Beiträge von Decima Seiana

    Ein merkwürdiger Zwischenfall. Seiana hätte am liebsten eine Hand über ihre Augen gelegt, aber sie blieb, wie sie war, hörte nur weiter zu. Als Axilla jedoch weiter sprach, konnte – und vor allem wollte – sie ein Seufzen nicht mehr unterdrücken. Sie hatte keine Ahnung, was in Verus vorging. Als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, hier, in der Bibliothek, da hatte er beinahe weinerlich geklungen, hatte darüber geklagt, wie hart das Leben ihm mitgespielt hatte, wie sehr ihn diese eine Schlacht auf offener See verfolgte, wie sehr er unter dem Erlebten litt. Nach wie vor, musste man sagen, immerhin hatte er sich einige Jahre irgendwo in die germanische – oder war es die britannische gewesen? – Wildnis zurückgezogen gehabt und kein Wort verlauten lassen über sich und sein Wohlergehen. Sie vermochte sich nicht vorzustellen, was passiert war, aber irgendwann in dieser selbstgewählten Einsamkeit musste wohl etwas geschehen sein, was ihn verändert hatte. Auf der einen Seite schien er die Erinnerungen nicht loszuwerden, nicht einmal ansatzweise – jedenfalls behauptete er das, denn ganz so sicher war sie sich angesichts Verus' widersprüchlichem Verhalten nicht mehr, dass er ihr da kein Schauspiel gezeigt hatte –; dann war da seine Litanei über die Liebe, und wie unsterblich er sich in die Octavia verliebt hatte, wie besonders das sei, das einzige was zähle im Leben; und dann war da seine neue Ergebenheit dem Vescularier gegenüber. Entweder also war alles Kalkül von ihm gewesen, weil er schlicht und einfach nur nach Macht strebte, ohne Rücksicht auf Verluste – oder er war in der Wildnis verrückt geworden.


    Welches von beiden es nun sein mochte, darüber konnte ihr Axillas Erzählung auch keinen Aufschluss geben, wenngleich Seiana daraufhin eher dazu tendierte anzunehmen, Verus sei verrückt geworden. Macht brachte es ihm nicht im Geringsten, wenn er sich derart aufführte – es sei denn er hatte nur einmal seine Macht ausüben wollen. Was aber wiederum ein Indiz für Verrücktheit wäre, denn das, was Axilla schilderte, klang einfach idiotisch. Geld auf der Straße zu übergeben, noch dazu eine nicht unbeträchtliche Menge – Seiana ging einfach mal davon aus, dass Axillas Dos nicht unbeträchtlich war –, darauf zu bestehen als Beamter der kaiserlichen Kanzlei, war lächerlich. Und es hatte mit Sicherheit keinen Mehrwert für Verus gehabt, hätte es auch nicht gehabt, wäre die Iunia der Forderung nachgekommen. „Natürlich verstehe ich das. Ich kann sein Verhalten nicht nachvollziehen.“ Bei jedem anderen Decimer hätte sie sich nun für sein Verhalten entschuldigt. Verus jedoch zählte für sie nicht mehr dazu. Er war ein Decimer, er würde diesen Namen behalten, daran konnte sie nichts ändern – aber er gehörte für sie nicht mehr zur Familie. „Im Grunde kann ich dir nur raten, es zu ignorieren, sofern er dir erneut begegnet.“

    „Nun... nach Germanien wirst du einige Wochen unterwegs sein. Lediglich für aktuelle Ereignisse nehmen die meisten eine solch lange und beschwerliche Reise – die noch dazu mit erheblichen Gefahren verbunden ist – nicht auf sich. Die Acta arbeitet mit den Informanten und Schreibern vor Ort, aber wie du richtig bemerkt hast, dauert es eine Weile, bis Botschaften ankommen.“ Sie machte eine kleine Pause, bevor sie fortfuhr: „Wenn es dir tatsächlich ernst damit ist, werde ich dich selbstverständlich nicht daran hindern. Du solltest nur die Gefahren einer Reise mit dem jeweiligen Nutzen sorgfältig aufwiegen.“ Erneut eine kleine Pause, bevor sie sich dem nächsten Themenvorschlag zuwandte. „Was das Wissen der Römer um ihre eigene Geschichte, ihre herausragenden Bauten oder Menschen geht – ich weiß nicht, mit welchen Römern du gesprochen hast, aber ich bezweifle doch stark, dass das Wissen über elementare Bereiche unserer Kultur so minimal ist, wie du offenbar denkst.“ Jetzt zeigte sich ein vages Lächeln auf ihren Zügen, das eine winzige Note Herablassung in sich tragen mochte. Noch weniger konnte sie sich vorstellen, dass eine Partherin mehr wusste über Rom als ein Römer, auch wenn sie das scheinbar selbst glaubte. Aber mit etwas Recherche traute sie ihr dennoch zu, vernünftige Artikel zu diesem Thema zu schreiben. „Selbstverständlich kannst du dennoch über diese Themen schreiben. Sie eignen sich sehr gut für den kulturellen Teil.“

    Über ihren Vater schien die Iunia so wenig reden zu wollen wie Seiana über ihren Bruder oder dessen Verbleib, aber das störte sie nicht – ganz im Gegenteil. Wenn Axillas Vater ebenfalls Soldat, ebenfalls Tribun gewesen war, dann war auch Seiana nicht sonderlich erpicht darauf von ihm zu hören, nicht jetzt, wo Faustus irgendwo im Süden Ägyptens unterwegs war und kämpfte und sie gerade erst über ihn gesprochen hatten. Sie wollte sich ablenken von diesen Gedanken, nicht über etwas reden, was sie erst recht an ihn denken ließ.


