Mit ihrem Onkel Livianus war auch Seiana zum Rennen erschienen. Sie empfand nicht die Begeisterung für Wagenrennen, die viele – wohl die meisten anderen – hier empfanden, aber immerhin war es ihr Patron, der diese Spiele veranstaltete, und ganz davon abgesehen hatte sie sich zu lange abgekapselt, sich zurückgezogen. Es wurde Zeit, dass sie sich wieder in der Öffentlichkeit zeigte, dass sie wieder mehr tat als einfach nur ihren Kopf in die Bücher zu stecken, sei es nun die von ihren Betrieben oder die von ihren Studien. Und deshalb war sie heute hier, gekleidet mit schlichter Eleganz, wie es ihr Stil war, in einem Kleid, das dezent zum Ausdruck brachte, dass auch sie für die Goldenen war. Und die Spannung, die das Stadion erfüllte, ließ auch sie nicht gänzlich unberührt – nur hatten die Goldenen nicht wirklich das, was man einen guten Start nennen würde. Ganz anders als das Gespann der Roten, das die Führung übernahm. Seiana stellte fest, dass sie nicht einmal die Namen der Fahrer wusste. Oder sich nicht daran erinnern konnte, wenn sie es gewusst hatte. Und dann, in der zweiten Runde, gelang es dem Fahrer der Goldenen, sein Gespann gleichauf mit dem der Blauen zu lenken. Und Seiana fragte sich plötzlich, ob auch Caius heute hier war. Er war immer begeistert von Rennen gewesen, und ein begeisterter Anhänger der Blauen, und der einzige Grund, warum sie sich nicht in die Haare bekommen hatten, war, weil sie sich für Rennen nicht allzu sehr interessierte – und daher keinen Wert auf einen Streit darüber legte, wer nun besser war: die Aurata oder die Veneta. Seiana presste die Lippen aufeinander und neigte sich ein wenig vor, und ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als unter Jubel aus dem Block der Goldenen deren Gespann sich vorbeischob an dem der Veneta. So lange die Blauen nur hinter den Goldenen blieben… konnte das Rennen ihretwegen so ausgehen, wie es jetzt stand. „Wie lange ist der Fahrer schon bei der Aurata?“ fragte sie ihren Onkel.
Beiträge von Decima Seiana
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Es konnte gar nicht anders ausgesehen haben, weil das nichts gewesen war, davon war Seiana überzeugt. Sie hatte sich nicht gerührt. Sie hatte sich auch nicht gewehrt, hatte die Iunia nicht weggestoßen, das ja, aber sie hatte sich auch nicht bewegt – sie hatte Axilla einfach machen lassen. Und genau das warf sie sich vor, jetzt noch viel mehr als in dem Moment direkt danach. Aber bevor sie etwas sagen konnte, sprach Caius schon weiter, und was er sagte, ließ Seiana erstarren. Verklemmt. War sie das? Warum war sie verklemmt, nur weil sie sich weigerte, vor der Hochzeit mit einem Mann ins Bett zu springen? Von Frauen wurde doch genau das erwartet, von Frauen wurde auch Treue während der Ehe erwartet, ganz im Gegensatz zu Männern, das war nun mal so, und er machte ihr das zum Vorwurf, dass sie sich an diese Dinge hielt? Und dann eskalierte die Situation noch mehr, weit mehr, als Seiana geglaubt hätte auf ihren letzten Kommentar hin. Sie blieb, wo sie war, als Caius auf sie zukam und lospolterte, aber mit jedem weiteren Wort – frigide, verklemmt, Eisklotz – schienen sich mehr und mehr Stacheln in sie hineinzutreiben, die brannten und schmerzten. Eisklotz. Sie war ein Eisklotz. Sie war kalt, gefühlsunfähig, verklemmt. Sie war nicht genug. Es spielte keine Rolle, dass Axilla nicht im Entferntesten das Ideal der Frau repräsentierte, das Seiana vorschwebte für eine Römerin, für sich. Sie wollte nicht sein wie sie, ganz und gar nicht, den Axilla gab offenbar herzlich wenig auf Ehre und Tradition. So wie Caius. Caius gab so wenig darauf, dass er noch nicht einmal zu begreifen schien, wie Seiana anders denken konnte. Er begriff noch nicht einmal, dass Familie und Tradition das war, woran Seiana sich klammern konnte, was ihr ein Grundgerüst gab für ihr Leben. Er hatte es nie begriffen, in all der Zeit nicht, die sie verlobt gewesen waren. Sie war nicht in der Lage, so zu fühlen wie andere, und wenn, dann war sie nicht in der Lage dem so Ausdruck zu verleihen wie er es tat. Sie wusste das. Sie hatte nur geglaubt, Caius hätte das auch gewusst, hätte das gemerkt in der Zeit. Hätte gewusst, dass ihre Gefühle für ihn trotzdem tief gingen. Aber wenn er sie für kalt hielt, für frigide…
Sie wollte etwas sagen. Sie wollte es wirklich. Aber sie schien wie gefroren zu sein. Es hätte so viel zu sagen gegeben, angefangen davon, dass Axilla eben doch ein Miststück war, das ihr den Verlobten ausgespannt hatte, über die Tatsache, dass sie für niemanden über diesen bestimmten Schatten gesprungen wäre, nicht einmal für einen Senator oder den Kaiser selbst, bis hin zu dem, was wirklich in ihr vorging. Sie war nach wie vor überzeugt davon, dass das, was passiert war, nicht ihre Schuld war, dass es an Axilla lag und an Caius, nicht an ihr, weil sie nicht im eigentlichen Sinn etwas falsch gemacht hatte – aber sie war eben nicht genug. Sie wusste, dass sie nicht genug war. Das war einer der Gründe, wenn nicht der Hauptgrund, warum sie sich so sehr bemühte, so zu sein, wie ihre Mutter sie hatte haben wollen, und wie es erwartet wurde von einer Römerin. Aber das war etwas, was sie niemandem je gesagt hatte. Und wohl auch niemandem je sagen würde. Nicht einmal Faustus. Und auch, was es sonst noch zu sagen gegeben hätte… Es kam nicht über ihre Lippen. Sie hatte verloren. Und die Niederlage fühlte sich in diesem Moment so total an, dass es nichts mehr gab, wie sie sich noch hätte wehren können. Und so sah sie ihrem ehemaligen Verlobten nur wie erstarrt hinterher, bleich und erstarrt und erfroren wie die von ihm erwähnte Schneekönigin, als er wutentbrannt aus dem Raum stürmte.
