Beiträge von Decima Seiana

    Fast schon gegen ihren Willen musste Seiana schmunzeln, als sie seine Metapher hörte. „Rosen scheinen eigenartigerweise die Wirkung zu haben, von anderen für etwas Besseres gehalten zu werden als sie sind.“ Sie bedeutete dem Sklaven, ihr einen Becher stark verdünnten Wein zu geben. Sie trank selten mehr und nie wirklich viel, wenn sie mit anderen zusammen war, was sowohl Grund war als auch als Ergebnis zeitigte, dass sie nicht viel vertrug. Und die Phase, in der sie zu Hause, allein, mehr getrunken hatte, hatte sie inzwischen hinter sich gelassen. So sehr sie immer noch diese Kälte in sich spürte, wenn es um gewisse Themen ging, sie hatte sich wieder im Griff. Das war das Wichtigste, für sie. Sich im Griff zu haben. Sie mochte es nicht, wenn sie die Kontrolle über sich verlor, so rasant. Weder Wut noch Schmerz noch Alkohol waren der Selbstbeherrschung zuträglich. Und verletzter Stolz... war ein zweischneidiges Schwert. Er konnte helfen, er konnte schaden. Ihr hatte er letztlich geholfen. Hatte ihr Kontrolle zurückgegeben über sich, weil er ihr wieder Klarheit gebracht hatte über das, was sie wollte, und das war es, was sie brauchte.


    Seiana ließ sich etwas von den Speisen reichen, und anerkennend zog sie kurz die Brauen hoch. Es war leichter als gewöhnlich, wenn man zum Essen eingeladen war, und das gefiel ihr. Sie sah zu dem Duccius hinüber, der gerade antwortete, sie dabei ansah, auf sie achtete, interessiert war. Seine Art ließ eine Saite in ihr vibrieren, die sie selten spürte. Sie bekam das Gefühl, seine Aufmerksamkeit gehörte ganz ihr, ohne dass er dabei aufdringlich wirkte – und ein Teil von ihr begann es zu genießen, unabhängig davon, dass sie es nicht so ganz glauben konnte. Sie genoss dieses Gefühl, dass dieser Abend tatsächlich für sie ausgerichtet war, angefangen von dem Essen über die Komplimente bis hin zu ihrem Gespräch. Die Bündelung und Verarbeitung von Informationen aus dem ganzen Reich. Das klang... gut. Besser als sie es bisher gesehen hatte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Es ist ja nicht so, als wäre ich dafür ganz alleine verantwortlich. Ich bin letztlich nur die, die dafür gerade stehen muss, dass alles seine Richtigkeit hat.“


    Und dann machte der Duccier erneut den Mund auf. Und Seianas Lächeln verklang. Es gefror nicht von einem Moment auf den anderen – es wurde nur schwächer, Stück für Stück. Die Miene, die übrig blieb, war eine Mischung aus leichter Fassungslosigkeit und etwas anderem, etwas, das vagem Schmerz nicht unähnlich war. Fassungslosigkeit, weil er aussprach, worüber andere mal mehr, mal weniger dezent hinweg gingen. Vager... Schmerz, weil er etwas anrührte, was ein empfindlicher Punkt war – nicht nur anrührte, nein, er legte den Finger in die Wunde. Fehlte nur noch, dass er tatsächlich fragte: warum. Seiana senkte ihren Blick, während sie zugleich die Lippen leicht öffnete, wie um zu einer Antwort anzusetzen – aber sie sagte nichts, sondern schwieg, hörte ihm weiter zu, während sie nun Stück für Stück daran arbeitete, ihre Miene – und ihr Inneres – zu verschließen. Er sprach aus, was tatsächlich auf ihr lastete, nur aus einer völlig anderen Sichtweise als der ihren. Der Duccius ließ es so klingen, als sei es völlig unverständlich, dass sie noch unverheiratet war, und als sie weitab davon, Schuld an diesem Umstand zu tragen. Und da war dieser eine entscheidende Unterschied: sie sah sich nicht so, wie er sie beschrieb. Sie sah sich bei weitem nicht so. Sie war deutlich entfernt von dem Typus Römerin, der – wie hatte er es gerade formuliert? – dem Reich strahlende Helden schenken konnte. Wenn er nicht wissen wollte, wie groß der Druck von Zuhause war, dann wollte er wohl erst recht nicht wissen, wie groß der Druck war, den sie sich selbst machte. Sie schwieg auch noch, als er geendet hatte, und erst nach einem weiteren Moment sah sie wieder auf und begegnete seinem Blick. „Und wieder schmeichelst du mir.“ Diesmal schwang in ihrer Stimme wie in ihrem Lächeln ein Hauch von Bitterkeit mit, bevor sie sich zusammenriss und sorgfältig zu verbergen suchte, was er da angerissen hatte. Den Druck hinter sich lassen, hatte er gesagt. Für einen Moment, für einen Abend. Es klang gut. Mehr noch, weil sie sich nicht aus der Fassung bringen lassen wollte. Seiana fuhr sich mit der Zungenspitze kurz über die Lippen. „Was schlägst du vor, um den Druck hinter sich zu lassen? Dein Weg kann doch auch nicht immer ein leichter gewesen sein, und das wird so bleiben, beschreitest du weiter den Cursus Honorum. Was tust du, willst du dem Druck entfliehen, den Rom ausüben kann?“

    Seiana musterte den Duccius unauffällig, als sie eintrat. Für römische Verhältnisse war seine Aufmachung... nun, zurückhaltend. Noch schlichter als die ihre, was Seiana selten geschah. Aber wenn sie an die paar Mal dachte, die sie den Duccier bisher gesehen hatte, dann war er stets schlicht gekleidet gewesen – mehr noch wenn man ihn verglich damit, wie manche Römer gerne auftraten.