    So nahm Seiana den Themenwechsel nur allzu gern zu Kenntnis – bis sie begriff, worum es nun ging. Sie stand kurz davor, die Augen zu verdrehen, beherrschte sich nun allerdings wieder wie eh und je – lediglich ein kurzes Zucken um ihre Mundwinkel sowie ein angedeutetes Zusammenziehen ihrer Brauen ließ ihren Unwillen erkennen. „Verus.“ Was hat er nun schon wieder angestellt?, lag ihr auf den Lippen, aber sie verkniff sich auch dies. „In der Tat, ja. Entfernt. Worum geht es denn?“

    Seiana nickte leicht auf den impliziten Dank hin. Sie würde sehen, was Faustus dazu sagen würde, sowohl was ihn selbst betraf als auch den Octavius. Davon abgesehen fielen ihr sonst wenige geeignete Kandidaten ein. Mattiacus war noch immer unverheiratet... bei dem wurde es auch langsam Zeit, fand sie, dass er sich eine Frau suchte. Vielleicht wäre auch er nicht abgeneigt – aber er war hier in Rom, hier konnten Axilla und ihre Verwandten selbst in Aktion treten, wenn das für sie eine Option darstellte.


    Dass Axilla dann jedoch zunächst um Worte verlegen zu sein schien, entging Seiana keineswegs. Und das wiederum machte sie verlegen. Sie ließ sich nicht gern anmerken, was sie tatsächlich empfand, aber was Faustus betraf, gelang ihr das nicht so gut, das wusste sie selbst. Und die Iunia gehörte darüber hinaus zu jenen Menschen, bei denen sie noch weniger Schwäche zeigen wollte als ohnehin schon, wenn es denn überhaupt möglich war, einen Unterschied zu machen zwischen den Menschen, mit denen sie umging. Sie nippte an ihrem Becher, diesmal nicht weil sie wirklich etwas trinken wollte, sondern um ihre Hände zu beschäftigen und ihr Gesicht wenigstens teilweise und wenigstens für Augenblicke zu verbergen. „Nun“, machte sie anschließend. „Ich... ich kann mir vorstellen, dass er viel um die Ohren haben wird. Ich habe ihm erst vor einiger Zeit geschrieben. Ich hoffe, der Brief ist inzwischen angekommen...“ Ihre Stimme verlor sich, und Seiana räusperte sich. „Dein Vater war Tribun?“ fragte sie unvermittelt nach, mehr um abzulenken denn aus echtem Interesse.

    „Der Praefectus Urbi ist nicht bekannt dafür, nachzugeben oder einmal getroffene Entscheidungen zu revidieren und so womöglich einen Fehler einzugestehen. Dass er dir die Sklaven übergeben hat, ist im Grunde schon erstaunlich.“ Flüchtig dachte sie an Mattiacus. Aber der würde Axilla auch nicht weiter helfen können, als Bruder von Livianus. Was Axilla bräuchte, wäre ein Verbündeter, der mit dem Vescularier auf gutem Fuß stand – und genug auf Augenhöhe war, dass er um einen solchen Gefallen bitten konnte. „Ich fürchte, dass ich dir kaum raten, was du tun sollst. Ich kann dir nur meine Unterstützung anbieten, solltest du dich entschließen, es noch einmal zu versuchen.“


    Als Axilla auf ihr nächstes Angebot einging, flog ein vages Lächeln über Seianas Züge. „Natürlich ohne Angebot. Ich werde meinem Bruder schreiben und ihn bitten, mit dem Octavius einmal unverbindlich zu sprechen.“ Der auch noch unverheiratet war. Und aus der Sache mit der Hochzeit kaum herauskommen würde, so wie sie es beurteilte – Lucilla konnte hartnäckig sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Sie musterte die Iunia, nun ein wenig nachdenklich. Faustus hatte zwar im Moment Celeste, den er vorschieben konnte... aber um eine Heirat würde er nicht herum kommen, irgendwann. Und eine Frau, die das Bürgerrecht bereits hatte, war sicher besser – gar nicht zu reden davon, dass Axilla nicht aus irgendeiner Gens entstammte, sondern einen alten, ehrenvollen Namen trug, auch wenn in letzter Zeit nicht wirklich ein Iunier von sich reden gemacht hatte. Dazu kam, dass sie keine Ahnung hatte, wie weit Celeste tatsächlich zu gehen bereit war in dieser Scharade... andererseits traf das auch auf Axilla zu. Seiana war sich nicht sicher, ob die Iunia sich auf eine solche Ehe einlassen würde – wenn sie die Wahrheit wusste, und dass sie diese erfahren sollte, wenigstens in Teilen, stand für Seiana fest. Nicht aus Freundlichkeit gegenüber der Iunia, sondern weil sie glaubte, dass Faustus' Ehe nur so funktionieren könnte – wenn seine Frau wusste, worauf sie sich einließ. Wenn klar war, dass die Verbindung rein politisch und gesellschaftlich motiviert war. Wenn das klar war... nun, Faustus war durchaus keine schlechte Partie, fand sie, und er war freundlich, zuvorkommend, ein angenehmer Gesprächspartner. Sie beschloss, ihm von dieser Idee zu schreiben und vorsichtig anzufragen, was er davon hielt. Sie selbst wusste zwar – wenn sie denn darüber nachdachte – immer noch nicht so recht, was sie von der Iunia halten sollte, aber wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass das größtenteils subjektiv war und auf Emotionen beruhte. Sachlich gesehen hatte die Iunia ihr keinen Grund gegeben, sich über sie zu beklagen – sah man einmal davon ab, dass sie ihr den Verlobten abspenstig gemacht hatte, aber das war Vergangenheit, und Seiana zog es vor, nicht mehr darüber nachzudenken. Wenn sie das Testament bedachte und das, was sonst noch so passiert war, dann hatte die Iunia ihr damit wohl eher einen Gefallen getan. Wäre sie nicht gekommen, wäre es eine andere Frau gewesen, bei der Archias nicht hätte widerstehen können, weil sie anders war, lockerer, besser. Er hatte ja sogar davon gesprochen, sich in eine Lupa verlieben zu können.
    So oder so galt jedoch: zunächst musste sie Faustus schreiben und ihn fragen, was er davon hielt. Vorher würde sie kein Wort über diese Idee gegenüber der Iunia verlieren.


