Beiträge von Decima Seiana

    Es waren nur wenige Tage nach der Hochzeit vergangen, als Seiana in Begleitung von Elena und einem weiteren Sklaven bei der Casa Prudentia auftauchte. Sie wäre schon am nächsten Tag gekommen, am selben sogar, hätte sie sich dazu in der Lage gefühlt. Aber so gut sie auch sein mochte in ihrer Selbstbeherrschung, es gab Momente, in denen sie an ihre Grenzen stieß. Die Hochzeitsfeier und die anschließende Auseinandersetzung war so ein Moment. Und Seiana hatte Zeit gebraucht, bis sie das Gefühl hatte, sie könnte zu einem Fremden gehen und sich für diese Sache entschuldigen, darüber zu reden, ohne sich etwas anmerken zu lassen davon, wie tief sie das Ganze getroffen hatte.


    Elena war es, die anklopfte, und als der Ianitor öffnete, kündigte sie ihre Herrin Decima Seiana an, die anfrage, ob Titus Duccius Vala zu sprechen sei.

    „Nein, hat er nicht“, antwortete sie mit einem leichten Lächeln. „Allerdings bin ich ihm kaum begegnet – du hast ja gerade gesehen, wie viel er momentan zu tun hat.“


    Dann allerdings kam das Thema auf Faustus. Und seine Freundin. Seiana war, gelinde gesagt, verwirrt. Eigentlich konnte es doch nur sein, dass er eine Freundin vortäuschte, um seine Ruhe zu haben – sie kam gar nicht erst auf den Gedanken, dass er ihr im Stall etwas vorgemacht haben könnte. So war er nicht, und so war ihr Verhältnis nicht. Sie war nur überrascht, weil er ihr vorher nichts davon erzählt hatte – aber vielleicht war das auch ganz gut so, für den Gesamteindruck, hier bei der Familie. Wenn sie genauso überrascht war wie der Rest. Dass Faustus dann allerdings das Thema auf sie lenkte, und ihren Verlobten, von dem er eigentlich gar nichts hielt, davon war sie dagegen noch weniger begeistert. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, und ihr lag auf der Zunge, dass es bei Faustus’ Einstellung kein Wunder war, dass Caius bisher noch nicht hatte kommen wollen. Aber sie schwieg dazu.


    Und dann betrat eine Frau den Raum. Und die Atmosphäre schien sich zu ändern. Die Blonde begann zu stottern. Venusia schien neugierig zu sein, ebenso wie Valeria. Und Faustus wurde rot. Seiana sah von einem zum anderen, und als Faustus die Frau dann als Celeste vorstellte, seine Freundin, musste sie sich schwer beherrschen, um nicht wenigstens zu schmunzeln. Es mochte unfair gegenüber Faustus sein, aber es war herrlich zu sehen, in welche Situation er sich gerade unfreiwillig hinein manövriert hatte. Und immerhin, er hatte ihr zwar vorher nichts gesagt, aber jetzt war er wenigstens anständig genug, Seiana bei der Vorstellung nicht anzusehen. Sie erhob sich und reichte Celeste mit einem Lächeln die Hand. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Celeste.“

    Es hatte gedauert, bis Seiana Ostia schließlich erreicht hatte. Ein Wagenrad war gebrochen, und sie hatte ernsthaft befürchtet gehabt, dass sie zu spät kommen würde, dass das Schiff schon ausgelaufen war, wenn sie endlich den Hafen erreichte. Als sie nun endlich ankam und zu dem Pier eilte, den Faustus ihr genannt hatte, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass das Schiff noch da war – allerdings konnte sie im ersten Augenblick Faustus nicht entdecken. Was für Seiana aber kein Problem darstellte. Kurzerhand hielt sie einen der umhereilenden Männer auf. „Faustus Decimus Serapio. Sag ihm, seine Schwester ist hier.“