    Ebenso wie sie ihn musterte, betrachtete er sie, nur offenbar nicht in dem Bemühen, unauffällig zu sein – in jedem Fall war es zu sehen, wie sein Blick über sie glitt. Dann allerdings machte er den Mund auf, und er schaffte, was er bisher noch annähernd jedes Mal geschafft hatte bei ihr: er verwirrte sie. Sie hatte geglaubt, einigermaßen vorbereitet zu sein für diesen Abend, für ihr Gespräch, sie hatte ihr letztes im Park als Grundlage genommen, die Wortgewandtheit, die er dort bewiesen hatte, die lässige Selbstverständlichkeit, mit der er sich zu ihr gesetzt, ein Gespräch begonnen hatte, ohne allzu sehr auf den anwesenden Octavius zu achten. Sie hatte sich darauf eingestellt. Nicht darauf, dass ihr Anblick ihn nun stottern ließ. Nicht darauf, dass er beinahe verlegen wirkte. Sie lächelte leicht und bemühte sich, souverän zu wirken, als sei sie Komplimente oder Reaktionen dieser Art gewohnt, aber sie konnte nicht verhindern, dass in ihre Wangen eine leichte Röte stieg, oder dass sie den Blick kurz von seinem abwandte. Immerhin widerstand sie jedoch erneut der Versuchung, an ihrer Aufmachung zu zupfen oder sie glatt zu streichen, die in Bezug auf Schmuck und Pomp nicht mithalten konnte mit dem, was ihre Geschlechtsgenossinnen gerne zur Schau stellten. Aber vielleicht war es ja gerade das, was ihm gefiel – was durchaus logisch schien, betrachtete sie wie schlicht er selbst gekleidet war. „Du bringst mich in Verlegenheit, Duccius“, konterte sie auf die Komplimente. Eine Standardantwort war besser als gar keine, fand sie, auch wenn sie sich selbst etwas... einfallslos fand. „Sicher... Danke.“ Seiana nahm Platz, während ihre Sklaven draußen vor der verschlossenen Tür blieben und sich auf eine Wartezeit einrichteten. Sie nickte erneut, als der Duccier das Mitbringsel öffnete. „Ich hoffe, es gefällt dir.“ Das hoffte sie wirklich, und er machte auch einen entsprechenden Eindruck, was sie freute. Seiana war schon immer schlecht darin gewesen, sich angemessene Geschenke oder Mitbringsel auszudenken. Und was brachte man schon mit, wenn man zum Essen eingeladen war und von dem Gastgeber nicht viel mehr wusste, als dass er durchaus wortgewandt war und Interesse an Literatur dieser Art hatte – wenn man seine Teilnahme am Cursus zugrunde legte? Und da Bücher in ihren Augen etwas waren, das man immer gebrauchen konnte, sie zudem über einen entsprechenden Handel verfügte, lag es nahe, ein Buch zu verschenken.


    Bei seinen nächsten Worten verzogen sich ihre Lippen zu einem ihrer seltenen ehrlichen Lächeln. Dass sie nun Auctrix war, war immer noch etwas, das sie mit etwas Unglauben, vor allem aber auch mit Stolz und Freude erfüllte. Auch wenn die Herausforderung, die dieser Posten darstellte, sie hin und wieder zweifeln ließ, ob sie geeignet war. „Nun... wir werden sehen, ob ich der Verantwortung auch gewachsen bin, die der Senat mir damit übertragen hat. Über einen Mangel an Beschäftigung werde ich mich zumindest ebenso wenig wie du beklagen können, denke ich.“

    Es verging nicht allzu viel Zeit, bis Xanthias kam, und Seiana sah auf, als er eintrat. „Xanthias“, grüßte sie ihn, bedeutete ihm mit einer Handbewegung sich zu setzen und schloss gleich eine Frage an, da Aristea noch nicht hier war. „Wie sind deine ersten Tage hier?“ Bisher schien er niemandem im Haus negativ aufgefallen zu sein, aber Seiana wollte eine Einschätzung aus seinem Mund haben. Er – ebenso wie Aristea – war nun lange genug hier, um beide mit wichtigeren Aufgaben zu betrauen. Aristea musste vielleicht in der ein oder anderen Hinsicht noch angelernt werden, aber das war etwas, was Xanthias gut und gerne übernehmen konnte, mutmaßte Seiana. Umgekehrt hatte Aristea – als Sklavin, die nie etwas anderes gekannt hatte als dieses Leben und den damit verbundenen Gehorsam – vielleicht einen positiven Einfluss auf den Griechen.


    Nur kurze Zeit später betrat auch Aristea ihre Räume, und Seiana bemerkte, wie sie Xanthias zulächelte. Seiana grüßte auch sie und bot ihr einen Platz an, bevor sie anfing. „Ich möchte für die Acta ein Profil des Praefectus Urbi verfassen und aus diesem Anlass ein Gespräch mit ihm führen. Ihr beide werdet zur Castra Praetoria gehen, um einen Termin für mich auszumachen, sofern der Vescularius sich einverstanden erklärt. Sagt den Wachen am Tor, dass ihr im Auftrag der Auctrix kommt, ich möchte aber, dass ihr über den Grund Stillschweigen bewahrt. Für den Fall, dass sie euch dann nicht zu den Scribae des Praefectus Urbi vorlassen, gebt ihnen dieses Schreiben mit der Bitte, es zu überbringen.“ Seiana schob eine bereits versiegelte Schriftrolle nach vorn.




    Praefectus Urbi
    Potitus Vescularius Salinator
    Cohortes Urbanae
    Castra Praetoria, Roma



    Salve Praefectus Urbi,


    für die Acta Diurna ein Profil über dich und deine Arbeit zu schreiben, möchte ich gerne ein persönliches Gespräch mit dir führen. Ich denke, die Bürger würde es sehr interessieren, über einen der mächtigsten Männer Roms zu lesen.


    Es würde mich sehr freuen, wenn du meine Bitte nach einem Gespräch erfüllen würdest, und warte auf deine Antwort.