    Bei deren Frage über ihren Bruder konnte selbst Seiana, die ihre Beherrschung so perfektioniert hatte, nicht verhindern, dass ein sorgenvoller Ausdruck über ihr Gesicht flog. Faustus bedeutete ihr zu viel, als dass sie auch bei ihm ihre übliche Beherrschung an den Tag hätte legen können. „Ja, er kämpft mit der Legion im Süden. Seinen Briefen nach zu urteilen geht es ihm gut, aber... Nun, der letzte Brief ist schon eine Weile her. Aber das ist kein Wunder, betrachtet man die Situation, in der er sich befindet, und die Entfernung zu Rom.“

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    Es war wahnsinnig interessant, das Mienenspiel des Decimers – oder sollte er nun denken: Ex-Decimer? Immerhin gehörte Raghnall ja zu Seiana – zu beobachten. Zuerst schien er fassungslos, dann allerdings zeigte sich immer mehr Wut, bis daraus schließlich unverhohlener Hass wurde. Einen Augenblick war Raghnall sich nicht so sicher, ob er nicht nun irgendwas handfestes abbekommen würde – was aber auch nicht so schlimm gewesen wäre; er war Spieler, es war sozusagen sein Ding, Risiken einzugehen und damit umzugehen. Aber: dazu hatte sich der Decimus dann doch gut genug im Griff. Er atmete nur einmal durch und antwortete dann. Und Raghnall? Der stand da und hörte zu. Und nickte. Und lächelte. Nicken und lächeln, nicken und lächeln. Als der Decimus geendet hatte, straffte Raghnall seine Haltung ein wenig, und er konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. „Ich werde es ihr ausrichten.“ Pause. Dann, und diesmal erneut in diesem gespielt-hilfreichen Tonfall, den vielleicht ein Kind anschlagen mochte, wenn es meinte jemandem etwas erklären zu müssen: „Ich würde an deiner Stelle aber nicht darauf zählen, dass sie noch eine Antwort schickt. Vale!“ Mit diesen Worten wandte Raghnall sich ab und ging, ein Pfeifen auf den Lippen, davon.





    SKLAVE - DECIMA SEIANA

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    Der Türsteher reagierte gar nicht mehr auf seine Spitze, aber das tat Raghnalls guter Laune keinen Abbruch – auch wenn er gerade eine weitere Wette mit sich selbst verloren hatte, denn er war sich sicher gewesen, dass der Kerl motzen würde über den frechen Kommentar. Aber gut, so leicht konnte man manchmal Siege davon tragen, das war auch etwas.


    Er wartete also – aber entgegen seiner Erwartungen kam nicht irgendwann ein Sklave, der ihn wenigstens ins Atrium bat. Nein, der Decimer, dem er die Botschaft überbringen sollte, kam zur Tür. Mal abgesehen davon, dass der Kerl mies aussah, also wirklich mies – genauer gesagt sah er so aus, wie Raghnall sich fühlte, wenn er eine Nacht durchgezecht hatte –, war das nun etwas verwunderlich. Und unhöflich, das auch, immerhin war er ja in offiziellem Auftrag hier. Und es machte seinen Auftrag ein wenig schwieriger, denn was er zu sagen hatte, war wenigstens in Teilen vertraulich, also nicht dafür gedacht, es hier auf offener Straße herauszuplärren. Oder auch nur zu sagen. Der Ianitor stand da ja auch noch rum und konnte zuhören. Aber Raghnall wäre nicht Raghnall, wäre er nicht auch für so einen Fall gewappnet.


    „In der Tat“, lächelte er dem Mann also höflich entgegen, ungeachtet der Tatsache, wie fertig er wirkte, ungeachtet der Tatsache, wie unhöflich das war, und ungeachtet der Tatsache, dass es Zuhörer gab. „Meine Herrin Decima Seiana hat mir aufgetragen, dir folgende Botschaft zu bringen: Nicht ich bin es, die dich zu einer Entscheidung zwingt. Du bist es, der seine Entscheidung bereits gefällt hat. Gegen seine Familie. Gegen Rom. Für Macht. Ein wahrer Decimus handelt anders. Hier machte Raghnall eine kleine Pause, damit deutlich wurde, dass die Botschaft nun zu Ende war. Bevor der Decimer aber reagieren konnte, fügte er noch etwas an, in einem gespielt-hilfreichen Tonfall: „Das heißt, dass sie dich nicht mehr als Decimus sieht.“