    Seiana schwankte hin und her. Einerseits wusste sie durchaus, hatte es ja selbst angemerkt, dass Musik nur dann wirklich messbar wurde, wenn man sie hören – und damit erfahren, erleben konnte. Andererseits fand sie allerdings den Ansatz, rein mathematisch vorzugehen, höchst spannend. Wobei sie allerdings nicht ganz begriff, was Penelope genau meinte – Seiana hatte ja genau das angemerkt, dass Aristoxenos eben kritisiert hatte, Archytas’ Theorie sei rein hyptothetisch gewesen, ohne jedes Experiment. Sie war nur irritiert gewesen, weil die Griechin selbst zuvor von einem Experiment gesprochen hatte. Darüber hinaus schien Penelope eher dazu zu tendieren, die Variante mit den Experimenten, mit der Erfahrbarkeit von Musik, vorzuziehen – wohl kein Wunder angesichts der Tatsache, dass sie selbst Musikerin war, jedenfalls wenn das Instrument vorne einen Schluss darauf zuließ. Seiana teilte ihre Ansicht insofern, dass wohl ohne Experimente, ohne das Gehör, keine Bestimmung von Tönen möglich war. Und trotzdem… konnte sie sich nicht der Faszination erwehren, die der Gedanke eines göttlichen Tons in ihr auslöste. Eines einzigen Tones, der mathematisch exakt zu bestimmen war, ohne ihn hören zu müssen. Der einfach war. Fest und unverrückbar. Das Leben wurde einfacher, berechenbarer, wenn man so etwas hatte. „Ich weiß nicht. Ich habe es ja bereits gesagt, dass ich bezweifle, dass man ohne Gehör, ohne Experimente weit kommt. Allerdings finde ich die Idee eines göttlichen Tons äußerst ansprechend. Man sollte die Suche danach nicht aufgeben, und falls ein solcher Ton existiert, dann ist er nicht durch Experimente zu finden, sondern nur durch Mathematik.“ Sie lehnte sich vor. „Ich denke, so wie du es gerade dargestellt hast, haben Pythagoras und Aristoxenos einfach zwei verschiedene Ansätze, die sich per se schon nicht vergleichen lassen. Wenn Pythagoras auf der Suche nach dem göttlichen Ton war, wie du sagst, und Aristoxenos das nachweisen wollen, was wir erleben, was wir hören, dann hat beides sein Berechtigungsdasein, lässt sich aber nur schwer miteinander vergleichen. Vergleichen lässt sich nur das, was dabei herauskommt – inwiefern sie Musik messbar, in Zahlen darstellbar gemacht haben.“

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    Wie so häufig – wie eigentlich die meiste Zeit – genoss Iaret die Freiheiten, die es ihm bot, ein Meister zu sein. Er pickte sich die interessanten Fälle heraus und war unterwegs, um sie zu besuchen, während Crios, mal wieder, den Dienst in der Taberna schieben durfte. Er hatte einen Stapel Papyri herumliegen und versuchte sich gerade, ebenfalls mal wieder, auf den Verwaltungskram zu konzentrieren, als die Tür aufging und jemand hereinkam. Crios zeichnete ein paar Rechnungen ab, dann richtete er sich auf, kam aus seiner Nische hervor und ging in den vorderen Teil – wo er überrascht stehen blieb. „Iunia.“ Er schaffte es nicht ganz, seine Verblüffung aus seiner Stimme herauszuhalten, geschweige denn aus seinem Blick, aber im nächsten Moment lächelte er schon. „Salve. Wie kann ich dir helfen? Braucht Axilla noch etwas?“




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    Crios ignorierte den fragenden Blick Leanders. Er hatte begriffen, dass der Sklave anderer Meinung war, dass er fand, Crios solle nicht allzu viel darauf geben und es einfach gut sein lassen. Dann musste er nicht weiter darauf herumreiten. Reichte schon, dass er das überhaupt angesprochen hatte – er würde mit Sicherheit nicht versuchen, irgendjemanden von irgendetwas zu überzeugen, wovon der Betreffende nicht überzeugt werden wollte. Fertig. Schon gar nicht, wenn es um die Diskussion ging, ob er gerade riskierte an die Fische im Tiber verfüttert zu werden. Nicht dass er tatsächlich glaubte, dieser Kerl würde ausgerechnet diese Drohung wahr machen, aber allein so etwas zu sagen, fand Crios heftig. Und unmöglich. Und inakzeptabel. So konnte er einfach nicht arbeiten!