    Mögen die Götter dich behüten,


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    „Es beinhaltet das, was ich euch gerade gesagt habe. Wenn möglich, dann wartet auf Antwort, aber besteht nicht darauf, wenn ihr merkt, dass die Wachen in der Hinsicht unkooperativ sind. Ich verlasse mich darauf, dass ihr die Situation richtig einschätzt und einen guten Eindruck macht.“ Seiana lehnte sich zurück und musterte die beiden. Sie hätte auch von vornherein einen Brief schreiben können, aber das hier war eine Möglichkeit, die beiden Sklaven auf die Probe zu stellen – nicht zu verantwortungsvoll, aber auch nicht zu bedeutungslos. „Habt ihr Fragen?“

    Gänzlich allein kam Seiana dann doch nicht. Allerdings zählte sie die beiden Sklaven, mit denen sie gekommen war, nicht wirklich als Begleitung, nicht in dem Sinne, in dem sie diesen Begriff aus dem Schreiben des Duccius verstanden hatte – eine Begleitung, die auch an dem Essen teilnehmen würde. Und das waren Demetrios und sein Kollege ganz sicher nicht. Ob sie im Atrium warten würden oder nach Rücksprache mit den prudentischen Sklaven sich in die Küche zurückziehen konnten, daran verschwendete Seiana keinen Gedanken. So kam sie also, in Begleitung zweier Sklaven, zur Casa der Prudentier und ließ sich von einem Sklaven ins Haus geleiten, durch das Atrium – wo die ihrigen blieben, nachdem Demetrios ihr das kleine Geschenk übergegeben hatte, das sie dem Duccius zu überreichen gedachte – bis zum Adedis, wo der Sklave sie nach einer entsprechenden Ankündigung eintreten ließ.


    Der Duccius war bereits dort und schien auf sie zu warten, und langsam betrat Seiana den Raum, der ansprechend hergerichtet worden war. „Salve, Duccius“, grüßte sie den Mann mit dem für sie so typischen vagen Lächeln, während sie sich insgeheim – nicht zum ersten Mal, seit sie auf seinen Brief geantwortet hatte – fragte, ob es tatsächlich richtig war, allein hier zu sein. Sie wusste immerhin sehr genau, was ihr Bruder wohl dazu sagen würde. Aber Faustus war nicht hier, und selbst wenn, Faustus war nicht gerade das, was man als Unschuldslamm bezeichnen konnte. Oder war es zumindest nicht gewesen. Und dass sie hier war, mit dem Duccius essen würde, musste ja niemand erfahren. Sie ging in den Raum hinein, auf ihn zu, und kontrollierte die winzige Versuchung, ihre Tunika glatt streichen zu wollen. Sie war gekleidet in ihrer üblichen Art, in einem Kleid von schlichter Eleganz – durchaus hochwertiger als das, was sie für gewöhnlich auf der Straße trug, aber nicht deutlich anders im Stil. „Ich danke dir für die Einladung. Und Gratulation zu deiner Wahl.“ Nach der ersten Begrüßung reichte sie ihm ein kleines, in ein Tuch eingeschlagenes Päckchen, das eine Schrift von Kriton enthielt: Über das Erkennen oder Über die Wissenschaft, Was Erkennen ist.

    Seiana war noch am Überlegen, was sie mit ihrer Antwort eigentlich nun genau gesagt hatte – für den Fall, dass das keine theoretische Diskussion war, nur für den Fall, rein hypothetisch, wie sie versuchte sich glaubhaft zu machen –, denn dann, mutmaßte sie, hatte sie wohl gerade etwas gesagt, was vermuten lassen könnte, sie würde sich möglicherweise auf Risiken einlassen. Was sie ja durchaus tat. Einen Betrieb zu gründen, ohne auf die Hilfe ihrer Familie zu bauen, war nicht ohne Risiken. Nach Ägypten zu reisen, ohne einen ganzen Tross von Begleitern, und dort dann zu leben, war nicht ohne Risiken. Sie war also noch am Überlegen, als der Duccius bereits reagierte – und den Abschied einleitete. Seiana erwiderte sein Lächeln erneut, ein wenig... ja, fast ein wenig enttäuscht, dass er ging, denn trotz aller Verunsicherung, die er in ihr auslöste – und die sie kaum gewohnt war –, hatte ihr das Gespräch doch gefallen. Es war eine Herausforderung gewesen, was einem nicht jeden Tag passierte.


    „Bedauerlich, dass du schon weiter musst, Duccius“, erwiderte sie – und fragte sich zugleich für einen winzigen Moment, was er mit unverfänglich gemeint hatte. Das Gespräch war doch... unverfänglich gewesen. Sie blieb sitzen, als er sich erhob, sah kurz zu dem Octavier und musterte dann wieder den Duccius, gerade rechtzeitig, um noch den Blick zu sehen, mit dem er sie betrachtete. Einen Blick, den sie nicht einordnen konnte, oder besser: den sie nicht einordnen wollte. Sie neigte ihren Kopf in Erwiderung auf seine Verneigung. „Mich würde es ebenfalls freuen, würden sich unsere Wege wieder kreuzen und könnten wir uns weiter unterhalten.“ Sie sah dem Duccius hinterher, wie er verschwand, bevor sie sich – ein wenig nachdenklich – wieder dem Octavier zuwandte, der schweigsam geblieben war während ihrer kurzen Unterhaltung.