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„Das ist doch gar nicht wahr!“ fuhr Seiana auf. „Ich habe nicht zurückgeküsst, das hast du dir höchstens eingebildet, weil du das gern so gehabt hättest! Ich hab mich überhaupt nicht gerührt, weil ich komplett erstarrt war weil sie so… so… dreist und unverfroren und unmöglich war! Und der Alkohol ist keine Ausrede, sie hätte ja nicht so viel trinken müssen, dass es sie auf die Art weghaut! Schon gar nicht in Gesellschaft!“ Seiana war in Fahrt, und obwohl diese eine Stimme in ihr beständig weiter nörgelte, dass sich das nicht gehörte, schien sie nicht aufhören zu können, ganz gleich dass sie wusste, dass es aus vielerlei Gründen besser gewesen wäre. „Ach. Und ich hab nicht bewiesen, dass ich in der Lage bin so was zu schaffen, wie?“ Natürlich hatte er Axilla seine Betriebe nicht anvertraut, nur weil sie Arbeit gesucht hatte. Oder weil er geglaubt hatte, Seiana wäre nicht in der Lage gewesen, alles unter einen Hut zu bekommen. Er hatte sie der Iunia anvertraut, weil sie da – wohl schon längst – etwas am Laufen gehabt hatten. Weil er sie bevorzugte, vor Seiana. In allen Belangen, wie es schien. Seiana wusste das, und es tat unglaublich weh, sich das einzugestehen. Dass es vielleicht mit dem Sex losgegangen war, dass das aber nicht das Einzige geblieben war. Sonst hätte er die Verlobung nicht gelöst. Sie hatte nicht vergessen, was er gesagt hatte. Axilla war anders. Und sie… war nicht genug.
Seiana biss den Schmerz zurück, den diese Gedanken auslösten. Sie wusste das, sie hatte es immer gewusst. Nicht genug. Ihr Herz pochte, und es lief ihr heiß und kalt den Rücken hinunter bei Caius’ nächsten Worten. Sie schluckte mühsam. „Auf Gefühle ist doch eh kein Verlass, nicht auf solche. Sieht man ja. Aber das ändert nichts daran, wie sehr ich dich gemocht hab. Wie wohl ich mich gefühlt hab bei dir.“ Ein harter, bitterer Zug bildete sich um ihre Mundwinkel. „Du hättest Livianus nicht fragen, sondern nur kennen lernen sollen, und das vor der Hochzeit, war das denn zu viel verlangt? Meine Familie ist mir nun mal wichtig! Und warum? Weil nur auf Blut Verlass ist, das jetzt ist doch wieder der beste Beweis! Wo glaubst du würde ich jetzt stehen, wenn sie mir egal gewesen wären? Wenn ich dich geheiratet hätte, in Alexandria? Und du dann die Scheidung gewollt hättest, weil dich der Zufall in die Arme von irgendeinem Miststück getrieben hätte? Ich bin gewissen Menschen eine Erklärung schuldig, und sei es nur, weil ich sie miteinbeziehen will, und du kannst mir wirklich nicht vorwerfen, dass ich meine Familie dabei haben will, wenn ich heirate! Und dass ein Reise zwischendrin mal nach Rom nicht geklappt hat, ist auch nicht meine Schuld!“
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Seiana ließ Caius nicht zu Wort kommen – sie registrierte nicht einmal wirklich, dass er etwas sagte, so sehr war sie in Fahrt. Aber als sie dann eine Pause machte, schaltete er sich dazwischen, und unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück. Und noch einen. Wie ein Kämpfer, der getroffen worden war. „Warum mich das stört? Ich könnte dich genauso gut fragen, warum dich stört, dass ich an Überlieferungen und Traditionen festhalte! Das wusstest du von Anfang an! Und klar, ich hab gewusst dir ist das nicht so wichtig, aber ich dachte trotzdem, dass dir wenigstens etwas davon auch etwas bedeutet – ganz davon abgesehen dass ich dachte, dass du mich und meine Meinung respektierst!“ Sie hob die Hände und fuhr sich durch die Haare. Plötzlich war ihr nach Heulen zumute, vor Wut, vor Schmerz, vor Chaos. Aber so weit hatte immer noch sie die Kontrolle, dass sie das nicht zuließ. „Du bist ja jetzt nicht derjenige, der unter der Sache zu leiden hat! Ich will kein Leben hier in Rom verbringen, wo mich jeder schräg ansieht, weil ich immer noch unverheiratet bin! Und erzähl mir nicht, Axilla könnte nichts dafür, ich bitte dich! Oder willst du mir etwa erzählen, du wärst über sie hergefallen, obwohl sie nein gesagt hat? Ich hab doch gesehen, wie sie sich bei Pompeius an dich rangeschmissen hat! Ihr ganzes Verhalten da, das war doch nicht mehr feierlich, was sie da abgezogen hat!“ Seiana musste beinahe würgen, als sie daran dachte, dass die Iunia sie geküsst hatte. Dass ihre Lippen sich berührt hatten. „Natürlich hab ich JA gesagt! Was hätte ich denn sonst tun sollen, ich mein, ich hab auch meinen Stolz! Ich werd nicht darauf bestehen, dass du dein Versprechen hältst, wenn du mir nur einen Moment davor gesagt hast, dass du eine andere mir vorziehst! Dass du mich nicht willst! Dass du deine Zeit sowohl inner- als auch ganz offensichtlich außerhalb des Betts viel lieber mit einer anderen verbringst, bis hin zu der Tatsache, dass du ihr deine Geschäfte anvertraust und nicht mir, wie es hätte sein sollen als deine Verlobte und zukünftige Frau!“