    „Nachdem sie versucht hat, das Kind loszuwerden, kann ich mir vorstellen, dass sie nicht erfreut sein wird. Aber sie wird es ohnehin irgendwann merken. Und es ist fairer, wenn sie es jetzt von mir erfährt, als in ein paar Wochen von ihrem eigenen Körper.“ Er ging Leander hinterher, ließ sich von ihm durch das Haus zu dem Cubiculum Axillas führen und trat ein, als dieser ihm die Tür öffnete. „Salve, Iunia“, grüßte er sie. „Ich habe gehört, du bist schon wieder in Rom unterwegs?“ Die Frage war nicht vorwurfsvoll, sondern im Gegenteil mit einem freundlichen Lächeln gestellt.




    Seiana reagierte nicht. Weder auf sein Ich weiß, noch darauf, dass er sie nun losließ. Und auch nicht darauf, dass er sich noch einmal versicherte, ob sie tatsächlich wollte, dass er ging. Sie hatte es gesagt, einmal. Das sollte genügen. Reglos blieb sie stehen, als er sich von ihr entfernte, als er zur Tür ging und sie hinter sich schloss. Reglos blieb sie stehen, als er sie allein ließ. So reglos, dass sie auch eine Statue hätte sein können.


    Nein, Caius hatte sie niemals weinen sehen. Sie hatte sich viel zu gut unter Kontrolle, um solche Emotionen vor anderen ans Licht zu lassen. Selbst Elena oder Faustus bekamen selten mit, wenn sie weinte. Wut zeigte sie ebenfalls nicht gern, aber das war leichter, leichter als Schmerz und Trauer. Wut machte nicht verletzbar, so wie Schmerz und Trauer, sie machte nur angreifbar, das war etwas anderes. Es war nicht gut, angreifbar zu sein, schon gar nicht in einer Welt wie Rom, aber es war immer noch besser als zu zeigen, dass man verletzbar war. Sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit verging, bis die erste Träne ihre Wange hinunter lief, während sie weiterhin einfach nur aus dem Fenster starrte. Der ersten folgte eine zweite, und dann noch eine dritte. Mehr nicht. Sie stand weiterhin da, wusste nicht wie lange, starrte einfach nur vor sich hin, ohne den Wechsel des Tageslichts zu bemerken oder das zu sehen, was im Garten vor sich gehen mochte. Sie stand da und versuchte zu begreifen, was passiert war. Das Problem war nur: es war nicht greifbar, und damit auch nur schwer begreifbar. Es war absurd. Abstrus. Und vor allem abstrakt. Obwohl sie es nun wusste, obwohl er es ihr gesagt hatte, obwohl sie seit Wochen innerlich gespürt hatte, dass etwas nicht in Ordnung war, war es jetzt, wo es heraus war, dennoch merkwürdig… irreal. Es konnte nicht geschehen sein. Das konnte nicht passiert sein. Nicht ihr. Sie hatte doch alles richtig gemacht. Sie war einem Mann begegnet, der ihr sympathisch gewesen war und der aus einer guten Familie kam, gut genug, dass die ihre nichts gegen eine Verbindung haben konnte, ganz im Gegenteil. Sie hatte gemerkt, dass es ihm genauso ging. Sie war ihm nachgereist, und sie hatte festgestellt, wie gut sie sich mit ihm verstand. War das falsch gewesen? Hätte sie ihm nicht nachreisen dürfen? Hatte sie sich damit zu sehr angeboten? Oder war ihre Auffassung doch falsch? Hätte sie sich ihm nicht verweigern dürfen? Spätestens dann nicht mehr, als klar war, dass sie heiraten würden? Seianas Gedanken rotierten. Sie hatte geglaubt, alles richtig gemacht zu haben. Warum war dann auf einmal trotzdem alles so falsch?


    Nur zwei Dinge


    Durch so viele Formen geschritten,
    durch Ich und Wir und Du,
    doch alles blieb erlitten
    durch die ewige Frage: wozu?


    Das ist eine Kinderfrage.
    Dir wurde erst spät bewußt,
    es gibt nur eines: ertrage
    - ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
    dein fernbestimmtes: Du mußt.


    Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
    was alles erblühte, verblich,
    es gibt nur zwei Dinge: die Leere
    und das gezeichnete Ich.