    Zitat

    Original von Marcus Aurelius Corvinus
    Es war tatsächlich ein Grinsen, welches sich kurz auf meinem Gesicht ausbreitete, als ich Seiana so vollkommen fassungslos sah. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich diesen Anblick noch nie genießen können. Ich rettete mich mit einem neuerlichen Schluck Wein und stellte den Becher dann wieder fort. Seiana musste sich setzen, und auch das nahm ich amüsiert zur Kenntnis. Ich schob die gepackte Kiste ein wenig zur Seite und setzte mich dann ebenfalls. "Ich schließe aus deinen Worten, dass man es versäumt hat, dich darüber zu informieren", bemerkte ich und wunderte mich zugleich, dass auf den flavischen consul so wenig Verlass zu sein schien. "Aber so ist es. Und du kannst umziehen, sobald du fertig bist. Ion kann dir helfen", fuhr ich fort und ließ den Blick dann kurz über die halbgefüllten Regale im Raum gleiten. Abschriften von Gesetzestexten fanden sich dort und allerlei allgemeine Abschriften, sowie Kopien von den Artikeln des letzten Jahres, die erst nach Ablauf dieses Jahres ins Archiv gebracht werden würden. "Ich hatte nicht viel Persönliches hier", erwiderte ich auf ihre Frage hin und deutete auf die Kiste.


    Seiana bemerkte auf dem Gesicht ihres Patrons nicht einmal wirklich. Zu sehr beschäftigte sie noch die Neuigkeit, die sie von ihm erfahren hatte. Sicher, sie hatte das Gefühl gehabt sich doch ganz gut präsentiert zu haben vor dem Senat, aber dennoch... zu hören, dass sie tatsächlich gewählt worden war, war etwas anderes. „Nun...“, antwortete sie, ein wenig verzögert und mit einer vagen Handbewegung. „Ich habe zumindest keine Nachricht erhalten, nein.“ Sie lächelte, während sie zugleich immer noch versuchte, die Nachricht zu fassen. Sie ließ den Blick über den Schreibtisch schweifen, anschließend die Regale. „Ich werde kaum lange brauchen für den Umzug.“ Persönliche Dinge hatte sie ebenso wenig hier, nur ihre Arbeitsunterlagen, von denen sie die ein oder anderen noch brauchen würde. Sie sah wieder zu dem Aurelier. „Ich danke dir für deine Unterstützung und deine Fürsprache. Du wirst der Acta doch erhalten bleiben?“ spielte sie auf das Gespräch an, das sie vor ihrer Wahl gehabt hatten. „Ich würde mich freuen.“


    Titus Duccius Vala
    Casa Prudentia
    Roma


    Salve Duccius,


    ich danke dir herzlich für deine Einladung. Gerne würde ich unser neulich geführtes Gespräch fortsetzen, und ich freue mich, dass dir ebenso daran liegt.
    Leider muss ich dir mitteilen, dass ich in der Kürze der Zeit keine geeignete Begleitung finden werde. Sofern für dich dennoch nichts gegen ein gemeinsames Essen spricht, würde ich mich freuen, wenn ich dich ANTE DIEM XV KAL SEP DCCCLX A.U.C.* besuchen dürfte.


    Vale bene,
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    Sim-Off:

    *Datum fiktiv – gerne auch später :)

    Bereits zum wiederholten Mal las Seiana inzwischen den Brief durch, den ihr ein Sklave gebracht hatte. Der Duccius wollte sie also wieder sehen. Er lud sie zum Essen ein, sie und eine Begleitung – eine Begleitung, die sie nicht hatte, nebenbei bemerkt – und lehnte zugleich eine Absage ab. Was sie in eine Bredouille brachte. Sie könnte Mattiacus fragen, der einzige ihrer Verwandten, der derzeit in Rom war, aber er schien selten Zeit zu haben, und sie zögerte, ihn wegen dieser Einladung anzusprechen. Es würde Fragen aufwerfen, mutmaßte sie, Fragen, wie sie diesen Duccier überhaupt kennen gelernt hatte. Und sie wollte nicht auf die leidige Begebenheit bei der aurelischen Hochzeit zu sprechen kommen. Seianas Finger bewegten die Schriftrolle leicht. Sie grübelte. Die Unterhaltung im Park hatte ihr ja durchaus... nun ja, in gewisser Weise Spaß gemacht. Wie verunsichert sie stellenweise gewesen war, hatte sie inzwischen teilweise verdrängt. Übrig geblieben war eine gewisse Faszination, und das Wissen, dass sie hatte nachdenken müssen. Dass es ihr nicht leicht gefallen war, Antworten zu finden. Dass es eine Herausforderung gewesen war, sich mit ihm zu unterhalten, und das hatte ihr, im Nachhinein betrachtet, ganz sicher gefallen. Gerade die weibliche Gesellschaft bot ihr nicht immer das, was sie suchte in einer Unterhaltung, und Männer tendierten häufig dazu, Frauen nicht auf dieser Ebene ernst zu nehmen. Der Duccier hingegen... nun, sie konnte nicht sagen, ob er sie tatsächlich ernst nahm, aber es ließ sich doch gut mit ihm unterhalten, und sein Brief, seine Worte, seine Einladung machten deutlich, dass es ihm ebenso gefallen hatte. Doch, um seine Wortwahl aus dem Brief zu nutzen: ihr war auch daran gelegen, die Diskussion mit ihm fortzuführen.


    Nur blieb da das Problem mit dem Begleiter. Sie war unverheiratet. Sie konnte nicht einfach so seine Einladung annehmen, wenn sie niemanden hatte, den sie mitnehmen konnte. Andererseits... Seiana zog nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne. Sie war vor Jahren allein nach Ägypten gereist. Um Caius wieder zu sehen, um ihn zur Rede zu stellen, um herauszufinden, ob er geeignet wäre als Ehemann. Sie war für die ersten Wochen sogar zu ihm gezogen und hatte sich im Anschluss im selben Haus eingemietet. Sie hatte viel Zeit mit ihm verbracht, allein, obwohl sie nicht verlobt gewesen waren. Gut, Alexandria war auch völlig anders als Rom gewesen, aber das war es gewesen, was sie getan hatte. Und jetzt... nun ja, sie war über 20. Hatte eine gelöste, langjährige Verlobung hinter sich. War immer noch unverheiratet. Die Leute verrissen sich wohl ohnehin schon den Mund über sie, nicht zuletzt nach der Aktion, die Caius mit dem Brot gebracht hatte, und die in die in der Acta breit getreten worden war. Dieser Gedanke war schließlich ausschlaggebend. Gut, sie war in Rom, aber wenn die Leute eh schon redeten, dann spielte es keine Rolle – und was sie bei Caius gemacht hatte, konnte sie auch bei jedem anderen. Und: es musste ja noch nicht einmal jemand davon erfahren. Kurzentschlossen griff sie nach Schreibmaterial und setzte eine Antwort auf, schrieb gleich darauf noch einen zweiten Brief, den sie ursprünglich hatte verfassen wollen, bevor ihr das Schreiben des Ducciers gebracht worden war, und im Anschluss ließ sie Aristea und Xanthias zu sich rufen.