Und dann machte Seiana noch einen Schritt zurück. „Und wie oft hast du mir gesagt, dass du mich liebst? Ich kann das nicht an einer Hand abzählen, das war öfter. Aber ernst gemeint war es deswegen trotzdem nicht, wie man sieht.“ Sie schüttelte den Kopf, und urplötzlich flaute die Wut ab – und ließ sie leer zurück. So leer, und so erschöpft. Und mit einem dröhnenden Schädel. „Es geht mir um mich und meine Familie. Aber das hast du ja nie begriffen.“ Sie wandte sich ab und starrte zum Fenster hinaus, aber dann flackerte doch wieder Wut auf in ihr, und sie sah ihn wieder an. „Oh ja. Red dir das nur ein. Das macht die Sache herrlich einfach für dich, wenn du nur glauben könntest, ich hätte dich nicht gewollt. WARUM wohl glaubst du, hab ich das alles getan? Ich bin für dich nach Ägypten gereist! Und ich hätte nie, nie, NIEMALS ja gesagt, wenn ich dich nicht gewollt hätte!“
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Caius reagierte nicht. Er starrte sie nur an. Und einem Teil von ihr begann zu dämmern, wie sie sich gerade aufführte. Aber dieser Teil, der beherrschte, war bei weitem nicht stark genug, um das hispanische Temperament zu zügeln, das auch in ihr schlummerte und vor allem durch jahrelange Erziehung nach und nach gedämmt worden war. Eingezäunt. Eingesperrt. Und obwohl sie es sich nicht eingestand, sie wartete auf eine Reaktion von ihm, eine, die ihrem Ausbruch würdig war – wartete auf eine Reaktion wie die, die von Faustus gekommen wäre in so einer Situation, der zurückgebrüllt und türenkrachend das Haus verlassen hätte wohl. Aber Caius tat nichts dergleichen. Im Gegenteil. Diesmal war es er, der – bewundernswert – ruhig blieb. Was Seiana auf der einen Seite sich nur noch schlechter fühlen ließ, weil sie es nicht fertig brachte, und auf der anderen Seite zugleich dafür sorgte, dass sie es nicht schaffte, sich zu beruhigen. „Das mit der Freundschaft kannst du doch eh nicht ernst gemeint haben! Wie stellst du dir das vor? Ich soll dann trotzdem noch für dich da sein und dich unterstützen? Oder war das eher aus Mitleid gemeint, die arme Seiana, ist nicht geeignet, kriegt keinen ab, ist eh zu alt dafür, wenigstens das soll sie haben?!?“ Am liebsten hätte sie noch eine Vase zu Boden geschleudert, aber es war nur die eine in Reichweite gewesen, und quer durch den Raum zu einer anderen zu laufen, so weit war sie dann doch nicht. „Mein… mein Problem? Du fragst… du… die Frage ist nicht dein Ernst!“ Aber genau das schien der Fall zu sein. Seiana starrte Caius an. „Mein PROBLEM ist diese ganze verdammte Situation! Die Lage, in die du mich bringst! Du bist doch nicht der einzige, der Jahre gewartet hat, ich hab auch gewartet, auf dich, auf die Hochzeit, und im Gegensatz zu dir ist es bei mir nicht egal, wann ich mich endlich bequeme mir einen Ehepartner zu suchen! Im Gegensatz zu euch Männern wird bei uns auf eine ellenlange Liste an Dingen geachtet, und das Alter ist nur eins davon! Aber nein, ich denk ja die Sache wär klar, also macht mir das nichts aus, dass ich älter werde und älter und immer weiter wegkomme von dem Alter, in dem es normal ist für eine Frau, das erste Mal zu heiraten, und was ist dann? Du lässt mich sitzen. Für eine Jüngere! Weil die sich offenbar einen Dreck um Ehre und Anstand und Traditionen schert! Weil sie anders ist! Ich wollte dich heiraten, ich hab mich darauf eingestellt, ich wollte mit dir mein Leben verbringen, mit dir, weil ich dich mochte, weil ich mir vorstellen konnte, das funktioniert mit uns! So ein Versprechen gibt man nicht leichtfertig, das war mir ernst, und jetzt steh ich da und muss zusehen, wie ich aus meinem Leben was machen kann, damit auf mich oder meine Familie kein schlechtes Licht fällt, weil ich in meinem Alter noch unverheiratet bin und nicht mal die Aussicht auf einen Ehemann hab!“
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Seiana fühlte sich, als ob sie eine Eisdusche bekommen hätte. Sie starrte Caius an. Dafür bist du zu alt. Das war kein Fettnapf, in den er da trat. Der Satz vorhin, dass sie so keinen bekommen würde, keinen Ehemann, den konnte sie noch in der Kategorie Fettnapf verbuchen, aber nicht das. Nicht das. Das war Absicht, und er hatte es gesagt, um ihr weh zu tun. Sie war zu alt, und das wusste sie. Sie war zu alt für die Vestalinnen, zu alt um jetzt noch in einen anderen Dienst als Priesterin einzusteigen und etwas Vernünftiges aus ihrem Leben zu machen, etwas, was gesellschaftlich angesehen und akzeptiert war, und sie mochte nicht im eigentlichen Sinn zu alt sein für eine Ehe, aber sie war weit über das Alter hinaus, in dem die erste Ehe hätte geschlossen werden sollen. Aber: als sie Caius kennen gelernt hatte, da war es noch im Rahmen gewesen. Nicht mehr das ideale Alter, aber im Rahmen, und sie hatte ja eine Erklärung gehabt, eine gute, sie hatte sich um ihre Mutter gekümmert während ihrer langen Krankheit bis zum Tod. Jetzt? Jetzt musste sie sagen, dass sie Zeit damit vertrödelt hatte mit einem Mann verlobt zu sein, der sich dann, als es ernst geworden wäre, für eine andere entschieden hatte. Eine Jüngere.