    Gottfried Benn

    Seiana erstarrte, versteifte sich, als er sie erneut berührte. Aber die Wut von zuvor war wieder unter der Eisschicht verschwunden, und so ließ sie es zu, wehrte sich nicht gegen die Berührung, auch nicht, als ihr auch noch die zweite Hand auf den anderen Arm legte. Sie sah ihn immer noch nicht an. Auch nicht, als er ihr widersprach und dann den Versuch einer Erklärung startete, einer Erklärung, die letztlich doch nur genau das ausdrückte, was sie gemeint hatte. Es spielte keine Rolle, dass es öfter geschehen war, es spielte eine Rolle, mit wem und warum es geschehen war. Dennoch, wäre es bei einem Mal geblieben, hätte sie glauben können, dass die Iunia ihm auch nichts bedeutete. Oder hätte wenigstens glauben können, dass er sich für sie entschieden hatte. Aber so… Axilla war also anders. Anders als sie. In Seianas Ohren klang das wie ein Vorwurf. Anders. Und vor allem mehr. Mehr als sie, so verstand Seiana es. Das hieß, dass sie nicht genug war. Für ihre Mutter war sie auch nie genug gewesen. Es war immer irgendwie gegangen, aber sie war nie… die perfekte Tochter für sie gewesen, dachte sie jedenfalls. Und gerade weil ihre Mutter ihr so viel bedeutete, schmerzte das. Jetzt dasselbe von Caius zu hören – auch wenn er das gar nicht gesagt hatte, sondern sie es nur zu hören meinte – schmerzte ebenfalls. „Sie ist siebzehn, Caius. Siebzehn.“ Seianas Blick flackerte jetzt doch zu ihm, und für einige Momente sah sie ihn an. Dann wandte sie ihre Augen wieder ab von ihm. Sie machte immer noch keine Anstalten, zurückzugehen, die physische Verbindung zu lösen, die er hergestellt hatte. Aber sie reagierte auch nicht darauf. „Du solltest jetzt besser gehen.“

    Nicht geplant. Er hatte es also nicht geplant. Seiana verzog kurz das Gesicht, in einer halb spöttischen, halb bitteren Mimik. Sollte ihr das helfen? Seltsamerweise meinte sie, es könnte leichter zu ertragen sein, wenn er es geplant hätte. Vorausgesetzt, die Iunia bedeutete ihm nichts, vorausgesetzt, er hatte sie als Mittel zum Zweck benutzt. Aber nicht geplant, und es war dennoch passiert… das hieß, dass er sie, Seiana, dabei vergessen hatte. Oder dass sie nicht wichtig genug gewesen war für ihn, nicht in diesem Moment jedenfalls.


    Sie starrte immer noch aus dem Fenster. Und Caius wich schon wieder aus, beantwortete schon wieder eine ihrer Fragen nicht. Aber wie hatte sie vorhin gesagt? Keine Antwort war auch eine Antwort. Oder gehörte diese Frage nicht in diese Kategorie? Seiana wusste es nicht, aber sie ließ sich die Frage durch den Kopf gehen, die er gerade ausgesprochen hatte: war es egal? Spielte es eine Rolle? Ja, antwortete sie sich lautlos. Es spielte eine Rolle. Wäre es bei einem Mal geblieben, hieß das, dass ihn tatsächlich nur irgendetwas übermannt hatte. Leidenschaft, Lust, was auch immer. Obwohl die Iunia eine Iunia war, obwohl sie keine Sklavin, keine Lupa, keine Peregrina war, wäre sie in dem Fall dennoch nichts Besonderes für ihn. Aber sie war etwas Besonderes für ihn. Das hatte Seiana nur zu deutlich gemerkt, nicht nur heute, sondern die ganzen letzten Wochen. War er mehrmals mit ihr im Bett gewesen, hatte er die Finger nicht von ihr lassen können, unterstrich das diese Tatsache nur. Es ging hier um Treue. Nicht die körperliche Treue, das nicht. Vielleicht war Treue auch das falsche Wort. Es ging um Loyalität. Wenn er sich gelegentlich eine Sklavin in sein Bett holte, weil ihm seine Frau nicht reichte – oder seine Verlobte, die ihn gar nicht ran ließ –, dann war das eine Sache. Wenn seine Frau respektive seine Verlobte ihm aber auch dann nicht reichte, was andere Dinge betraf – Gesellschaft, Unterstützung, all das… Wenn er sich für eine andere dermaßen lächerlich machte in der Öffentlichkeit… Wenn er solche Dinge sagte, über eine andere, nicht über seine Verlobte… dann war es doch eindeutig, dass er nicht loyal war. Nicht ihr gegenüber jedenfalls. „Du weißt, dass es eine Rolle spielt“, flüsterte sie. „Sie bedeutet dir mehr. Mehr als eine Lupa. Mehr als eine Sklavin.“ Es war keine Frage, es war eine Feststellung.

