Seiana saß da und grübelte. Katander war gerade hier gewesen, wie sie es gewünscht hatte, und sie hatten sich unterhalten. Wobei unterhalten das falsche Wort war. Viel gesprochen hatte keiner von ihnen beiden, und wenn, dann irgendwie… aneinander vorbei, hatte sie den Eindruck gehabt. Nicht so, dass es Missverständnisse gegeben hätte, aber so, dass keiner so wirklich auf das einging, was der andere gesagt hatte. Sie hatte gefragt, wie es ihm ergangen war – er hatte lediglich oberflächlich geantwortet, in einer Art, in der klar wurde, dass er nicht darüber reden wollte. Er hatte gefragt, wie es ihr ergangen war, und sie hatte ebenso geantwortet wie er. Sie hatten auch das Thema Archias kurz angeschnitten, aber auch hier wurde deutlich, dass keiner so wirklich über den Aelier reden wollte. Seiana wusste, wie nahe Katander ihm gestanden hatte, und sie konnte sich vorstellen oder vermutete zumindest, dass ihm sein Tod nahe ging. Aber sie selbst konnte nicht verdrängen, was passiert war, vor und nach der Entlobung, so viel Zeit inzwischen auch vergangen sein mochte. Und Katander… nun, Seiana mochte sich irren, aber sie hatte den Eindruck bekommen, dass Katander ebenso wenig über Archias reden wollte wie sie. Warum, darüber konnte sie nur mutmaßen, aber ihre Vermutung war, dass er ebenso wenig wie sie wirklich begriff, warum sein Herr sich getötet hatte – und bevor er womöglich schlecht über seinen toten Herrn und Freund sprach, mied er das Thema lieber. Aber das war nur eine Vermutung.
Erst, als die Sprache auf Elena gekommen war, war Katander ein wenig aufgetaut – ebenso wie Seiana. Sie erzählte ihm, dass sie sie nach Hispania geschickt hatte, zurück auf die Landgüter ihrer Familie, und dass sie ihn ebenfalls dorthin zu schicken gedachte. Dass Katander in Rom blieb und Elena wieder hergeholt wurde, war für Seiana keine Option. Sie wollte sie nicht hier haben. Und das aus mehreren Gründen.
Elena kannte sie zu gut, wusste zu gut, was in Seiana vorging, und sagte ihr, was sie darüber dachte. Bisher war das nie ein Problem gewesen – aber mittlerweile wollte Seiana das nicht mehr. Elena machte sich Sorgen um sie, darum, wie sie sich verändert hatte, und sie hatte mehr und mehr das Gefühl bekommen, dass darin ein Vorwurf lag, auch wenn dem nicht so war. So oder so wusste sie aber, dass Elena es für falsch hielt, dass sie sich immer mehr verschloss und immer kälter wurde – sie selbst allerdings war anderer Ansicht, und das war der Punkt, an dem ihre Freundschaft auf Dauer zerbrechen konnte, wenn er überstrapaziert wurde. Und dazu war es mehr und mehr gekommen. Seiana hatte sich zunehmend bedrängt gefühlt, selbst dann, wenn Elena gar nichts gesagt hatte. Es hatte gereicht, wenn sie sie einfach nur angesehen hatte, auf diese spezielle Art. Und als es dann so weit gekommen war, dass Seiana sich sogar bedrängt gefühlt hatte, wenn sie nur an Elena dachte, hatte sie kurzerhand beschlossen, dass das ein Ende haben musste. Da war ihr entgegen gekommen, dass Elena zugleich tieftraurig gewesen war über Katanders Verschwinden. Sie mochte ihre Sklavin sein, aber sie kannten sich von klein auf und waren schlicht Freundinnen – Seiana hätte es nie fertig gebracht, sie wegzubefehlen. So aber konnte sie ihr den Vorschlag machen, zurück nach Spanien zu gehen, wo sie sich erholen, Ablenkung finden konnte. Und Elena hatte dankbar eingewilligt, nicht ohne klar zu machen, dass sie es am liebsten sähe, wenn Seiana mitkäme – aber sie hatte eingewilligt. Und für Seiana hatte ihr Abschied vieles einfacher gemacht. Es gab nun niemanden mehr in Rom, der sie wirklich gut gekannt hätte, sah man einmal von Raghnall ab, der sie aber zum einen bei weitem nicht so gut kannte wie Elena, und der sich zum anderen ohnehin raushielt.