Ihre Hände öffneten und schlossen sich, und zugleich schmerzte ihr Kopf, immer mehr. Caius’ Worte rieselten an ihr vorbei, irgendwie. In eine lupa verlieben. Jetzt sagte er ihr auch noch, dass er sich sogar in eine lupa verliebt hätte, weil sie, Seiana, offenbar so furchtbar war. Plötzlich wünschte sie sich Wein. Bei dem Gedanken an noch mehr wurde ihr beinahe übel, und dennoch wünschte sie sich das: noch mehr Wein. Genug, dass sie all das hier einfach darin ertränken konnte. Dass sie vergessen konnte. Dass sie nicht mehr Caius’ Stimme hörte, die in ihren Ohren, ihrem Kopf dröhnte, ihr all das vorhielt, was an ihr auszusetzen war, was sie falsch gemacht hatte, was sie erwarten würde… Sie ist anders. Du findest doch keinen. Du bist zu alt. Und schließlich, als Seiana es nicht mehr aushielt, entlud sich das ganze Chaos, der Schmerz und die Wut. Sie holte mit dem Arm aus und fegte die nächstgelegene Vase zu Boden, schmetterte sie vielmehr von ihrem Platz, so dass sie quer durch den Raum flog, bis sie schließlich auf dem Mosaik am Boden zerschellte. „RAUS HIER“, brüllte sie dann. „VERSCHWINDE! SCHICK KATANDER VORBEI, WENN DU WILLST, ABER VERSCHWINDE!“
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Und dann kam wieder ein paar Kommentare, bei denen es Seiana zunehmend schwerer fiel, sich zu beherrschen. Sie wollte sich beherrschen, sie hatte diesen Anspruch an sich, sie wollte sich vor ihm nicht gehen lassen, aber je länger Caius sprach, desto schwerer fiel ihr das. Meistens war es als Zufall gewesen. Davon abgesehen, dass sie sich nicht so ganz sicher war ob sie das tatsächlich glaubte, bei ihm nicht und bei Axilla erst recht nicht – sie war sich nicht so sicher, ob ihr das wirklich so viel besser gefiel. Zufall also. Was sagte das über sie aus, und über die Beziehung, die Caius und sie hatten, wenn so etwas zufällig passierte? Aber sie wollte nicht darüber nachdenken, und es war Caius, der ihr dabei half, weil er weiter sprach. Und Seiana lief es bei seinen Worten heiß und kalt den Rücken hinunter, während der Druck in ihrem Kopf zunahm und immer stärker zu pochen schien. Ein Pulsieren, das sich irgendwo im Schläfenbereich konzentrierte. Und dann wich auch noch das letzte bisschen Blut aus ihren Wangen. Mit dieser Einstellung findest du doch keinen. Sie stand auf, mit einem so heftigen Ruck, dass ihr Stuhl kippte und krachend hintenüber zu Boden fiel. „Dann sollte ich vielleicht zu den Göttern beten, dass ich noch Chancen bei den Vestalinnen hab, oder?“ zischte sie. Was um alles in der Welt hatte er denn? Warum gab es denn diese Traditionen, warum wurde das denn von Frauen erwartet? Sie bildete sich das doch nicht nur ein! Und es war auch nicht ihre Schuld, dass ihre Verlobungszeit so lange gedauert hatte, denn er hatte ja so lange in Ägypten bleiben wollen! „Und es ist nicht egal. Bei einer lupa, oder einer Sklavin, befriedigst du deine Bedürfnisse. Du kommst nicht auf die Idee, auf einmal sie heiraten zu wollen statt mich!“
Mit einem Ruck wandte Seiana sich ab und entfernte sich ein paar Schritte von ihm. Ihr Kopf dröhnte, und sie verfluchte sich lautlos dafür, dass sie sich nicht beherrscht hatte. Aber als Caius sagte, er hatte sie nicht zum Streiten besuchen wollen, hatte sie schon wieder Mühe, ruhig zu bleiben, ihm nicht im übertragenen Sinn an die Gurgel zu gehen. Warum war er dann hier? Das war doch genauso wie sein Ansinnen, dass sie Freunde bleiben sollten! Was bildete er sich denn ein? Erwartete er ernsthaft, dass sie einfach zur Tagesordnung übergehen würde, als wäre nichts geschehen? Als hätte er sie nicht blamiert, als hätte er nicht dafür gesorgt mit seinem Verhalten, dass ihre Chancen, jetzt noch einen anständigen Ehemann zu finden, weiter gesunken waren, als hätte er sie nicht verletzt? Sie antwortete nicht. Sie traute sich selbst nicht. Wenn sie jetzt etwas gesagt hätte, hätte sie ihn vermutlich angebrüllt. Aber die Anspannung wuchs, und der ganze Tumult, der in ihr brodelte und durch die Eisschicht verdeckt wurde, der bereits gerade eben ein Schlupfloch gefunden hatte und wie ein Lavastoß empor geschossen war, kochte in ihr weiterhin, suchte nach einer Möglichkeit, auszubrechen, und fand gleich darauf eine weitere Chance. „Er wird dich nicht kostenlos behandeln. Du nimmst die Taberna, oder du nimmst das Geld, aber du kriegst keine kostenlose Behandlung“, knurrte sie. Wäre ja noch schöner. Ein Geschenk, das er weder zurückwollte noch umwandeln wollte in einen Verkauf – aber eine lebenslange kostenlose Behandlung, das könnte ihm so passen. Aber nicht mit ihr.
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Ihre Gedanken mochten doch in die gleiche Richtung gehen – spätestens was den Part der politischen Heirat betraf, trennten sich die Wege endgültig. Seiana hatte es versucht. Sie hatte es versucht, mit Caius, eine Bindung einzugehen, eine Ehe anzustreben, die nicht rein politisch motiviert war. Er war ihr von Anfang an sympathisch gewesen, und er stammte aus einer guten Familie. Und je näher sie ihn kennen gelernt hatte, desto mehr hatte sie angefangen ihn wirklich zu mögen. Was hätte besser sein können als das? Eine Bindung, in der beide Partner sich gegenseitig respektierten, sich aufrichtig mochten und gut verstanden – und darüber hinaus beide aus Familien stammten, die für den jeweils anderen angemessen waren? Von so einer Bindung profitierten doch alle. So eine Bindung war doch… das Beste, was passieren konnte. Hatte sie geglaubt.