    Es konnte immer etwas herauskommen, lag ihr auf der Zunge. Sie hätte schwanger werden können, zum Beispiel. Jemandem hätte etwas auffallen können. Aber viel wichtiger war: sie hätte es gewusst. Für sie war die Ehre ihrer Familie mehr als nur ein Wort, mehr als nur etwas, das nach außen hin gewahrt werden musste. Sie musste nicht mit allem einverstanden sein, was Tradition und Ehre verlangten, um danach zu leben. Es war für sie mehr als einfach nur das Ansehen, dass die Familie in der Öffentlichkeit hatte, so dass man diese Tugenden einfach links liegen lassen konnte, wenn einem danach war, solange es nur nicht bekannt wurde. Mitglied einer Gens wie der Decima zu sein, brachte Verantwortung mit sich, brachte Pflichten mit sich, das hatte ihre Mutter ihr eingebläut, und Verantwortung und Pflichten waren selten leicht. Der Familie und den Göttern gerecht zu werden, war selten leicht. Wenn es leicht war, zählte es nicht. „Es macht keinen Unterschied, wo, Caius. Ich würde mich, meine Familie und meine Ahnen betrügen. Und auch wenn keiner sonst das mitbekommt, ich würde es wissen, würde es immer wissen, dass ich das getan habe.“


    Und dann kam Caius doch noch zu ihr. Seiana musste an sich halten, um sich nicht zu bewegen, um nicht wieder wenigstens etwas Abstand zwischen ihn und sich zu bringen. Aber sie blieb, wo sie war, rührte sich nicht. Und dann antwortete er. Sprach die Worte aus, die sie befürchtet hatte. Und die Eisschicht war wieder da. Genauso wie der Kloß in ihrem Hals. Sie wandte den Kopf etwas, so dass sie erneut in den Garten sah. „Und es hätte keine Lupa sein können? Oder eine Sklavin?“ fragte sie bitter. Seiana wusste, wie es aussah. Sie wusste, dass für Männer andere Regeln galten als für Frauen. Sie wusste, dass Männer sich vergnügen konnten, und dass das nicht notwendigerweise einen Ehrbruch bedeutete. Und sie war auch bereit, das zu akzeptieren. Aber da ging es um Lupae, um Sklavinnen, höchstens noch um Konkubinen. Nicht um eine andere Römerin, aus einer guten Familie, die für Caius eindeutig mehr war als eine bloße Bettgeschichte, rein zu seinem Vergnügen. Es ging Seiana nicht darum, dass er mit ihr geschlafen hatte. Es ging ihr darum, dass sie nicht früher davon erfahren hatte, es ging ihr darum, dass er mit Axilla darüber hinaus mehr zu tun hatte, mit ihr offensichtlich befreundet war, und es ging ihr darum, was das in letzter Konsequenz bedeutete. Sie sah ihn immer noch nicht an. „Wie oft? Und wie lange geht das schon so?“