    Noch während sie sprach, änderte sich der Gesichtsausdruck des Griechen, bis er schließlich – so jedenfalls ihr Eindruck – ein wenig verblüfft auszusehen schien. Das vage Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielte, änderte sich jedoch nicht in seinem Ausdruck, und auch ihre Miene blieb gleich. Seine Antwort dann allerdings ließ ihr Lächeln sich ein wenig verändern. Es gefiel ihr, was er sagte. Seine Worte zeigten, dass er nicht aus Prinzip oder Trotz gegen Rom war, und das war die beste Voraussetzung – und mehr noch, er schien tatsächlich jemand zu sein, mit dem man diskutieren konnte. „Es liegt mir fern in Abrede zu stellen, was die Griechen und ihre Kultur für Rom bedeuten.“ Zum ersten Mal schenkte sie ihm ein offenes Lächeln. „Es freut mich, dass wir in dieser Hinsicht einer Meinung sind.“


    Anschließend bat er darum, gehen zu dürfen, und Seiana nickte leicht. Sie wusste nicht, wie anstrengend sein Tag tatsächlich gewesen war, aber sie konnte sich immerhin vorstellen, dass es kein leichter gewesen sein musste – so wie die letzten wohl auch, musste doch beispielsweise die Reise nach Rom erst hinter ihm liegen. „Sicherlich. Demetrios und Aristea werden dir helfen, dich hier zurecht zu finden. Sie werden dir zunächst alles zeigen, und solltest du Fragen haben, kannst du dich an sie wenden. In den nächsten Tagen werden wir darüber sprechen, was deine Aufgaben sein werden. Vorerst genügt es, wenn du einlebst, Demetrios zur Hand gehst und Haus und Familie kennen lernst.“

    Für Momente hatte Seiana das Gefühl, ihren Blick nicht abwenden zu können von dem des Ducciers. Und das trug nicht unbedingt dazu bei, dass sie das Gefühl hatte, die Situation gerade unter Kontrolle zu haben. Und sie fühlte sich einfach nicht wohl dabei, wenn sie nicht die Kontrolle hatte. An der Situation jetzt änderte das allerdings nicht das Geringstes, denn Seiana fiel nicht wirklich etwas ein, was sie sagen oder tun könnte, um wieder etwas mehr in Kontrolle zu sein. Und seine Antwort trug genauso wenig dazu bei. Im Gegenteil, seine Worte führten dazu, dass Seiana sich nur noch mehr fragte, was genau er eigentlich bezweckte – denn so viel immerhin war ihr klar, ein theoretischer Diskurs über die Ungewissheiten des Lebens und wie man mit ihnen umgehen sollte, war das nicht. Oder schien es nicht zu sein. Oder doch nicht? Es war leichter für sie zu glauben, dass es um Theorie ging, weil sie dann leichter damit umgehen konnte, und ganz nebenbei die Grübeleien darüber fort schieben könnte, worüber er denn sprach – wenn es nicht theoretisch war. Es war nicht so, dass sie gar nichts ahnte, dass sie überhaupt keine Idee hatte, was hier lief. Worauf er aus war. Sie war lange genug verlobt gewesen, um – im Grunde – zu wissen, worum es ging, auch wenn Caius stets deutlicher gewesen war. Weit deutlicher. Genauer gesagt hatte er in der Regel einfach ausgesprochen, was er wollte, und genau das hatte es Seiana so leicht gemacht, jeden seiner Versuche bereits im Keim zu ersticken. Dass hier war völlig anders. Ein Teil von ihr ahnte, spürte inzwischen durchaus, um was sich das Gespräch wirklich drehte, aber Seiana... hatte nun mal gern die Kontrolle, und Ahnungen oder Gefühle – oder ihnen Einfluss zuzugestehen – waren nichts, was ihr dabei half. Und dann war da noch die Tatsache, dass diese... Unsicherheit darüber, was er nun bezweckte, irgendwie... aufregend war. Ein wenig. Sie konnte es nicht genau benennen, schon allein weil sie sich darauf noch viel weniger einließ, aber neben der Verwirrung, die die Unsicherheit in ihr auslöste, war da auch... Spannung.


    Und wie so häufig: Seiana ignorierte, womit sie nicht umgehen konnte, und konzentrierte sich lieber auf das, was sie greifen konnte. Immerhin hatte sie sich genug gefangen inzwischen, um sein Lächeln zu erwidern, mit einer Spur von Unsicherheit vielleicht, aber doch souveräner als noch zuvor. „Du meinst also, es ist möglich sich auf die Ungewissheit einzulassen und zugleich dennoch ein Sicherheitsnetz zu haben? Dann spricht doch nichts dagegen, ein Risiko einzugehen.“

    [Blockierte Grafik: http://img294.imageshack.us/img294/2627/demetrios.jpg~Demetrios~