Jetzt dachte sie anders darüber. Sie hatte es versucht. Und es hatte nicht funktioniert. Vielleicht ging es bei anderen, aber bei ihr hatte es nicht funktioniert. Sie mochte vielleicht naiv gewesen zu glauben, dass es etwas hätte werden können, dass es eine solche Ehe hätte geben können für sie – aber sie war niemand, der einen Fehler zweimal beging. Auf Gefühle war kein Verlass. Sie hatte auf Sympathie gebaut, die stetig tiefer geworden war. Und Caius? Caius hatte ihr weit mehr als nur einmal gesagt, dass er sie liebte. In Anbetracht der Tatsache, wo sie nun standen, war das doch ein mehr als deutlicher Beweis dafür, dass auf Gefühle kein Verlass war. Sicherlich mochte es die geben, bei denen sie Bestand hatten, aber das war ein Geschenk der Götter. Und sie, Seiana, war keine Frau, die eine derartige Gunst der Götter erwarten durfte. Dafür gab es zu viel in ihrem Leben, zu viel an ihr und in ihr, was anders sein sollte. Das war doch die einzige Erklärung… Und Gefühle allein waren zu flatterhaft, um sich darauf zu verlassen, sofern sie nicht von Familienbanden gestützt waren.
„Ich danke dir“, antwortete Seiana dann leise, als ihr Onkel ihr seine Unterstützung und die der Familie zusicherte. „Ich wünschte, ich könnte das Gerede irgendwie eindämmen. Ich möchte nicht, dass ein negatives Licht auf die Familie fällt. Was ich dazu beitragen kann, werde ich tun, aber ich fürchte es wird nicht viel geben, außer es zu ignorieren.“
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Livianus wirkte… nicht sonderlich erfreut. Natürlich nicht, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Wie sollte er auch erfreut sein, wenn seine Nichte ihm gerade mitgeteilt hatte, dass sie doch nicht heiraten würde? Seine Nichte, die keine Eltern hatte, die sui iuris war, die in einem Alter war in dem andere Frauen schon längst verheiratet waren und ihrem Mann bereits Kinder geboren hatten… Und sprach ihr Onkel weiter, und Seiana begriff, dass er aus ganz anderen Gründen so knapp gewesen war. Oder zumindest seinen Worten nach zu schließen. Allerdings… war sie sich nicht so ganz sicher ob ihr gefiel, was er sagte. Sie wusste es nicht. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass er mit Quarto sprach, dass er etwas tat, was Caius zeigte, dass er so nicht mit ihr umspringen konnte. Der weitaus größere Teil jedoch wusste nicht so recht, ob die Idee gut war. Sie hatte ja eingewilligt. Und es hatte keinen Sinn. Und es war die Sache nicht wert. Und sie wollte nicht, dass jemand wusste, wie sehr sie das getroffen hatte. Oder warum.
Seiana wich seinem Blick erneut kurz aus und presste die Zähne aufeinander, bevor sie wieder aufsah. „Das ist… freundlich von dir, wirklich. Aber ich weiß nicht…“ Sie seufzte leise und rieb sich über die Stirn. „Der Punkt ist: er hat mich gefragt. Ich denke, er hätte mich geheiratet, wenn ich darauf bestanden hätte, aber… ich…“ Seiana schluckte. „Was für einen Sinn hätte es gemacht, auf einer Heirat zu bestehen, wenn er eine andere vorzieht? Das ist… das wollte ich nicht. Ich habe meinen Stolz.“ Jetzt klang ihre Stimme verschlossen, als das Eis in ihr wieder zu knistern begann. „Das solltest du wissen, bevor du dich entscheidest, mit deinem Patron zu sprechen über diese Sache.“
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Crios sagte nichts auf die Worte des Aeliers. Der wandte sich nämlich gerade Axilla zu, und Crios war nicht so blöd, seine Aufmerksamkeit nun wieder auf sich zu lenken. Vielleicht kam er ja um die Prügel herum, von denen es gerade eben noch so ausgesehen hatte, als würde er ihnen nie im Leben entgehen können. Als der Kerl zu der Iunia hinüber ging, gaben Crios’ Beine nach, und er sackte auf die Truhe hinunter und lehnte sich gegen die Wand. War das ein Tag. Für einen winzigen Moment schloss er die Augen, dann sah er wieder zu den beiden hinüber. Der Aelier hatte Axilla inzwschen in den Arm genommen, und die schluchzte drauflos und erzählte zwischendrin, was gewesen war. Crios stand auf. Gut, seine Beine funktionierten wieder. „Ehm. Wenn… das in Ordnung ist, ich bin dann mal vorne. Wenn ihr was braucht, ruft einfach…“ Und versuchte sich, möglichst unauffällig, am strategischen Rückzug.