    Sie blieb, wo sie war, und sah weiterhin hinaus. Erst als Caius das Wort ergriff und länger sprach, drehte sie sich irgendwann zu ihm um. Ob sie Angst hatte? Ob sie Angst hatte? Natürlich hatte sie das, irgendwie, aber das spielte überhaupt keine Rolle, weil es sich einfach gehörte, dass eine Römerin nicht vor der Ehe herumhurte! Jetzt loderte die Wut doch wieder in ihr hoch, aber sie beherrschte sich. „Weil es sich so gehört“, zischte sie. „Weil eine Römerin jungfräulich in ihre erste Ehe gehen sollte. Weil es die Ehre verlangt!“ Nein, es spielte keine Rolle, dass sie Angst davor hatte, sich derart zu öffnen. Diese Form von Nähe zuzulassen, zulassen zu müssen. Dass sie froh war um den Aufschub bis zur Hochzeit, den sie hatte. „Jetzt erzähl mir nicht, dass du das nicht gewusst hast, ich hab das mehr als einmal gesagt! Und komm mir bitte nicht damit, dass das Schwachsinn wäre. Die Ehre der eigenen Familie ist kein Schwachsinn! Und außerdem hat es auch ganz praktische Gründe – was wäre denn, wenn dir irgendetwas passiert? Glaubst du denn irgendjemand würde mich noch wollen, wenn er weiß, dass er zwar mein erster Ehemann wird, aber nicht der erste in meinem Bett? Oder wenn ich schwanger geworden wäre? Noch dazu in Ägypten? Hier in Rom lässt sich eine Hochzeit vielleicht beschleunigen, aber nicht in Alexandria, nicht wenn unser beider Familien hier sind und wir hier mit ihnen feiern wollen!“ Sie starrte ihn an und glaubte nicht so recht, dass sie ihm das tatsächlich erklären musste. „Nachdem ich jetzt deine Frage hoffentlich zu deiner Zufriedenheit beantwortet habe“, schloss sie zynisch, „hättest du wohl die Freundlichkeit, nun endlich die meine zu beantworten?“

    Beruhigt? Ob sie sich beruhigt hatte? Das war ganz eindeutig die falsche Frage, die er ihr stellte. Sie hatte sich nicht beruhigt, sie war immer noch taub, gefroren. Das einzige, was im Augenblick eine Rolle spielte war, dass niemand etwas mitbekam. Es war ohnehin schon öffentlich genug geworden, sie wollte nicht, dass auch noch ihre Familie hier mit hineingezogen wurde. Also hatte sie einen Sklaven angewiesen, dass hier niemand hereinkommen sollte, einen von denen, von denen sie wusste, dass sie ihm vertrauen würde. Davon abgesehen hatte keiner gesehen, wie sie hier hereingegangen waren. Wenn sie es jetzt nur schaffte, leise zu bleiben… Ihre Gedanken rotierten und rotierten, und den einzigen Ankerpunkt, den Seiana finden konnte, war dies: dass keiner etwas mitbekam. Keiner. Sie musste das verschließen, musste es für sich behalten. Was passiert war, auf der Hochzeit, auf der Straße, war passiert, daran würde sie nichts mehr ändern können, aber sie konnte verhindern, dass es noch schlimmer wurde. Und so ignorierte sie Caius zunächst, der sich an die Tür lehnte, durchquerte nur den Raum, um den größtmöglichen Abstand zwischen sich und ihn zu bringen, und stellte sich an das Fenster an der gegenüberliegenden Wand, mit Blick zum Garten, so dass Caius ihr Gesicht nur im Profil sehen konnte. „Seh ich unruhig aus?“ fragte sie, immer noch so kühl wie zuvor. „Also? Worüber willst du reden?“

    Seiana verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass er trotzdem derjenige gewesen war, der zuerst vorgezogen hatte, eine Frage unbeantwortet zu lassen. Das hatte sie bereits gesagt. Und er hatte es ignoriert. Wie ihre Frage. Wie so häufig, wenn ihm etwas unangenehm war, jedenfalls kam es ihr momentan so vor.


    Sie gingen also zu ihr. Er bestimmte das. Etwas regte sich in Seiana, etwas, das tief vergraben war unter der Eisschicht wie so vieles im Augenblick. Widerstand. Was sollte sie sich von ihm herumkommandieren lassen? Ausgerechnet von ihm? Aber sie sagte auch darauf nichts. Wenn Caius mitkommen wollte, würde er wohl mitkommen. Sie kannte ihn gut genug um zu wissen, welche Geschütze sie würde auffahren müssen, um ihn von etwas abzubringen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, und das entsprach ganz sicher nicht ihrer Vorstellung von Ruhe. Er wollte mitkommen? Sollte er doch. Es war einfacher so. Und immerhin ließ er ihr wenigstens für den Moment in Frieden, sagte nichts, sondern lief nur neben ihr her, bis sie schließlich die Casa Decima erreichten, wo Seiana wortlos an Marcus, dem Ianitor, vorbeilief und das Tablinum ansteuerte.