    SKLAVE - DECIMA SEIANA

    Seiana legte die Tafel mit dem Testament in einer bedächtigen Bewegung auf den kleinen Tisch, der bei den Korbstühlen stand. Sie hatte geglaubt, den Mann zu kennen, der das geschrieben hatte, und in der Tat konnte sie ihn in jenen Worten auch irgendwie erkennen. Es war sein Stil, seine Art. Archias hatte sich schon immer durch kleinere Verrücktheiten hervor getan, jedenfalls in ihren Augen, und genau das war es ja gewesen, was sie so fasziniert hatte an ihm – seine unkonventionelle Ader, seine Spontaneität, seine Einstellung, dass gesellschaftliche Anforderungen doch nicht so wichtig seien. Er war ihr Gegenstück gewesen, in dieser Hinsicht, und sie hatte es genossen, sich in seiner Gegenwart ein wenig… lockerer zu fühlen. Freier. Wo das jedoch hinführen konnte, welche Einstellung ein solcher Mann dann in Bezug auf seine Versprechen hatte, hatte sie dann erfahren müssen. Und wenn sie nun sein Testament las, dann drängte sich ihr regelrecht der Gedanke auf, dass es besser so gewesen war. Wenn er tatsächlich gedacht hatte, sie sei nicht gut genug für ihn, wenn er geglaubt hatte, sie könne sonst niemanden bekommen, dann wagte sie zu bezweifeln, dass eine Ehe tatsächlich funktioniert hätte. Und was im Testament sonst noch so stand, war zwar teilweise durchaus im Rahmen dessen, was sich Archias schon immer an Verrücktheiten geleistet hatte – teilweise ging es aber doch deutlich darüber hinaus. Seiana war sich nicht so sicher, wie klar sein Verstand gewesen war, als er das geschrieben hatte.


    Sie musterte Axilla, als diese mögliche Gründe nannte, warum der Praefectus Urbi das Erbe zumindest insoweit freigegeben hatte, dass er ihr die Sklaven hatte zukommen lassen. Dass er einfach seine Ruhe hatte haben wollen, glaubte sie weniger. Schon eher kam für sie in Betracht, dass er die Iunia einfach süß genug gefunden hatte, um ihr einen Gefallen zu tun. Welcher Mann konnte denn auch widerstehen, wenn Axilla ihn mit ihren großen grünen Augen ansah? Archias hatte es jedenfalls nicht gekonnt. Und auch wenn Seiana inzwischen über den Punkt hinaus war, an dem sie felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass die Iunia das wusste und diese Waffe gezielt und mit voller Absicht einsetzte, um zu erreichen was sie wollte – das änderte nichts an den Tatsachen. Axilla war, wie Archias es so schön formuliert hatte, anders. Anders im Sinne von besser. Natürlich reagierten Männer entsprechend darauf.
    Seiana unterdrückte ein Seufzen ebenso wie ein Stirnrunzeln, das diese Gedanken eigentlich auslösen wollten. Sie unterdrückte auch die Grimasse, in die sich ihre Gesichtszüge verzerren wollten, als Axilla den Pompeius ansprach. Jener Abend bei ihm war ihr nicht wirklich in guter Erinnerung geblieben, und nur weil sie in der Lage war, diese – wie so vieles andere auch – hervorragend zu verdrängen, war ihr Axillas Gesellschaft beispielsweise in der Acta, trotz aller gefühlten Holprigkeit, nicht allzu unangenehm. In diesem Moment allerdings dachte sie selbstverständlich daran, als der Name des Pompeius fiel, und sie mühte sich, das Bild vor ihrem inneren Auge sofort wieder zu verdrängen. Und ihre Bemühungen waren wenigstens insofern von Erfolg gekrönt, dass ihre Miene neutral blieb.
    „Das ist durchaus möglich, dass er so seine Zustimmung zeigen wollte. Dennoch ist es natürlich bedauerlich, dass er den Rest nicht auch freigegeben hat.“ Sie nippte an ihrem Becher und ließ sich Axillas Worte durch den Kopf gehen. Eine Bindung, die gegensätzlicher war. Sie wusste, was die Iunia damit meinte. Ein Mann, der dem Praefectus Urbi nahe stand, wäre zwar ganz sicher keine schlechte Wahl, jedenfalls für eine Frau aus einer Familie, die nicht mit dem Praefectus Urbi halb und halb auf Kriegsfuß stand – dennoch war sie sich auch nicht sicher, ob sie selbst eine größere Nähe zum Vescularier gewollt hätte, wäre Livianus nicht mit ihm verfeindet. „Nun… es kann nicht schaden, sich neutral zum Praefectus Urbi zu positionieren“, formulierte sie vorsichtig. „Und da sind die Octavier sicher eine gute Wahl.“ Einige Familienmitglieder waren dem Vescularier zugeneigt, andere wiederum nicht, aber man hörte von keinem besonders viel, dass er sich lautstark auf der ein oder anderen Seite positioniert hätte. Im Gegensatz zu Livianus, der klar Stellung bezogen hatte. Oder Verus, der es zumindest ihr gegenüber ebenso klar getan hatte. „Ich bin mir nicht ganz sicher, habe aber Grund zu der Vermutung, dass Octavius Dragonum einer Heirat nicht abgeneigt wäre.“ Warum sonst hätte Faustus den Mann sonst für sie, Seiana, im Blick gehabt haben? „Ich kenne ihn nicht, aber mein Bruder dient unter ihm als Tribun. Ich könnte ihm schreiben, wenn du möchtest.“

    Seiana beobachtete, wie Katander noch die Wachstafel übergab und dann verschwand, ohne ein Wort gesagt zu haben. Er hatte ihr nur kurz zugenickt, als sie von Elena gesprochen hatte. Irgendwie machte sie das ein wenig besorgt – aber wer wusste schon, wo und wie er die Zeit seit dem Tod seines Herrn hatte verbringen müssen.


