Seiana reagierte nicht. Weder auf sein Ich weiß, noch darauf, dass er sie nun losließ. Und auch nicht darauf, dass er sich noch einmal versicherte, ob sie tatsächlich wollte, dass er ging. Sie hatte es gesagt, einmal. Das sollte genügen. Reglos blieb sie stehen, als er sich von ihr entfernte, als er zur Tür ging und sie hinter sich schloss. Reglos blieb sie stehen, als er sie allein ließ. So reglos, dass sie auch eine Statue hätte sein können.
Nein, Caius hatte sie niemals weinen sehen. Sie hatte sich viel zu gut unter Kontrolle, um solche Emotionen vor anderen ans Licht zu lassen. Selbst Elena oder Faustus bekamen selten mit, wenn sie weinte. Wut zeigte sie ebenfalls nicht gern, aber das war leichter, leichter als Schmerz und Trauer. Wut machte nicht verletzbar, so wie Schmerz und Trauer, sie machte nur angreifbar, das war etwas anderes. Es war nicht gut, angreifbar zu sein, schon gar nicht in einer Welt wie Rom, aber es war immer noch besser als zu zeigen, dass man verletzbar war. Sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit verging, bis die erste Träne ihre Wange hinunter lief, während sie weiterhin einfach nur aus dem Fenster starrte. Der ersten folgte eine zweite, und dann noch eine dritte. Mehr nicht. Sie stand weiterhin da, wusste nicht wie lange, starrte einfach nur vor sich hin, ohne den Wechsel des Tageslichts zu bemerken oder das zu sehen, was im Garten vor sich gehen mochte. Sie stand da und versuchte zu begreifen, was passiert war. Das Problem war nur: es war nicht greifbar, und damit auch nur schwer begreifbar. Es war absurd. Abstrus. Und vor allem abstrakt. Obwohl sie es nun wusste, obwohl er es ihr gesagt hatte, obwohl sie seit Wochen innerlich gespürt hatte, dass etwas nicht in Ordnung war, war es jetzt, wo es heraus war, dennoch merkwürdig… irreal. Es konnte nicht geschehen sein. Das konnte nicht passiert sein. Nicht ihr. Sie hatte doch alles richtig gemacht. Sie war einem Mann begegnet, der ihr sympathisch gewesen war und der aus einer guten Familie kam, gut genug, dass die ihre nichts gegen eine Verbindung haben konnte, ganz im Gegenteil. Sie hatte gemerkt, dass es ihm genauso ging. Sie war ihm nachgereist, und sie hatte festgestellt, wie gut sie sich mit ihm verstand. War das falsch gewesen? Hätte sie ihm nicht nachreisen dürfen? Hatte sie sich damit zu sehr angeboten? Oder war ihre Auffassung doch falsch? Hätte sie sich ihm nicht verweigern dürfen? Spätestens dann nicht mehr, als klar war, dass sie heiraten würden? Seianas Gedanken rotierten. Sie hatte geglaubt, alles richtig gemacht zu haben. Warum war dann auf einmal trotzdem alles so falsch?
Nur zwei Dinge
Durch so viele Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
dein fernbestimmtes: Du mußt.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Gottfried Benn