Dann war da Katander selbst. So wenig er auch etwas für das konnte, was sein Herr getan hatte – es änderte nichts an der Tatsache, dass die beiden in ihren Augen einfach zusammen gehörten. Bliebe er hier, würde er sie ständig an Archias erinnern, und das wollte sie nicht. Sie hatte mit dieser Sache abgeschlossen. Sie wollte nicht ständig eine lebende Erinnerung für ihre Fehler und ihr Scheitern vor ihrer Nase herumlaufen haben.
Und zu guter Letzt: Elena und Katander waren ein Paar. Und sie waren glücklich zusammen, oder jedenfalls waren sie es gewesen, selbst nach der Entlobung – bis Katander verschwunden war, nach Archias’ Tod. Seiana hatte keinen Grund zu der Annahme, dass die beiden nicht dort weitermachen würden, wo sie aufgehört hatten. Und das war etwas, was sie am allerwenigsten vor ihren Augen haben wollte. Sie war sich nicht einmal so sicher, ob sie das überhaupt würde ertragen können auf Dauer.
Nein, dass Elena zurück nach Rom kam und die beiden hier blieben, war ganz und gar keine Option. Aber Katander schien zum Glück nichts dagegen zu haben, im Gegenteil, er wirkte heilfroh über die Aussicht, Rom den Rücken kehren zu können. Und das war Grundvoraussetzung für das, was Seiana ihm als nächstes eröffnet hatte: dass sie ihn und Elena freilassen würde. Hätte sie den Eindruck gehabt, Katander wolle gern in Rom bleiben, hätte sie auch nur vermutet, er könnte entscheiden hier mit Elena zu leben, wenn er frei war, hätte sie damit noch länger gewartet, aber Katander schien weg zu wollen – nicht einfach nur zu Elena, sondern weg, weg von Rom. Also hatte sie es ihm gesagt, und sie hatte auch gleich zwei entsprechende Schreiben aufgesetzt, die die Freilassung bestätigten. Damit, und mit ihrer Zusage, dass sie sich um finanzielle Belange kümmern würde, war Katander dann verschwunden, um seine Abreise zu organisieren.
Und nun saß Seiana da und grübelte, über das Gespräch, über Katander und Elena, und über Archias. Sie hatte Archias überreden wollen, dass sie gemeinsam zur Hochzeit Elena und Katander die Freiheit schenkten. Dieser nicht umgesetzte Beschluss war letztlich das einzige gewesen, was wirklich noch offen geblieben war von dieser ganzen Sache. Das nun doch noch tun zu können… war unerwartet, und es verlieh diesem Abschnitt ihres Lebens eine Form von förmlichem Abschluss, den sie bislang nicht hatte finden können. Sie war ja nicht einmal dabei gewesen, als Archias die Verlobung hatte austragen lassen, weil er, dickköpfig wie er war, darauf bestanden hatte das selbst – und allein – zu tun. Jetzt hatte sie doch noch etwas bekommen, was sie hatte tun können, etwas zu erledigen, etwas, was einen offiziellen Charakter hatte. Sie hatte sich im Grunde schon damit abgefunden, dass sie das nie haben würde, und dass es nun doch so war… Sie wusste nicht so recht, ob das gut war oder schlecht. In diesem Augenblick fühlte es sich einfach nur merkwürdig an. Mit einem Seufzen setzte sie sich zurecht, zog ihre Schreibutensilien zu sich und begann, den Brief an Faustus aufzusetzen.