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Der Aelier ließ Crios so plötzlich los, dass er zurückstolperte und gegen die Truhe knallte, auf die er sich beinahe setzte. Erst im letzten Augenblick konnte er das Gleichgewicht behalten, aber auch nur, weil er sich mit einer Hand an der Wand abstützte. „Ich weiß nicht, warum sie in der Subura…“ Crios kam gar nicht weiter, kam nicht dazu, etwas zu erklären, weil in dem Moment die Iunia sich wieder einschaltete in das… nun, mit viel gutem Willen konnte man das vielleicht doch als Gespräch bezeichnen. Noch. Irgendwie. Er sah vom Aelier zu ihr und wieder zurück. „Da hat wer nach nem Medicus gerufen, und da war ein Riesenmenschenauflauf.“ Na ja, Riesen war deutlich übertrieben, aber um auf solche Feinheiten zu achten, dafür hatte Crios gerade keinen Sinn. Er war viel mehr darauf aus, seine Haut zu retten. Seinen Magen, seine Rippen. Und sein Gesicht! „Ihr Sklave lag aufgeschlitzt am Boden. Und noch ein Kerl. Das… war ein Überfall, und irgendwer hat eingegriffen…“
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Der Aelier ließ sich von Axillas leisem Rufen auch nicht ablenken. Er kam immer weiter auf Crios zu, und was er sagte, trug um nichts dazu bei, dass der Grieche sich irgendwie besser fühlte. Und als er gegen eine Truhe stieß und nicht mehr weiter zurückweichen konnte, war es dann so weit. Er wurde bei der Tunika gepackt, und der andere zog ihn zu sich. Und begann auf ihn einzuschimpfen. „Ich… keine Ahnung… Sie ist doch zu mir gekommen, das hab ich dir gesagt!“ Jetzt begann der Aelier ihn zu schütteln, und Crios legte seine Hände auf dessen Arme und versuchte sich zu befreien. Er war kein Kämpfer, aber er war auch niemand, der einfach alles mit sich machen ließ, ohne wenigstens zu versuchen sich zu wehren. Genug jedenfalls, dass er so weit loskam, dass er davonlaufen konnte. Was hier wohl kaum in Frage kam, er konnte ja wohl nicht die Taberna einfach so unbeaufsichtigt zurücklassen, aber, na ja, weiter schütteln lassen wollte er sich auch nicht. „Das… warst du…“ Oh ja. Er war deutlich gewesen. „Aber das jetzt… war Zufall… und hätt… ich sie denn… liegen lassen sollen? Irgendwo in der… Subura, wär das… besser gewesen?“
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Die Iunia reagierte nicht auf seine Worte, und Crios kam nicht dazu, noch etwas zu sagen, denn im nächsten Augenblick hörte er das Glöckchen, das anzeigte, das jemand in den Laden kam. Er sah auf und runzelte leicht die Stirn, während er sich innerlich selbst schimpfte, dass er die Tür nicht abgeschlossen hatte. Iaret war nach wie vor nicht da, und er konnte Axilla nun nicht allzu lang alleine lassen – was es schwierig machte, Kundschaft zu behandeln. Und dann hörte er, wie sein Name gebrüllt wurde. Und erstarrte. Der Tonfall klang ziemlich eindeutig nach Wut, und sofort rasten Crios’ Gedanken, während er überlegte, was er nun schon wieder angestellt haben könnte, dass ihn irgendjemand verprügeln wollte. Dass er es das letzte Mal beim Glücksspiel… nicht… ganz so genau genommen hatte mit der Ehrlichkeit, war eigentlich lang genug her, dass ihm da keiner mehr ans Leder wollen dürfte. Und auch sonst kam er gerade nicht drauf, mit wem er sich angelegt haben könnte, weil er zwar sein Leben genoss, aber doch darauf achtete, nicht in allzu große Schwierigkeiten zu geraten. Er mochte Schmerzen einfach nicht, schon gar nicht, wenn sie ihm zugefügt wurden, und er hatte ein recht gutes Gespür dafür, wann er sich zurückhalten musste. Meistens. Nicht immer. Aber in der letzten Zeit eigentlich schon.
Und dann, bevor er weiter nachdenken konnte, stand auf einmal der Kerl in der Tür, der schon mal hier gewesen war, wegen der Iunia. Und ihm eine reingehauen hatte. Wegen der Iunia. Er wirkte wütend. Wütend. Crios schluckte einmal und starrte ihn nur an, während der Kerl ihn beiseite zerrte und erst nach Axilla sah, bevor er sich wieder ihm zuwandte. Crios wurde bleich. Er machte einen Schritt rückwärts und hob die Hände, hörte, wie Axilla den Kerl Caius nannte, und ein Teil von ihm realisierte, dass das wohl der Aelier sein musste. Der zwischenzeitliche Besitzer, bevor die Decima die Taberna übernommen hatte. „Mo… moment. Ich hab nichts getan. Ich hab nur geholfen, das ist alles!“ Vorsichtshalber machte Crios noch einen Schritt zurück. Der Aelier wirkte nicht so, als ob er gerade nur einen Spaß machte. Oder auf einen Plausch aus war. Und ganz davon abgesehen war er größer als er, und selbst wenn er das nicht gewesen wäre, wäre das wohl kein Problem gewesen, denn Crios war kein Kämpfer, und der Aelier schien auch stärker zu sein, und davon ganz abgesehen war er wütend. Wütend genug, um einen Mangel an Größe und Stärke auszugleichen. Wenn so ein Mangel denn gegeben gewesen wäre. Was er nicht war.
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Seiana neigte leicht den Kopf. „Dann freue ich mich darauf, dich in zwei Wochen in der Casa Decima willkommen zu heißen“, antwortete sie*, bevor sie dazu überging zu erklären, wie es gekommen war, dass sie Corvinus’ Klientin war. Aurelius Ursus hielt sich nun gänzlich aus dem Gespräch heraus, und Seiana fragte sich, ob er aus reiner Höflichkeit noch blieb – er war Senator, er hatte sicher noch andere Dinge zu tun als ihrem Gespräch zuzuhören, und sie wollte ihn ganz sicher nicht aufhalten. Nicht nachdem sie ohne Vorankündigung einfach herein geplatzt war. Aber ihr fiel auch nichts ein, was sie sagen könnte, ohne dass es unhöflich wirkte. „Anfangs war es noch ein Betrieb“, antwortete sie also der Tiberia. „Im Lauf der letzten Jahre sind noch zwei weitere hinzugekommen.“ Dass die Tiberia glaubte, Patrizier könnten keinen Geschäften nachgehen, ahnte Seiana nicht. Zumindest was Zucht und Anbau betraf, durften Patrizier das sehr wohl, nicht nur entsprechende agrarische Betriebe führen, sondern auch die Erzeugnisse verkaufen – ihr eigener Patron hatte ja einige Ländereien. Ebenso wie seine Frau, was Seiana wusste, weil deren Pferdezucht in Rom eine zusätzliche Konkurrenz bedeutet hatte für die ihres Onkels. „Den ersten Betrieb habe ich gekauft, die Strukturen waren also schon vorhanden. Allerdings habe ich einiges geändert und gestrafft, gerade was den Organisationsablauf betrifft. Das Konzept dafür hatte ich schon vor dem Kauf entworfen, so konnte ich gleich damit beginnen, als ich den Kauf getätigt habe. Mein zweiter Betrieb dagegen war eine Neugründung.“ Seiana überlegte, ob sie fragen sollte, ob die Tiberia auch irgendwelche Betriebe besaß, oder ob sie plante, sich etwas anzuschaffen – aber sie ließ es dann doch. Sie wusste nicht, wie diese Ehe gestaltet war, ob ihr Mann vielleicht etwas dagegen hatte, dass seine Frau sich auf diese Art beschäftigte. Und, auch wenn Seiana selbst sich mit den sonst gängigen Frauenbeschäftigungen auf Dauer nur gelangweilt hätte, nicht alle Frauen waren so, das wusste sie nur zu gut.
