine um vier Kinder gekümmert hatte, die es ihr alles andere als leicht gemacht hatten. Es war... so... schwer gewesen, diesen Menschen so hilflos zu sehen und dabei selbst so hilflos zu sein. So unfähig. So machtlos.
Aber Seiana war zurückgekommen, jedes Mal, wenn es sie fortgejagt hatte. Um es auszuhalten, diesen Menschen vergehen, verwittern zu sehen, wie einen alten Baum, dessen Wurzeln nicht mehr genug Kraft aus dem Boden ziehen konnten, diesen Menschen, mit dem sie so viel verband, so viel Widersprüchliches – so viel Liebe, aber zugleich auch so viel Pflicht und Schuld und Verantwortung. Was das Aushalten nur umso schwerer machte, weil es ihr unmöglich war, selbst Frieden zu finden. Nicht einmal dann, als ihre Mutter ihn endlich fand.
Seiana wusste, wusste nur allzu gut, was es hieß, einem Menschen beim Sterben zuzusehen. Sie wusste, was Sterben hieß. Langsames, qualvolles Sterben. Und genau das wollte sie für ihn. Egal ob dieser Wunsch nun verständlich war oder nicht, gerechtfertigt oder nicht, gut war oder nicht. Sie wollte, dass er starb, und sie wollte, dass er dabei litt.
Natürlich kommst du durch.
Durch diesen tobenden Sandsturm.
Diesen metaphysischen, symbolischen Sandsturm.
Doch auch wenn er metaphysisch und symbolisch ist,
wird er dir wie mit tausend Rasierklingen das Fleisch aufschlitzen.
Das Blut vieler Menschen wird fließen, auch dein eigenes.
Warmes, rotes Blut.
Du wirst dieses Blut mit beiden Händen auffangen.
Es ist dein Blut und das der vielen.
Und wenn der Sandsturm vorüber ist,
wirst du kaum begreifen können,
wie du ihn durchquert und überlebt hast.
Du wirst auch nicht sicher sein,
ob er wirklich vorüber ist.
Nur eins ist sicher.
Derjenige, der aus dem Sandsturm kommt,
ist nicht mehr derjenige, der durch ihn hindurch gegangen ist.
Darin liegt der Sinn eines Sandsturms.
Aus: "Kafka am Strand" von Haruki Murakami