    Axillas Worte lenkten sie jedoch für den Moment hinreichend ab von den Gedanken über Katander. Sie neigte sich leicht vor und nahm die Tafel entgegen, die die Iunia ihr reichte, warf einen schnellen Blick darauf in der Absicht, sie lediglich rasch zu überfliegen. Allerdings stockte sie schon nach wenigen Worten, beim ersten Absatz. Dann beim nächsten. Und bei nahezu jedem darauffolgenden. Sie konnte gar nicht anders, als das Schriftstück gänzlich zu lesen, und als sie fertig war, hatten sich ihre Brauen teils verwundert, teils verständnislos zusammengezogen. „Das hier... ist sein Testament?“ Sie warf erneut einen Blick darauf, aber ihre Verwirrung wurde nicht geringer, als sie sich gewisse Stellen zum zweiten Mal durchlas. Da war die Tatsache, dass er ihr etwas vererbte. Katander, das hatte sie noch verstanden, warum Archias ihr diesen Sklaven geschenkt hatte. Aber warum wollte er ihr noch etwas vererben? Hatte ihm etwa das Desaster mit der Taberna medica nicht gereicht? Oder hatte er ihr auf diese Art noch einmal, ein letztes Mal, unter die Nase reiben wollen, dass sie – dank ihm! – immer noch unverheiratet war, weil sie Jahre vergeudet hatte in dem Glauben, die Hochzeit mit ihm sei beschlossene Sache? Denn dass sie nichts von ihm würde erben können, musste ihm so klar gewesen sein wie jedem anderen Menschen. Und dann diese anderen kruden Kommentare, deren Sinn Seiana weder verstand noch nachvollziehen konnte.


    „Was er mir geschrieben hat, war nicht viel“, sagte sie schließlich. Nicht genug, um daraus schließen zu können dass es wirr sei. Im Gegensatz zu diesem Testament. „Nur, dass er mir Katander schenken wollte. Dazu noch einige Abschiedsfloskeln.“ Ihre Haltung, ihr Wesen war deutlich abgekühlt. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass Archias mit der ihr zugedachten Erbschaft nur eines hatte bezwecken wollen: ihr klar zu machen, wie erbärmlich sie doch war. So erbärmlich, dass niemand sie wollen würde. Seianas Lippen wurden für Augenblicke zu einem schmalen Strich, bevor sie sich in die Realität zwang. „Nun, wie ich sagte, das ist sehr großzügig von dir. Und es ist bewundernswert, dass du nicht nur diese Mühen auf dich genommen hast, sondern sogar einen Erfolg erringen konntest.“ Was beim Praefectus Urbi keineswegs selbstverständlich war. Seiana konnte nur mutmaßen, was Archias getan hatte, aber selbst der Vescularier zog nicht einfach so ein Erbe ein. Schon gar nicht das eines Mitglieds der Kaiserfamilie.

    Erst, als Axilla sie ebenfalls bei ihrem Cognomen nannte, fiel Seiana auf wie sie die Iunia genannt hatte. Scheinbar bröckelte die Distanz ein wenig, wenn man zusammenarbeitete... Seiana allerdings schob die Gedanken, für den Moment wenigstens, fort. Gesagt war gesagt, und weswegen Axilla hier war, war weit wichtiger. Ihr Blick irrte erneut zu Katander, der sich recht schweigsam im Hintergrund hielt – weswegen, vermochte Seiana nicht zu sagen –, dann allerdings konzentrierte sie sich auf Axilla. „Nein, ich kenne sein Testament nicht. Er hat mir allerdings einen Brief geschrieben, vor seinem...“ Seiana stockte kurz, bevor sie fortfuhr: „Tod.“ Sie räusperte sich, während sie die Bemerkung mit der Heirat einfach überging. Dies war einer der wenigen Momente, in denen sie sich beinahe verlegen fühlte. Das Thema war einfach... nach wie vor sensibel, für sie zumindest, wie es Axilla ging, vermochte Seiana nicht zu sagen, auch wenn die Tatsache, dass sie zwischendurch fast anfing zu nuscheln, implizierte dass sie sich auch nicht ganz so sicher war.


    Ein Moment verging in einem merkwürdigen Schweigen, dann machte Seiana eine Geste zu den Korbstühlen. „Setz dich doch.“ Sie selbst blieb noch stehen, unschlüssig, was ihr selten passierte. Sie nahm ungern einen Gefallen an, oder ein Geschenk. Andererseits war es offenbar nicht nur ein Hirngespinst gewesen von Archias, oder ein leeres Versprechen, sondern tatsächlich in seinem Testament. Und dann war da noch Elena. Allein ihretwegen konnte, durfte Seiana jetzt nicht ihrem Stolz den Vorzug geben und die Großzügigkeit der Iunia ablehnen. Zu Katander gewandt meinte sie also, ein wenig leiser: „Geh ruhig, du kennst dich hier ja aus.“ Eine Pause, dann: „Elena ist im Augenblick in Hispania.“ Sie wartete, bis der Sklave verschwunden war, dann ging sie zu Axilla und setzte sich ebenfalls. „Danke, das ist sehr großzügig von dir. Ich war mir nicht sicher, ob... Archias tatsächlich meinte, was er mir geschrieben hat – und selbst wenn wäre ich nicht erbberechtigt gewesen, wie du sagtest. Und dann habe ich gehört, dass das Erbe ohnehin beschlagnahmt wurde.“ Sie musterte die Iunia. „Wieso wurde das rückgängig gemacht?“