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    „Du bist dir also sicher.“ Crios musterte Leander. „Tja, im Gegensatz zu dir bin ich mir das nicht. Schon gar nicht wenn ich dran denke, was er mir angedroht hat. Allein dafür, dass ich jetzt hier bin und mich nach wie vor um Axilla kümmere.“ Crios wusste immer noch nicht, was er tun sollte, aber Leanders Verhalten hatte Wut in ihm entfacht. Vielleicht lag es daran, dass der andere ein Sklave war, aber Crios verstand einfach nicht, wie er von ihm verlangen konnte, das einfach so zu hinzunehmen. Er war kein Sklave, er war ein freier Mann, aber er verkniff es sich, Leander darauf hinzuweisen. Es war seine Sache, und er musste zu einer Entscheidung kommen, was er machte. Er zuckte nur die Achseln und ließ das Thema auf sich beruhen, diskutierte nicht weiter, fragte auch nicht nach, aber sagte ebenso wenig zu, dass er nichts tun würde. Stattdessen machte er eine Kopfbewegung zur Tür hin. „Ich denke, wir können jetzt zu ihr. Ich wollte dir eigentlich nur vorab Bescheid geben, damit du nicht völlig überrascht wirst nachher, wenn ich gehe. Oder sie es womöglich vor dir verheimlicht und wieder etwas Dummes anstellt.“ Denn dass Leander bei dem Gespräch mit Axilla nicht dabei sein würde, war für Crios klar.




    Die Eisschicht war immer noch da. Und sie taute nicht, im Gegenteil, für den Moment schien sie sich nur noch mehr auszubreiten. Von Caius’ Wut bemerkte Seiana nicht viel. Sie fühlte sich taub, innerlich. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Keine Antwort war eine Antwort, jedenfalls bei einer derartigen Frage. Er hatte also… mit Axilla… Sie schluckte mühsam, als sie langsam den Schmerz zu spüren begann, der das bedeutete. Es war nicht einmal so sehr die Tatsache an sich, dass er mit Axilla offenbar geschlafen hatte. Es war die Tatsache, dass die Iunia ganz offensichtlich weit mehr als nur eine Bettgeschichte für ihn war. Und es war der Vertrauensbruch, der dahinter stand.


    Auch diesmal lief Caius ihr schließlich nach. Allerdings wusste sie nicht so recht, ob sie froh darüber sein sollte. Ein Teil von ihr sehnte sich nach Ruhe, nach Einsamkeit. Nach einem Ort, an dem sie nachdenken konnte. An dem sie gefahrlos ihre Gefühle herauslassen konnte, ohne dass jemand etwas mitbekam. Es reichte schon, dass sie sich jetzt so hatte gehen lassen. Mehr musste nicht sein. Wir gehen zu dir nach Hause und dann reden wir darüber. Worüber? Er hatte es ja nicht einmal fertig gebracht, es auszusprechen. „Wenn du dich recht erinnerst, hast du mir keine Frage gestellt. Du hast etwas aufgezählt, was aus deiner Sicht den Tatsachen entspricht“, entgegnete sie kühl, ohne ihn dabei anzusehen. „Davon abgesehen meine ich doch, dass du derjenige warst, der zuerst nicht geantwortet hat. Und das auf eine klar formulierte Frage.“ Sie ging weiter. Irgendwohin. Ihr war egal wohin. Nachdem er es allerdings ausgesprochen hatte, fiel ihr durchaus auf, dass ihre Schritte sie zur Casa Decima lenkten.

