Ein merkwürdiger Zwischenfall. Seiana hätte am liebsten eine Hand über ihre Augen gelegt, aber sie blieb, wie sie war, hörte nur weiter zu. Als Axilla jedoch weiter sprach, konnte – und vor allem wollte – sie ein Seufzen nicht mehr unterdrücken. Sie hatte keine Ahnung, was in Verus vorging. Als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, hier, in der Bibliothek, da hatte er beinahe weinerlich geklungen, hatte darüber geklagt, wie hart das Leben ihm mitgespielt hatte, wie sehr ihn diese eine Schlacht auf offener See verfolgte, wie sehr er unter dem Erlebten litt. Nach wie vor, musste man sagen, immerhin hatte er sich einige Jahre irgendwo in die germanische – oder war es die britannische gewesen? – Wildnis zurückgezogen gehabt und kein Wort verlauten lassen über sich und sein Wohlergehen. Sie vermochte sich nicht vorzustellen, was passiert war, aber irgendwann in dieser selbstgewählten Einsamkeit musste wohl etwas geschehen sein, was ihn verändert hatte. Auf der einen Seite schien er die Erinnerungen nicht loszuwerden, nicht einmal ansatzweise – jedenfalls behauptete er das, denn ganz so sicher war sie sich angesichts Verus' widersprüchlichem Verhalten nicht mehr, dass er ihr da kein Schauspiel gezeigt hatte –; dann war da seine Litanei über die Liebe, und wie unsterblich er sich in die Octavia verliebt hatte, wie besonders das sei, das einzige was zähle im Leben; und dann war da seine neue Ergebenheit dem Vescularier gegenüber. Entweder also war alles Kalkül von ihm gewesen, weil er schlicht und einfach nur nach Macht strebte, ohne Rücksicht auf Verluste – oder er war in der Wildnis verrückt geworden.
Welches von beiden es nun sein mochte, darüber konnte ihr Axillas Erzählung auch keinen Aufschluss geben, wenngleich Seiana daraufhin eher dazu tendierte anzunehmen, Verus sei verrückt geworden. Macht brachte es ihm nicht im Geringsten, wenn er sich derart aufführte – es sei denn er hatte nur einmal seine Macht ausüben wollen. Was aber wiederum ein Indiz für Verrücktheit wäre, denn das, was Axilla schilderte, klang einfach idiotisch. Geld auf der Straße zu übergeben, noch dazu eine nicht unbeträchtliche Menge – Seiana ging einfach mal davon aus, dass Axillas Dos nicht unbeträchtlich war –, darauf zu bestehen als Beamter der kaiserlichen Kanzlei, war lächerlich. Und es hatte mit Sicherheit keinen Mehrwert für Verus gehabt, hätte es auch nicht gehabt, wäre die Iunia der Forderung nachgekommen. „Natürlich verstehe ich das. Ich kann sein Verhalten nicht nachvollziehen.“ Bei jedem anderen Decimer hätte sie sich nun für sein Verhalten entschuldigt. Verus jedoch zählte für sie nicht mehr dazu. Er war ein Decimer, er würde diesen Namen behalten, daran konnte sie nichts ändern – aber er gehörte für sie nicht mehr zur Familie. „Im Grunde kann ich dir nur raten, es zu ignorieren, sofern er dir erneut begegnet.“