Sim-Off: *Ich hab kein Datum genannt, weil der Beginn des Threads ja einige Zeit her ist. Komm einfach vorbei, wenn du Zeit und Lust hast
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Gut Ding will Weile haben. Die Worte stimmten Seiana irgendwie melancholisch. Dennoch lächelte sie ein weiteres Mal. „Ja, das sind sie in der Tat. Die Lage könnte kaum besser sein, jedenfalls für den Geschäftsumfang, den ich anvisiere.“ Seiana hatte viel Zeit darauf verwendet, die Märkte und die Bereiche darum herum zu analysieren, sich anzusehen, wo die Konkurrenz ihre Geschäfte hatte, welcher Art diese Konkurrenz überhaupt war, wo die meisten Besucherströme waren und wohin sich selten Laufkundschaft verlief. Erst danach, als sie die Gegenden festgelegt hatte, die überhaupt für sie in Frage kamen, hatte sie sich auf die Suche nach Räumlichkeiten gemacht. Ja, diese hier waren in der Tat eine gute Wahl gewesen, und Seiana hatte innerlich den Göttern dafür gedankt, dass sie den Zuschlag bekommen hatte für diese hier.
Mit einem Lächeln – das diesmal ein wenig ehrlicher war, auch wenn das nicht wirklich einen sichtbaren Unterschied machte in ihrer Miene, eher einen minimal spürbaren in ihrer Ausstrahlung – sah sie dabei zu, wie die Aurelia nun die Schriften durchstöberte, die der Sklave nach und nach auf den Tisch legte. In dem Verhalten der Jüngeren erkannte Seiana sich selbst wieder, auch wenn sie diese Begeisterung, diese Faszination schon lange nicht mehr so offen zeigte. Einen Augenblick lang verharrte ihr Blick auf den Schriftrollen, dann wanderte er wieder hoch zum Gesicht der Aurelia, als diese von ihrem Verwandtschaftsverhältnis zu Aurelius Corvinus sprach. „Ja, tun wir – ich arbeite bei der Acta, und darüber hinaus ist er mein Patron. Richte ihm doch bitte Grüße von mir aus, wenn du ihn siehst.“
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[Blockierte Grafik: http://img210.imageshack.us/img210/4457/crios.jpg] ~Crios~
Als Crios wiederkam, sah er, dass der Becher schon um einiges leerer war. Axilla selbst wirkte… apathisch. Crios hätte gern etwas getan, irgendetwas, um eine Reaktion zu kriegen, aber er wusste nicht was. Und dann war es ausgerechnet seine Frage nach dem Waschen, die eine Reaktion hervorrief. Allerdings eine, die ihn nur noch hilfloser machte. Die Iunia fing an zu weinen. Und Crios wusste nicht was er tun sollte. Mit dem Tuch in der Hand stand er da und machte nur eine hilflose Handbewegung. Und dann beschloss er, sie erst mal zu waschen, vorsichtig, behutsam, bevor er sie dann schließlich zudeckte. „Ehm.“ Crios räusperte sich, während er sich neben sie setzte. Er hatte das Gefühl, irgendetwas tun oder sagen zu müssen, und zwar nichts, was mit dem medizinischen Teil dieser ganzen Sache zu tun hatte – und da hätte es schon auch noch das ein oder andere gegeben, was zu sagen war. Was sie brauchen würde, worauf sie achten sollte in den nächsten Tagen… Aber die Iunia wirkte gerade nicht so, als ob sie sonderlich aufnahmefähig wäre, was ja auch verständlich war, nur… Crios hatte damit nicht allzu viel Erfahrung. Er mochte solche Situationen auch nicht gerne, und wenn er so etwas erlebte – was als Arzt auch nicht unbedingt selten vorkam –, sah er zu, dass schleunigst sonst jemand dazu kam, ein Verwandter, ein Freund, der sich darum kümmern konnte. Zumindest im Moment war er allerdings allein mit Axilla. Und er wusste nicht, was er sagen sollte. „Kann ich irgendwas tun?“
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Sie trank wenigstens etwas davon, und Crios gab sich damit vorerst zufrieden, auch wenn er es lieber gesehen hätte, wenn sie mehr oder alles getrunken hätte. Er stand nur neben ihr und wartete auf ihre Antwort. Als sie dann kam, wurde ihm einiges klar. So klar, dass Crios aufpassen musste, dass ihm nicht der Unterkiefer herabfiel, weil er so plötzlich aufklappte. Caius Aelius Archias? War das nicht… das war doch… Crios war sich sicher, dass er das war. Der Besitzer, der, der den Laden hier eigentlich geerbt hatte. Der ihn dann seiner Verlobten geschenkt hatte. Und das war ganz sicher nicht Iunia Axilla vor ihm. Oder zumindest war sie es nicht gewesen, als der Aelier den Laden verschenkt hatte, denn sonst würde er jetzt nicht für Decima Seiana arbeiten, sondern für die Iunia. Nach und nach klimperten immer mehr Münzen, als sie fielen in seinem Kopf. Warum Seiana sich so merkwürdig verhalten hatte. Warum sie gewollt hatte, dass er Axilla beim nächsten Mal, wenn sie auftauchte, an einen Kollegen verwies, gerne an einen, der fähig war, so lange sie nur nicht hier behandelt wurde, in ihrer Taberna – ohne allerdings zu sagen warum. Und sie war so strikt gewesen, so bestimmt, dass er sich nicht getraut hatte zu fragen. Oder zu widersprechen. Crios starrte Axilla an und begriff, zum allerersten Mal, in was er da wirklich hineingeraten war.