    Als Seiana hörte, wer vor der Tür war und sie zu sprechen wünschte, war sie im ersten Augenblick überrascht. Axilla und sie hatten nach wie vor nicht unbedingt das, was man als im eigentlichen Sinn gutes Verhältnis bezeichnen konnte. Unterkühlt traf es deutlich besser. Nun war Seiana zu den meisten... unterkühlt; bei der Iunia allerdings hatte es seinen Grund, dass sie distanziert war, einen tieferen als den simplen, dass Seiana Nähe weder wirklich mochte noch zulassen konnte. Sie achtete strikt darauf, Axilla fair zu behandeln, so wie jeden ihrer Mitarbeiter – bevorzugte sie hin und wieder unbewusst vielleicht sogar ein wenig in ihrem Bemühen, sie nicht zu benachteiligen aufgrund von Vergangenem –, aber viel mehr war da nicht. Nichts, was einen Besuch hier rechtfertigte. Schon gar nicht, wo sie sich doch ohnehin regelmäßig im Domus der Acta sahen.


    Seiana stellte sich also die Frage, weswegen die Iunia wohl hier war, aber sie zögerte nicht lange und ließ sie ins Tablinum bitten und ihr anzubieten, was immer sie wählen mochte. Nur kurze Zeit später tauchte sie ebenfalls auf. „Salve, Axilla“, grüßte sie sie. „Wie kann ich...“ Dir helfen. Die Worte erstarben auf ihren Lippen, und sie erstarrte, als sie Katander sah.

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    Marcus öffnete die Tür und besah sich die, die davor standen. Die junge Frau war ihm bekannt, ebenso wie einer ihrer männlicher Begleiter – auch wenn es schon einige Zeit her war, dass diese hier zu Besuch gewesen waren. „Salve, Iunia. Komm herein, ich werde der Herrin Bescheid geben.“ Es war immer höflicher, einen Gast drinnen warten zu lassen – ganz davon abgesehen, dass er davon ausging, dass die Decima diesen Gast empfangen würde.





    IANITOR - GENS DECIMA

    Den ganzen Weg über hatte sie sich beherrscht. Sie war schnell gegangen, aber ruhig, und mit jenem sicheren Schritt, der implizierte, dass der, der da ging, wusste wohin er wollte. Und sie wusste es ja auch. Sie wollte nach Hause. Sie hatte den ganzen Abend schon nach Hause gewollt, hatte diesen Wunsch schon verspürt, als sie die Casa Decima verlassen hatte, um sich zu dieser kleinen Feier zu begeben. Sie wollte nach Hause, und sie musste einfach nur durchhalten, diese beiden Gedanken hatte sie häufig, wenn sie eine Feier besuchte, eine gesellschaftliche Veranstaltung, irgendetwas in dieser Art. Und diese beiden Gedanken hatten sich im Lauf dieses Abends im Grunde nur immer mehr verstärkt, bis sie schließlich, im Bett des jungen Sinicius, das einzige gewesen waren, was ihr Denken beherrscht hatte, und damit auch das einzige, was ihr Halt gegeben hatte.


    Und dann kam sie an. Betrat die Casa Decima, würdigte den Ianitor hier dabei ebenso wenig eines Blickes wie jenen der Villa Sinicia, eilte einfach ins Haus, ins Atrium – und blieb stehen. Durch die Öffnung in der Decke drang fahles Mondlicht herein, tanzte auf der Wasseroberfläche, ließ sie sachte glitzern, erhellte den großen Raum jedoch nicht wirklich, der davon abgesehen im Dunkeln lag. Sie war zu Hause.
    Und sie wusste nicht mehr weiter.
    Seiana stand einfach da und starrte vor sich hin. Mehr als je zuvor hatte sie in den letzten Stunden der Gedanke beherrscht: durchzuhalten, bis sie zu Hause war. Weiter hatte sie nicht gedacht. Weiter hatte sie gar nicht denken können, hatte es nicht zulassen können. Und nun, wo sie zu Hause war… wusste sie nicht weiter.
    Ihr Körper verharrte regungslos, ihr Blick auf die Wasseroberfläche gerichtet, während die Zeit verging. In ihrem Inneren herrschte eine fast wohltuende Leere. Sie hatte nach Hause gewollt, sie war zu Hause. Ziel erreicht. Das Wasser war still, schimmerte ruhig im Mondlicht, ließ nur hie und da ein Aufblitzen sehen, wenn es sich kräuselte in einem sachten Luftzug. Das einzige Geräusch, das sie hörte, war das Geräusch ihres Atems.


    Wie lange sie so da stand, auf das Wasser starrte und ihrem eigenen Atem lauschte, konnte sie nicht sagen. Aber auf eine merkwürdige Art und Weise war sie beinahe… zufrieden in diesen Momenten. Oder besser: es fühlte sich für sie so an. Da stehen. Nichts tun. Nichts denken. Ignoranz konnte ein Segen sein.


    Aber irgendwo, tief in ihr, gab es diesen Teil ihres Selbst, dem bewusst war, dass dieser Zustand nicht von Dauer war. Und so sehr sie sich auch wünschen mochte, weiterhin einfach nur da zu stehen, so lange, bis sie verwitterte, bis sie sich in einen Baum verwandelte, wie Daphne auf der Flucht vor Apollo – nichts konnte verhindern, dass die Realität wieder über ihr einbrach. Sie war nicht Daphne. Sie hatte keinen Flussgott als Vater, den sie bitten konnte, sie in einen Baum zu verwandeln, ihr diese Starre als ewiges Geschenk zu machen. Und plötzlich waren die Bilder wieder da, unverschleiert, in einer brennenden Klarheit, die ihr den Atem raubte. Ein Schauer lief durch ihren Körper, und sie schloss die Augen, presste ihre Handballen auf die die Lider, bis es schmerzte. Allein, es half nichts. Die Bilder, die Eindrücke, die Erinnerungen ließen sich nicht ausschließen.
    Und immer noch wusste sie nicht, was nun.

