Dass der Prätorianer anfing zu grinsen, beruhigte Seiana nicht wirklich. Auch nicht, dass er nun aufstand und sich verabschiedete, während seine Männer sich auf seinen Wink hin bereits zurückzogen. Seiana erhob sich ebenfalls und nickte, ein wenig steif diesmal. „Vale, Decurio“, antwortete sie, immer noch so kühl wie zuvor, und sie blieb stehen, bis der letzte Prätorianer das Atrium verlassen hatte.
Und auch danach verharrte sie, regungslos. Was da gerade passiert war, gefiel ihr nicht. Es gefiel ihr ganz und gar nicht. Dass der Prätorianer ihr nicht geglaubt hatte, war deutlich geworden – spätestens als er versucht hatte, ihr zu drohen. Zwar war er dann gegangen, ohne seiner Drohung Taten folgen zu lassen, aber sein Grinsen schien zu sagen, dass die Sache noch nicht ausgestanden war. Seiana mochte vielleicht nicht glauben, dass er sie wirklich in die Castra zerren und dort verhören – oder gar foltern – würde, immerhin war sie eine Decima und darüber hinaus Auctrix, aber dennoch… ein Rest Zweifel blieb. Und Prätorianer hatten zudem auch andere Möglichkeiten, ihre Ziele zu erreichen. Nur was das genau für Ziele sein sollten, war ihr schleierhaft. Aus seiner Ablehnung gegenüber dem Praefectus Urbi hatte Livianus nie einen Hehl gemacht, womit er sich selbst – und mit ihm die gesamte Gens – geradezu ins Schlaglicht der Aufmerksamkeit des Vesculariers und seiner Lakaien gerückt hatte. Die Übertragung des Kommandos der II. war ganz sicher nichts, was man als Affront hätte verstehen können, aber es gab auch die Deutung, dass ihr Onkel damit schlicht aus Rom weggelobt worden war. Und dann war dieses absolut lächerliche Verfahren gewesen… Aber Livianus hatte sich zurückgezogen, das war wahr genug. Selbst wenn er in Hispania seine Einstellung nicht änderte – was er ganz sicher nicht tun würde –, gab es doch nichts, was er von dort aus wirklich würde bewirken können. Dafür müsste er in Rom sein, und hier seine Macht, seine Kontakte, seinen Einfluss versuchen zu mehren und zu nutzen. Oder wenigstens einen hochrangigen Posten in Hispania innehaben, aber das hatte er nicht. Er hatte auch gar nicht darum gebeten, hatte sich nicht versetzen lassen wollen – er hatte sich zurückziehen wollen. Und das war eigentlich nicht unbekannt.
Was wiederum die Frage aufwarf, was genau die Prätorianer nun hier gewollt hatten. Wollten sie ihm erneut irgendetwas anhängen, um ihn endgültig unschädlich zu machen? Oder hatten sie irgendwelche Informationen, von denen Seiana nichts wusste? Oder stocherten sie nur einfach so herum? Alles erschien ihr möglich; es machte Sinn verhindern zu wollen, dass Livianus womöglich wieder kam und dort weiter machte, wo er aufgehört hatte; es machte auch Sinn, dass die Prätorianer etwas ausgegraben hatten, was sie nicht wusste, denn dass ihr Onkel sie lange nicht in alles eingeweiht hatte, war ihr klar; und die letzte Variante erschien ihr zwar am wenigsten wahrscheinlich, aber möglich war es natürlich trotzdem.
Und dann war da noch die Möglichkeit, dass es den Prätorianern gar nicht um Livianus ging. Dass ihr Onkel nur ein Vorwand war, den sie vorgeschoben hatten. Aber um wen sollte es sonst gehen? So weh es ihr tat, sich das einzugestehen, aber die Decima hatte in den letzten Jahren die Reißzähne verloren, einen nach dem anderen. Meridius, Livianus, Magnus… Mattiacus machte die meiste Zeit wenig von sich reden. Faustus war in Aegyptus. Blieb nur noch sie – und sie scheute davor zurück auch nur anzunehmen, es ginge um sie. Sicher, sie war die Chefin der Acta und hatte als solche durchaus einen gewissen Einfluss, aber die Acta unterstand dem Senat, und sie war nur eine Frau.
Also blieb die Frage: was hatten die Prätorianer tatsächlich gewollt?