    Demetrios nickte leicht, als Aristea sich für den Hinweis bedankte, und machte sich schon gefasst auf Nachfragen – die allerdings nicht kamen. Einen Augenblick lang musterte er sie und überlegte, warum sie wohl nicht nachhakte. Ob es sie nicht interessierte, oder ob sie nicht unhöflich sein wollte. Er hätte ihr durchaus mehr erzählt, hätte sie gefragt, aber da sie es nicht tat, beschloss er das ihr und der Herrin zu überlassen, sollten die beiden Frauen auf dieses Thema kommen - oder irgendwelchen anderen Sklaven, bei denen Aristea sich vielleicht eher traute, eine Frage in diese Richtung zu stellen. Bei ihm in jedem Fall blieb sie eher bei den oberflächlichen Informationen. „Beides sind ihre Onkel – Brüder von Decimus Livianus. Magnus ist der Praefectus Classis, in Misenum. Wie gesagt, seine Frau verbringt recht viel Zeit in Rom.“


    Als Demetrios nach Aristeas früherer Herrin fragte, schien sie zunächst überlegen zu müssen. Sie ließ sich Zeit, bevor sie zu einer Antwort ansetzte, und als diese dann kam, war es der Grieche, der sich Zeit ließ und darüber nachdachte. „Hört sich nicht sonderlich nett an. Gut, es gibt weit schlimmere, denke ich, aber das was du erzählst, klingt auch nicht gerade nach einer sonderlich angenehmen Herrin. Oder einem angenehmen Leben.“ Er löffelte ein wenig von der Suppe, schluckte und sah sie dann wieder an. „Strafen kannst du hier auch kriegen, wenn du etwas anstellst, aber normalerweise weiß man hier, was einen erwartet. Der Sohn von Livianus, der eine Zeit lang hier gelebt hat, bei dem wusste man nicht so Recht, woran man war…“ Und es hatte Geschichten gegeben über ihn, bei den Sklaven, vor allem bei den Sklavinnen, alle unter vorgehaltener Hand, aber wer hinzuhören wusste, hatte schon das ein oder andere mitbekommen. Nur hatte niemand sich getraut, es laut zu sagen, weil es eben der Sohn von Livianus gewesen war. Er selbst hatte, glücklicherweise, auch mit diesem Decimus wenig zu tun gehabt, und nun lebte er auch nicht mehr hier. „Aber der lebt inzwischen nicht mehr hier.“





    SKLAVE - GENS DECIMA

    „Ist es das denn nicht? Zum Scheitern verurteilt?“ Schon die Gegenfrage allein machte deutlich, dass Seiana durchaus dieser Ansicht war, selbst wenn da nicht nach wie vor dieser feine, zynische Unterton gewesen wäre, der im Klang ihrer Stimme mitschwang. Sie glaubte nicht daran, dass Veränderungen möglich waren, Veränderungen in dem, wie die Rolle einer römischen Frau gesehen wurde. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es Veränderungen geben sollte – zu tief war in ihr verwurzelt, dass sie es war, die einfach… nicht passte. Die, egal was sie tat, egal wie sehr sie sich bemühte, sich nicht wirklich anpassen konnte, nicht völlig. Nicht so, dass sie sich auch innerlich danach fühlte, dass sie zufrieden war. Und zu tief war der Gedanke in ihr verwurzelt, dass das ihr Fehler war. „Wenn es nicht auch unsere Regeln sind, wie sind sie dann entstanden? Wenn das nicht die Ordnung ist, die die Götter für die Welt vorgesehen haben, warum leben wir dann nach ihr?“ Fakt war doch, dass es nicht die Frauen waren, die allzu viel Einfluss darauf hatten, wie eine Gesellschaft gestaltet war. Und nie haben würden, weil es nicht ihre Rolle war. Natürlich gab es die, die aufbegehrten, die, die für sich einen anderen Platz erkämpften – aber diese hatten auch mit den Nachteilen zu leben, und, was wichtiger war: sie waren und blieben die Ausnahmen in ihrer Gesellschaft. Wäre es nicht so bestimmt, hätten doch bereits diese Ausnahmen mehr bewegen müssen. Nein, die Welt war nun einmal, wie sie war. Es mochte Ausnahmen geben, aber die meisten Frauen taten besser daran, ihren Platz und ihre Rolle zu akzeptieren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu tun, was sie konnten, um sich zufrieden zu fühlen.


    Seiana glaubte daran. Und doch… konnte sie sich nicht gänzlich damit abfinden. Überschritt sie die gesellschaftlichen Grenzen, die ihr eigentlich gesetzt waren, strebte nach mehr, dabei in Kauf nehmend, dass es Nachteile hatte. Dass sie immer noch unverheiratet war, um nur ein Beispiel zu nennen. Sie sehnte sich nicht allzu sehr nach einer Familie, aber das war nun einmal das, was von einer Römerin ihres Alters erwartet wurde – nicht dass sie heiratete, sondern dass sie schon längst verheiratet war und Kinder hatte. Allerdings, um sich ihrer eigenen Frage zu stellen: Seiana war sich nicht sicher, ob eine Familie sie ausfüllen würde. Ein Teil von ihr glaubte, hoffte, dass es das war, was ihr endlich ein wenig Frieden bringen konnte. Allein der Fakt, dass sie dann einen weiteren – großen – Teil der Pflicht endlich erfüllt haben würde, die sie gegenüber ihrer Familie und der Gesellschaft hatte, musste doch etwas bedeuten, musste irgendetwas bringen, für sie. Ein anderer Teil wusste mit unumstößlicher Sicherheit, dass sie das bei weitem nicht ausfüllen würde. Sie erwiderte den Blick der Aurelia. „Was dann?“ fragte sie, ein wenig leiser nun. „Was würde dich dann ausfüllen?“

    Seiana musterte den Senator neben sich einen Augenblick, kam aber nicht mehr zu einer Antwort, weil der Praetor in diesem Moment die Verhandlung eröffnete. Sie nickte nur leicht zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Vorsätzlich würde sie ihre Familie ganz sicher nicht bevorzugen, dennoch war sie nun einmal auch eine Decima – und sich nicht so sicher, ob sie tatsächlich objektiv genug würde berichten können. Aber das war etwas, womit sie sich später an diesem Tag beschäftigen würde, wenn sie an ihrem Tisch saß und schrieb, und nun, es war ja nicht so, als dass sie ihre Artikel nicht noch einmal von jemandem gegenlesen lassen konnte.