    Hatte es über sich ergehen lassen, und darauf gewartet, gehofft, dass es endlich vorbei sein würde. Dass er sie gehen lassen würde. Das allerdings war eine Hoffnung gewesen, die sich nicht erfüllt hatte, nicht so schnell jedenfalls, wie sie geglaubt, gehofft hatte. Er war bei ihr geblieben, sein Körper dicht an ihrem, so dass er jede ihrer Bewegungen spürte. Und hatte verhindert, dass sie sich wegdrehte, dass sie aufstand, als sie Anstalten dazu gemacht hatte. Und sie hatte es bei dem Versuch gelassen. Sie hatte nicht die Kraft in sich gefunden für erneute Gegenwehr, die ihr sowieso sinnlos schien. Und so war sie einfach da gelegen. Und hatte gewartet. Gewartet, und erneut über sich ergehen lassen, dass er sie nahm.


    Irgendwann, sie hatte nicht gewusst wann, hatte nicht vermocht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war – irgendwann war es vorbei gewesen. Irgendwann hatte er einfach nur noch neben ihr gelegen und sich nicht mehr gerührt, auch nicht auf unbewusste Bewegungen von ihr reagiert. Sein Atem war immer ruhiger geworden, und auch wenn sie geraume Zeit einfach... in Gedanken weit weg gewesen war, um wenigstens im Geist zu flüchten, hatte sie schließlich begriffen, dass er eingeschlafen war. Trotzdem hatte sie sich gezwungen, noch zu warten, obwohl – einmal wieder in der Realität angekommen – alles in ihr danach geschrien hatte, davon zu laufen. Aber sie hatte nicht riskieren wollen, dass er aufwachte. Also... hatte sie das getan, was sie am besten konnte. Hatte sich beherrscht, hatte sich unter eisige Selbstkontrolle gezwungen, so dass sie in der Lage gewesen war, weiterhin ruhig da zu liegen, auf seinen Atem zu lauschen, der immer ruhiger, tiefer geworden war, und sich schließlich langsam, unendlich vorsichtig, von ihm zu lösen. Aufzustehen. Sich ihr Kleid überzustreifen, ihre Palla eng um sich zu wickeln und den Raum zu verlassen.
    Ihrer Selbstbeherrschung hatte sie es auch zu verdanken, dass sie zwar schnell, aber verhältnismäßig ruhigen Schrittes durch die Villa hatte gehen können. Keine Anzeichen von Panik. Keine Anzeichen einer Flucht. Nicht äußerlich zumindest. Lediglich die Konzentration auf die Einrichtung, und ein gelegentliches Umsehen, dann und wann, wenn sie meinte ein Geräusch gehört zu haben.


    Und dann hatte sie das Atrium endlich erreicht, durchquerte es, ließ es hinter sich, steuerte auf die Porta zu. Sie verschwendete keinen Gedanken an den decimischen Haussklaven, der sie hierher begleitet hatte und der noch irgendwo in den Eingeweiden dieses Haus war. Sie dachte nicht an die Sänfte und die Träger, die auch hier irgendwo sein mussten. Und sie dachte auch nicht daran, dass es – obwohl sie sich in der feineren Gegend Roms befand und diese auch nicht würde verlassen müssen, um nach Hause zu kommen – nicht ungefährlich war, alleine und mitten in der Nacht durch die Straßen zu laufen. Sie wollte einfach nur noch weg. Und sie verließ das Haus, ohne noch ein Wort mit jemandem zu wechseln, nicht einmal mit dem Ianitor, der des Nachts Wache hielt und ihr ein verwundertes „Herrin?" entgegen warf.
    Sie verschwand einfach in der Nacht.

    „Du störst nicht“, antwortete Seiana höflich, während sie sich zu dem Tribun setzte. Ein Sklave brachte auch ihr etwas zu trinken, danach zog er sich dezent weit genug in den Hintergrund zurück, dass er zwar sofort zur Stelle sein konnte, wenn er gebraucht wurde, allerdings nicht stören würde. „Er ist schwer krank, das stimmt.“ Sie hatte mitbekommen, wie Mattiacus und Venusia aufgebrochen waren, und Mattiacus hatte ihr erst kürzlich eine Botschaft zukommen lassen. Das allerdings hieß noch lange nicht, dass sie einfach so alles erzählen würde – selbst wenn ein Untergebener ihres Onkels vor ihr saß. Wobei es sie ohnehin etwas verwunderte, dass die Classis offenbar nicht Bescheid wusste. „Es wundert mich ein wenig, dass die zweite Führungsriege der Classis offenbar nicht wirklich informiert worden ist, Pompeius.“ Die unausgesprochene Frage, wie es wohl dazu kam, schwang in ihren Worten mit, allerdings sprach sie sie – noch – nicht aus. Vielleicht würde der Pompeius ihr den Gefallen tun und so darauf antworten. Allerdings stellte sie eine andere Frage: „Du hast gesagt, der Kaiser schickt dich?“ Der Sklavenjunge, den der Ianitor losgeschickt hatte, hatte das behauptet. Allerdings wagte sie zu bezweifeln, dass der Pompeius tatsächlich vom Kaiser den Auftrag bekommen hatte nachzuforschen. Dann schon eher von seinem Stellvertreter in Rom... und dieser war den Decimern nicht unbedingt wohlgesonnen, sah man einmal von Verus ab, der seiner Familie den Rücken gekehrt hatte zugunsten seiner Karriere.