Im nächsten Augenblick hätte er am liebsten alles hingeschmissen. Er wollte einfach nur Leuten helfen, das war das, was er tat, das war das, was er konnte, ihnen medizinisch helfen, wenn sie gesundheitliche Probleme hatten. Warum bei allen Göttern musste ausgerechnet er in so etwas hineingezogen werden? Er hatte doch nie etwas getan! Na ja, nicht wirklich. Nicht schlimm. Sah man mal davon ab, dass er abgesehen von seiner Arbeit einfach in den Tag lebte und gerne Spaß hatte, sein Leben genoss. Aber das konnte doch nicht so schlimm sein, dass die Götter ihn mit so was straften! Crios unterdrückte ein Seufzen. „Ich schick schnell jemanden los, der ihn holt. Und du trink weiter.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ kurz die Taberna, um einen der Jungen, die in der Gegend herumwetzten und öfter mal gegen ein paar Münzen Botengänge übernahmen, loszuschicken zum Palast, um den Aelier zu holen. Danach ging er wieder zurück, bereitete eine Schüssel mit lauwarmem Wasser vor und ging wieder zu Axilla. „Soll ich dich waschen? Ich meine, wenn es dir recht ist. Hier ist keine Frau angestellt, leider.“ Was sie vielleicht ändern sollten. Jedenfalls wenn solche Dinge häufiger passierten von nun an. Vielleicht zog die Decima so was ja auch an, wer wusste das schon.
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Crios kümmerte sich um das Kind und legte es dann beiseite, nachdem er es eingewickelt hatte. Als er sich wieder der Iunia zuwandte, bemerkte er, dass sie nichts getrunken hatte, und andeutungsweise runzelte er die Stirn. „Du solltest das wirklich trinken“, sagte er zu, in einem auffordernden Tonfall. Dann atmete er tief ein. „Ich kann dich nach Hause bringen, wenn du möchtest. Aber das Beste wäre, wenn jemand hier ist und mir hilft.“ Und dann sagte sie, wen er rufen konnte. Und Crios überlegte. Caius war kein seltener Name, und er hatte keine Ahnung, wen sie damit meinte. „Wen… wen meinst du mit Caius? Ist das… ein Verwandter?“
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Plötzlich begann die Iunia, sich in seinen Armen zu winden, und schließlich krallte sie eine ihrer Hände in seine Haare und drückte. Es tat nicht weh, aber Crios bog seinen Kopf trotzdem weg von ihr, um sich zu befreien – wer wusste schon was für Kräfte sie entwickeln würde, wenn die Krämpfe schlimmer wurden, und er hing an seinen Haaren. Im nächsten Augenblick schon ließ sie ihn wieder los, nannte seinen Namen und drängte sich dann an seine Brust. Vorsichtig legte Crios einen Arm um sie. Und fühlte sich noch hilfloser, als er das Schluchzen hörte. Er wusste beim besten Willen nicht, was er da jetzt tun sollte. Oder sagen. Sie erlitt gerade eine Fehlgeburt. Und ihr Sklave war vor ihren Augen umgebracht worden. Was sagte man da?
Der Entscheidung wurde er allerdings enthoben, als Axillas Körper sich erneut verkrampfte. Crios versuchte sie zu halten so gut es ging – da er wusste nicht so genau wusste, was das Beste war, überließ er es Axilla das zu entscheiden und stützte sie nur. Stützte sie, bis ihr Körper das Kind samt Plazenta los geworden war. Crios konnte es sehen. So groß wie seine Hand, dunkelbläulich verfärbt. Und trotz aller… Fremdartigkeit… sah es fast aus wie ein Mensch. Crios schloss für einen Moment die Augen und sah dann weg. So etwas passierte. Und Axilla hatte das Kind ja eigentlich ohnehin los werden wollen. Ihr jedenfalls schien es so weit gut zu gehen, besser jedenfalls als nach der fehlgeschlagenen Abtreibung, und das war das, was jetzt zählte. Er strich der Iunia kurz über den Rücken und löste sich dann von ihr. „Hier“, meinte er und hielt ihr einen Becher hin mit einem Trank, den er vorher schon vorbereitet hatte. „Trink das.“ Nachdem er Axilla den Becher in die Hand gedrückt hatte, nahm er ein Tuch zur Hand und begann, das Kind einzuwickeln. „Du solltest jetzt erst mal nicht allein sein. Ich meine, du kannst etwas hier bleiben…“ Crios dachte flüchtig an das Gespräch, dass er mit der Decima neulich gehabt hatte. Und sie war recht strikt gewesen, was die Iunia anging, auch wenn sie nicht gesagt hatte warum. Allerdings hatte er in diesem Fall ja nicht wirklich die Wahl gehabt, er hätte sie nicht einfach liegen lassen können. „…wenn du das möchtest. Aber es sollte trotzdem jemand hier sein, der die ganze Zeit bei dir bleiben kann. Wen kann ich holen lassen?“
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Crios fühlte sich hilflos. Axilla war aufgewacht, aber deswegen wurde nichts besser. Im Gegenteil. Ihr Körper verkrampfte, und obwohl Crios wusste was geschah, wusste er nicht so recht, was er tun konnte, um ihr zu helfen. Das hier war Frauensache. Er konnte ihr etwas geben gegen die Schmerzen, gegen die Blutung, für die Blutung, aber er wusste nicht so wirklich was er, abgesehen davon, tun konnte um sie zu unterstützen. Es war einfach Frauensache. Und bisher, wenn Iaret und er bei Schwangeren, Gebärenden oder Fehlgebärenden waren, dann hatte es immer Frauen gegeben, die in diesen Augenblicken das Kommando übernommen hatten, die sie weggeschickt hatten, kaum dass sie getan hatten, was sie hatten tun können, was auch gut so war, denn: es war nun mal Frauensache. Er wollte ihr einfach nur helfen. Am liebsten hätte er ihr etwas Krampflösendes eingeflößt, aber sogar ihm war klar, dass das nicht sonderlich intelligent gewesen wäre, weil der Körper krampfen musste, um das Kind abzustoßen. Gerade das störte ihn aber gerade so sehr und ließ ihn sich noch hilfloser fühlen. Er wollte etwas tun. Aber er konnte hier nichts tun. Nicht das Geringste. Das war eine Sache, die Axilla, ihr Körper, alleine durchmachen musste.
Als sie versuchte sich aufzurichten und dann wieder zurücksank, sprang Crios herbei und hielt sie, stützte ihren Oberkörper, so dass sie sich so hinsetzen konnte, wie sie wollte, und umfasste eine ihrer Hände, so dass sie sich an ihm festklammern konnte. Und wünschte sich ein ums andere Mal, Iaret wäre hier. Und mit ihm eine der heilkundigen Frauen, die sich mit Geburten wirklich auskannten.