    Die Verhandlung hatte unterdessen nicht nur begonnen, ihr Onkel stellte gerade einen Antrag auf Vertagung, und Seiana blickte nach vorne. Mochte sein, dass sie an einem anderen Tag würde wieder kommen müssen.

    Der Aurelier grüßte zurück und lächelte, und dann sagte er ein Wort, das Seiana für einen winzigen Moment erstarren ließ. Ihre Augenbrauen schnellten nach oben, während sie ihn ansah – aber zunächst schwieg, weil sie nicht ganz sicher war, ob sie ihrer Stimme gerade trauen konnte. Ein Augenblick verstrich in Schweigen, auf ihrer Seite, während ihr Patron schon weiter sprach. Dann noch einer. Sie setzte sich hin, nahm den Becher entgegen, trank einen Schluck, alles schweigend. Und dann: „Auctrix?“ fragte sie nach. „Dann hat der Senat tatsächlich für mich entschieden?“ Die Frage war im Grunde müßig, Corvinus’ Worte waren eindeutig gewesen. Das hier würde nun ihr Büro sein. Ab heute. Ab jetzt. Irgendwie konnte sie es noch nicht so wirklich fassen, denn begann sich langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht auszubreiten, eines der wenigen wirklich ehrlichen, die sie zeigte. „Das ist…“ Sie verstummte und setzte neu an: „Ich glaube, ich brauche noch ein bisschen. Und du ist bereits fertig?“

    „Nun…“ Seiana blickte nach vorn und unterdrückte ein Seufzen, atmete stattdessen nur ruhig ein. „Vielleicht war da auch nur der Wunsch Vater des Gedankens. Aus rein persönlichem Interesse würde ich es vorziehen, wenn die Verhandlung schnell und unspektakulär vonstatten geht.“ Natürlich wünschte sie sich das, aber sie glaubte auch selbst nicht so recht daran. Selbst wenn sich die Vorwürfe als haltlos erwiesen – was Seiana nicht einschätzen konnte, dafür hatte sie zu wenig Ahnung –, hieß es doch immerhin eines: irgendjemand hatte es auf ihren Onkel abgesehen. Warum sonst eine derartige Anklage? Ihre Augen suchten kurz nach dem Octavier, der ebenfalls bereits da war. Vielleicht sollte sie im Anschluss an die Verhandlung das Gespräch mit ihm suchen. Vielleicht verriet er ihr ja etwas… nun, die Wahrscheinlichkeit war nicht sonderlich hoch, aber einen Versuch war es womöglich wert. „Ich denke auch, dass du Recht haben wirst. In dem Fall wird es auch eine Berichterstattung geben.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu und verzog ihre Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln. „Falls dir der Bericht im Anschluss nicht objektiv genug erscheint, würdest du mir einen Gefallen tun, wenn du mir Bescheid geben könntest.“ Die bisherigen Artikel über ihre Familie waren nicht einmal über ihren Tisch gegangen, insofern wäre das hier nicht nur eine ihrer ersten Aufgaben als Auctrix, sondern gleich eine Art Feuerprobe, wie geeignet sie wirklich war für diesen Posten. Ob sie trennen konnte zwischen persönlichem und beruflichem Interesse.

    Zwei Tage waren vergangen seit ihrer Befragung im Senat. Im Anschluss daran hatte Seiana sich auf den Heimweg gemacht, da sie davon ausgegangen war, dass der Senat noch länger tagen würde – und da sie weder hatte warten wollen dort noch hatte erwarten können, dass ihr Patron hinauskam, um ihr das Abstimmungsergebnis mitzuteilen. Also war sie gegangen, innerlich zugleich beruhigt, die Befragung hinter sich zu haben, wie auch nervös, weil sie keine Ahnung hatte, wie es ausgehen würde. Im Grunde hatte sie das Gefühl, einen guten Eindruck gemacht zu haben. Aber sie traute dem nicht so recht, und sie wollte sich schon gar keine Hoffnungen machen, die am Ende enttäuscht wurden. Die letzten beiden Tage waren nicht einfach gewesen für sie. Sie hatte sich nichts anmerken lassen, war ihren Tätigkeiten nachgegangen wie stets, aber nicht zu wissen, wie die Abstimmung ausgegangen war, hatte doch an ihren Nerven gezehrt. Sie hatte auf eine Botschaft von Aurelius Corvinus gewartet, aber es war keine gekommen – und mehr als einmal war sie in Versuchung gewesen, entweder im Haus der Acta vorbei zu sehen oder, wenn sie den Aurelier dort nicht antraf, zu ihm nach Hause zu gehen, nur um ihn fragen zu können. Aber das wäre ihr lächerlich erschienen und ungeduldig. Und so hatte sie gewartet, bis heute, wo sie ohnehin ihren Schreibtisch bei der Acta aufsuchen würde, um ihrer Arbeit nachzugehen. Dann jedoch ging es schneller als erwartet – kaum hatte sie Platz genommen, tauchte auch schon Ion an ihrer Seite auf und richtete ihr aus, dass Corvinus sie zu sehen wünschte, und Seiana erhob sich wieder und betrat kurze Zeit später das Büro des Aureliers. Das ehemalige Büro, wie es den Anschein hatte, denn auf dem Schreibtisch stand eine kleine Holzkiste, und die wenigen persönlichen Gegenstände des Aureliers waren nicht mehr zu sehen. „Salve, Patron“, grüßte sie ihn ruhig, die Frage ignorierend, die ihr auf den Lippen brannte. Lediglich ihr aufmerksamer Blick verriet, dass sie nicht ganz so ruhig war, wie sie schien.