    Seiana musterte die Peregrina bei ihrer Antwort, aber aus ihrer Miene – oder ihrem Tonfall – konnte sie nicht entnehmen, ob sie mit den Anforderungen ein Problem hatte, oder mit den deutlichen Worten. „Nein, täglich wird nicht vonnöten sein“, antwortete sie, ohne das Schmunzeln zu erwidern. Anschließend allerdings hob sie leicht die Augenbrauen, als Roxane davon anfing, bereits Ideen zu haben, die sie mit ihr besprechen wollte. Sie nickte auffordernd. „Gerne.“

    Es kam ihr vor, als sei eine halbe Ewigkeit vergangen, als sie endlich das Atrium erreichte – und damit die kurz dahinter liegende Porta. Die graue, beinahe heilsam anmutende, weil taube Leere in ihrem Inneren war zwar immer noch da, aber sie wurde immer wieder durchfetzt von bruchstückhaften Bildern, die wie von einem Blitz schlagartig aus der Finsternis gerissen wurden und so grell aufleuchteten, dass sie sie nicht ignorieren konnte.


    Er war zudringlich geworden. Und sie war zuerst so perplex gewesen, dass sie ein wenig gebraucht hatte um zu realisieren, was da passierte. Was er tat, was er vorhatte. Vielleicht wäre es anders gekommen, hätte sie schneller begriffen, was er wollte. Sie wusste es nicht. So oder so war der junge Sicinius sehr bestimmt gewesen. Ihre Worte waren verhallt, ohne dass er darauf reagiert hatte, ihre erste Gegenwehr war untergegangen, ohne dass es ihm große Mühe bereitet hätte, und bevor sie dazu hatte übergehen können, mehr zu tun – sich noch heftiger zu wehren, nach Hilfe zu rufen, irgendetwas –, hatte er sie so weit zurückgedrängt gehabt, dass ihr Rücken mit der Wand kollidierte. Und gleich darauf ihr Kopf.
    An die nächsten Augenblicke konnte sie sich nur noch sehr verschwommen erinnern. Irgendjemand hatte sie gestützt, irgendjemand war aufgetaucht, irgendjemand hatte etwas gesagt... Verzweifelt hatte sie sich bemüht, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, klare Gedanken zu fassen und sie artikulieren zu können, aber um ihren Geist schien sich ein grauer Schleier gelegt zu haben, den sie nicht zu durchdringen imstande gewesen war. Das nächste, an das sie sich klar erinnern konnte – wenn sie diese Erinnerung zuließ, was sie im Moment tunlichst vermied –, war, wie sie auf ein Bett gelegt wurde.


    Zu ihrem Leidwesen war auch alles klar, was danach passiert war, obwohl sie, hätte sie die Wahl gehabt, das am liebsten unter dem gleichen Schleier verstecken würde, der weitestgehend jene Momente verbarg, die kurz davor lagen. So blieb ihr nur der verzweifelte Versuch, die Erinnerungen so gut als möglich zu verdrängen, sich gegen die Flut zu stemmen, die gegen ihr Bewusstsein rollte und sie mitzureißen drohte. Berührungen. Mal flüchtig... mal intensiv. Sie hatte sich zur Wehr gesetzt. Hatte es versucht. Aber er war ihr schlicht überlegen gewesen, wäre es auch dann gewesen, hätte ihr Kopf nicht noch immer geschmerzt. Und irgendwann hatte sie es aufgegeben. Haut an verschwitzter Haut, sein Körper so nah, so heiß, so bestimmend. Hatte es einfach über sich ergehen lassen. So rücksichtslos.

    Der Sklavenjunge, der immer um den Ianitor Marcus herumwuselte, um ihm behilflich zu sein, Botengänge zu erledigen, ihn zu vertreten wenn nötig, vor allem aber um Gäste ins Haus zu geleiten, kam auch bei diesem Gast seiner Aufgabe vorbildlich nach. Auf Geheiß von Marcus – der aus der Ankündigung des Pompeius' geschlossen hatte, dass ein etwas privaterer Raum für diese Unterhaltung besser geeignet war als das Atrium – brachte er den Tribun ins Tablinum, bot ihm einen Platz und etwas zu trinken an und verschwand anschließend, um Decima Seiana zu holen.


    Lange musste der Gast nicht warten, bis eben diese erschien. „Salve, Pompeius“, grüßte Seiana den Tribun, auf ihren Lippen ihr typisches, vages Lächeln, das nichts so richtig auszusagen schien, außer einer gewissen Höflichkeit – und in diesem Fall perfekt verbarg, woran sie sich beim Anblick des Mannes vor ihr erinnerte: an jenen Abend in seinem Haus, als sie mit Archias zu Gast gewesen war bei ihm. Als sie noch verlobt gewesen waren. Als sie zum ersten Mal wirklich misstrauisch geworden war, was die angebliche Freundschaft zwischen ihrem Verlobten und der Iunia anging. Und daran, dass eben jene Iunia sie geküsst hatte, irgendwann im Verlauf des Abends. Allesamt Erinnerungen, die Seiana mit einer Konsequenz zu ignorieren imstande war, als wäre es gar nicht geschehen. Etwas anderes kam auch gar nicht in Frage, denn sonst wäre sie sicher nicht in der Lage, Axilla nun bei der Acta zu beschäftigen und mit ihr zusammenzuarbeiten. „Wie kann ich dir helfen?“