Ein angedeutetes Schmunzeln umspielte ihre Mundwinkel, als der Duccier relativ freimütig zugab, selbst das ein oder andere von den Erzählungen auf der Straße gestreut zu haben. Sie nickte zustimmend, als er geendet hatte – und übersah, wie er versuchte einem der Sklaven ein Zeichen zu geben, weil ihr in diesem Moment die Tafel auffiel. Oder besser gesagt: das Siegel, welches sie effektiv für einige Augenblicke in seinen Bann zog, so sehr, dass sie für nichts Augen oder Ohren hatte, was sich außerhalb dieses winzigen Raums abspielte, der das Siegel und sie einnahm und innerhalb eines einzigen Lidschlags gefüllt war mit Bildern.
Als Seiana wieder auftauchte, langsam, dachte sie zunächst kaum daran, dass der Duccius etwas gemerkt haben könnte. Und als sie seiner gewahr wurde, versuchte sie, nahtlos an das Gespräch anzuknüpfen, und seine erste Reaktion machte ihr berechtigte Hoffnung, dass ihm entweder tatsächlich nichts aufgefallen oder er taktvoll genug war, einfach darüber hinweg zu gehen, was auch immer er bemerkt haben mochte. Aber dann kam er zu ihr und griff nach der Tafel, bevor sie ihn daran konnte. Oh, sie versuchte es noch, im ersten Augenblick, sie reagierte reflexartig, neigte sich leicht nach vorn und versuchte im Gegenzug nach der Tafel zu greifen, um sie wieder an sich zu nehmen, aber in diesem Moment war es schon zu spät – einen weiteren machte keine Anstalten mehr, sie noch zu bekommen. Dieser erste Augenblick war aus reinem Impuls heraus geschehen, aber im nächsten hatte schon wieder ihre Kontrolle die Oberhand, die sie daran hinderte, etwas zu tun, was sie unter die Kategorie sich gehen lassen einordnete. In diesem Fall noch schlimmer: sich verraten, mit dieser Reaktion, noch mehr als ohnehin schon.
Langsam ließ sie sich also wieder zurück sinken und beobachtete ihn, ihr Gesicht verschlossen, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, die Kiefer so angespannt wie ihr Hals und ihre Schultern. Und wartete. Darauf, dass er ihr die Tafel zurückgab, darauf, dass er etwas sagte, darauf, dass er irgendetwas tat. Idealerweise: einfach die Tafel wieder hinlegen und kein Wort darüber verlieren.
Dass es so einfach nicht werden würde, war ihr schon in dem Moment klar gewesen, als er sich die Nachricht einfach genommen hatte. Dennoch lief es ihr heiß und kalt den Rücken hinunter, als der Duccius sie nun tatsächlich darauf ansprach. Sie begegnete seinem Blick und versuchte ihm standzuhalten, öffnete den Mund, wollte etwas sagen, leugnen, verharmlosen, oder vielleicht auch erklären – dass sie nach wie vor nicht wusste, von wem die Botschaft denn nun genau war. Aber sie presste die Lippen wieder aufeinander, bevor ein Wort darüber kommen konnte. Sie wusste, dass sie sich verhaspeln würde, bei allen Varianten, die letztlich nur dem Zweck dienen würden, auszuweichen. Was diese Sache betraf, fehlten ihr die Worte dafür, die Fantasie, sich etwas auszudenken, was annähernd glaubhaft gewesen wäre, und nicht zuletzt die kühle Selbstsicherheit, es so zu präsentieren, dass es Nachfragen von vornherein lächerlich machte und alles weitere einfach an ihr abprallen ließ. Der Sicinius und alles, was mit ihm zu tun hatte, traf einen höchst empfindlichen Nerv bei ihr, und sie hasste ihn – und sich – nur umso mehr dafür, dass sie das nicht in den Griff bekam. Nicht nachts, in ihren Träumen, nicht tags, wenn sie etwas daran erinnerte.
Mit halbgaren Ausflüchten, die noch dazu schlecht vorgebracht wurden, würde sie sich wohl nur erst recht verdächtig machen. Und lächerlich. Und das immerhin konnte sie vermeiden. Trotzdem wandte sie ihren Blick ab, wich dem seinen aus und sah für endlose Augenblicke zur Seite, während sie unbewusst eine Hand zur Faust ballte. „Ja“, gestand sie schließlich ein. Es spielte keine Rolle, von wem die Nachricht genau war. Es ging um den, der ihre Reaktion ausgelöst hatte, nicht um den, der möglicherweise die Worte auf jener Tafel verfasst hatte. „Davon kannst du ausgehen.“ Erst danach schaffte sie es, ihn wieder anzusehen, und das auch nur kurz. Ihr Blick wanderte gleich darauf zu der Tafel in seiner Hand, und sie streckte die ihre danach aus, die Faust dabei lockernd, nicht in der Absicht sie ihm wegzunehmen, aber doch in einer auffordernden Geste – und änderte noch in derselben Bewegung ihre Absicht, als sie bemerkte, dass ihre Hand zitterte. Sie erhob sich leicht, neigte sich nach vorn, um den Abstand zu ihm zu überbrücken, und legte ihre Finger an die Tafel, um einen Halt zu haben. Sie machte allerdings keine Anstalten, sie ihm aus der Hand zu reißen, sondern sah ihn nur auffordernd an. „Darf ich?“