    „Danke“, lächelte Seiana zurück, während sie sich niederließ auf dem Platz. Der Prozess selbst hatte noch nicht begonnen, und es schien auch noch ein wenig zu dauern, denn einer der beiden Richter fehlte noch. Dann wandte sie sich zu dem Senator an ihrer Seite, mit beherrschter Miene, aber einem leicht überraschten Aufblitzen in ihren Augen. Sie hätte nicht gedacht, dass er sich tatsächlich an sie erinnerte. Sie selbst hatte sich bereits in ihrer Zeit als Lectrix darum bemüht, sich die wichtigsten Männer Roms mit Namen und Gesicht einzuprägen, so gut es ihr möglich war, und im Gegensatz zu dem Purgitier – oder anderen Senatoren – traf sie sicher weit weniger Menschen, deren Namen sie sich merken musste. „In erster Linie familiäres Interesse, muss ich gestehen, Senator. Mein Onkel wird angeklagt, und in einem der beiden Fälle betrifft es meinen Bruder“, antwortete sie. „Ob die Verhandlung genug Stoff bietet für eine ausführliche Berichterstattung, werden wir erleben. … Das Interesse an meiner Familie scheint zumindest vorhanden zu sein derzeit“, fügte sie nach einem kurzen Zögern und mit einem schwachen Lächeln hinzu.

    [Blockierte Grafik: http://img294.imageshack.us/img294/2627/demetrios.jpg~Demetrios~


    Demetrios löffelte weiter seine Suppe, während er Aristea Zeit ließ, über seine Worte nachzudenken, und sich gleichzeitig Zeit nahm, sie zu mustern und einzuschätzen. Ihr schien seine Beschreibung der Herrin nicht allzu schlecht zu gefallen, und sie hatte auch Recht damit – mit der Decima ließ es sich eigentlich ganz gut leben, als Sklave, selbst wenn einem hin und wieder ein Fehler unterlief. „Deine frühere Herrin hat zu Temperamentsausbrüchen geneigt? Wie war sie denn so? Wie lange warst du bei ihr?“ fragte Demetrios, teils aus echtem Interesse, teils aus, nun, quasi berufsbedingter Neugier, wenn er schon derjenige war, der sich um sie kümmern sollte. „Dass du darauf verzichten kannst, glaub ich gern. Wie gesagt, bei der Decima… es müsste schon etwas extremes vorfallen, dass sie so die Kontrolle verliert. Da wirst du dir keine Sorgen machen müssen, denke ich. Hat aber auch Nachteile“, nickte er, als Aristea weiter sprach. „Ist nicht leicht zu merken, ob sie mit einem wirklich zufrieden ist oder nicht.“


    Demetrios biss von dem Brot ab und kaute, während er zugleich ihre nächste Frage hörte und darüber nachdachte. „Ich bin schon lang im Besitz der Familie, also ja, ich kenne einige. Aber ich hatte bisher immer eher oberflächlich mit ihnen zu tun. Bin eher mit allgemeinen organisatorischen Aufgaben hier betraut, bisher allerdings eher in der zweiten Reihe, weswegen ich selten direkt mit den Herrschaften zu tun hatte.“ Das hatte sich in der letzten Zeit jedoch geändert, als zuerst Meridius und nun auch Livianus gegangen waren und ihre eigenen Sklaven mitgenommen hatten. Und da auch Serapio nun Rom ganz verlassen und Mattiacus während seines Tribunats nicht in der Casa gewohnt hatte, war Seiana zu seiner ersten Ansprechpartnerin geworden. Und wer wusste schon, vielleicht hatte sie ja auch noch mehr Verwendung für ihn, vielleicht übernahm sie ihn komplett in ihre Dienste. Wäre nicht das Schlechteste, fand er. „Im Moment sind nicht allzu viele hier“, fuhr er dann unaufgefordert fort. „Ich hab dir ja vorhin schon die Zimmer gezeigt. Decimus Mattiacus ist hier, und Duccia Venusia, die Frau von Decimus Magnus, verbringt viel Zeit hier in Rom. Der Rest der Familie ist verstreut, du findest Mitglieder in Italia, Germania, Hispania… Sogar in Aegyptus, dort ist Seianas Bruder stationiert. Der einzige, der noch lebt, übrigens, das solltest du wissen. Nicht dass du bei ihr in irgendein Fettnäpfchen trittst, wenn du über ihre engste Familie sprichst. Ihre Eltern leben auch nicht mehr.“





    SKLAVE - GENS DECIMA

    Auch Seiana hatte sich rechtzeitig zu der Verhandlung eingefunden. Sie hatte sich kundig gemacht, hatte erfahren, dass ihr Onkel Mattiacus die Verteidigung übernahm, dass der ehemalige Consul Tiberius Durus sowie Flavius Gracchus Richter sein würden. Sie wusste, dass der Octavier die Anklage führte, eben jener Octavier, dessen Kurs sie besucht und den sie neulich in einem Park getroffen hatte, gemeinsam mit dem Duccius Vala. Eine Gelegenheit, im Vorfeld mit ihrem Onkel zu sprechen und von ihm zu erfahren, was er von dieser Klage hielt – oder wie er die Aussichten einschätzte für einen positiven Ausgang dieser Verhandlung –, hatte sie indes nicht mehr gehabt. So blieb ihr nun nicht mehr, als ihm kurz zuzunicken, als sich ihre Blicke trafen, bevor sie sich einen Platz suchte.


    Der Bereich für die Zuschauer war nicht unbedingt überfüllt zu nennen, allerdings zog Seiana es vor, weiter vorne zu sitzen, wo es dann doch nicht mehr allzu viele freie Plätze gab. Als sie dann den Senator Purgitius Macer entdeckte, steuerte sie den Sitz neben ihm an, der noch frei war. Es konnte nicht schaden, neben einem Senatskollegen ihres Onkels zu sitzen und möglicherweise zu erfahren, was er von dieser Sache hielt. Oder von ihrer Gens allgemein, die in letzter Zeit nun doch ein wenig gelitten hatte im öffentlichen Ansehen. „Salve“, grüßte sie ihn, bevor sie, auf den Sitz neben ihm deutend, fragte: „Ist der Platz noch frei?“