    „Was das soll? Ich hab dir eine Frage gestellt, und ich erwarte eine Antwort! Das dürfte ja wohl kaum so schwer sein!“ Nach und nach musste Seiana sich an ihre Wut klammern. Denn wie die Antwort auf diese Frage aussah, wusste sie inzwischen auch. Warum sonst hätte Caius sie zunächst ignorieren und dann mit einer Gegenfrage antworten sollen? Und wieder schien sie in das Eismeer zu tauchen, das in ihrem Inneren war, stets bereit in Situationen wie diesen, in denen sie Betäubung brauchte. Die Wut war immer noch da, über das, was geschehen war, wie er sich aufgeführt hatte, und wie er zu Axilla stand, aber sie schien ebenso unter einer Eisschicht begraben zu sein wie der Rest von ihr, leckte zwar mit Flammenzungen von unten dagegen, bemüht, sie zu schmelzen, entwickelte aber nicht genug Hitze, um dagegen anzukommen. Nicht in diesem Augenblick. Sie starrte Caius nur an, endlose Augenblicke, ohne etwas zu sagen, wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Stattdessen meinte er nur plötzlich, er wolle das nicht hier diskutieren. Seiana schloss die Augen. „Nun. Keine Antwort ist auch eine Antwort, schätze ich.“ Mit diesen, im Verhältnis zum Verlauf der Unterhaltung erstaunlich ruhig ausgesprochenen Worten drängte sie sich an ihm vorbei, um wieder weiter zu gehen, während sie zugleich gegen die Eisschicht in ihrem Inneren und den Kloß in ihrem Hals zu kämpfen begann.

    „Oh doch, du scheinbar schon! Du hast nur nicht damit gerechnet, dass er das so ernst nehmen würde!“ Seiana hatte die Nase voll von diesem Thema. Sie hatte sich mit Caius darüber auseinander gesetzt, und mit Faustus, und wieder mit Caius, und jetzt kochte es ein weiteres Mal hoch, nur dass Caius diesmal eine völlig andere Position einzunehmen schien. Hatte er es bisher immer herunter gespielt, hatte er bisher nicht genug betonen können, dass Faustus das Ganze viel zu ernst genommen hatte, war es jetzt auf einmal Caius, der sich da angeblich für sie geprügelt hatte. Natürlich. Als ob sie ihm das jetzt glauben würde. Aber es war einfach nicht das Thema hier, es war simple Ablenkung von Caius, und das brachte sie noch mehr in Rage, wenn das überhaupt möglich war. Genauso wie seine Frage nach ihren Beweggründen zu warten eine Ablenkung war. Aber was er konnte, konnte sie schon lange, und so ignorierte sie seine Frage einfach – nur um ihre zu wiederholen: „Hast du dich mit ihr vergnügt?“

    Und wieder war Seiana in dem bunten Reigen ihres Inneren bei Fassungslosigkeit angekommen. Absolute, unverhohlene Fassungslosigkeit. Ein Küsschen hier, eine Umarmung da… Was sollte das heißen? Was um alles in der Welt sollte das heißen? Dass Axilla für ihn noch viel mehr war? Dass er mit ihr tatsächlich…? Seiana weigerte sich, das auch nur zu denken. Sie weigerte sich schlichtweg. Und Caius sprach auch schon weiter, bevor sie irgendwie reagieren konnte. Allerdings machte er es nicht besser. Seiana stand nur da und ließ seine Worte auf sich niedergehen. Als er fertig war, schwieg sie noch einen Moment. Und dann holte sie aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. „Hör auf mit meinem Bruder. Im Gegensatz zu ihm hast du dich doch nicht mit ihm geprügelt, weil du mich verteidigen wolltest, sondern weil du das für eine lustige Idee gehalten hast.“ Sie starrte ihn an, und ihre Lippen verzogen sich, so dass ihr Gesicht kurzzeitig eine Maske aus Bitterkeit wurde, und sein Vorschlag, woanders hinzugehen, verhallte zwar nicht ungehört, aber unerwidert. „Du weißt, warum ich bis zur Hochzeit warten will. Du hast gesagt, es ist in Ordnung. War es das nicht? Hast du dich mit ihr vergnügt, weil du nicht warten konntest?“

    „So.“ Jetzt begann sich zum ersten Mal, Bitterkeit in ihre Stimme zu schleichen. „Er war also mit Axilla da.“ Seiana meinte, diesen Namen nicht mehr hören zu können. „Und was ist daran so schlimm? Nein, sag nichts.“ Sie wäre wieder weiter gelaufen, aber er stand ihr im Weg, und so blieb sie stehen und starrte ihn nur weiterhin an, immer noch erfüllt von eisiger und zugleich lodernder Wut, während sich, ganz schleichend, ein Gefühl der Verletzung in ihr ausbreitete. Verletzte Ehre, verletzter Stolz. Verletzte Gefühle. Seiana hatte nicht gewusst, wie gern sie ihn wirklich hatte, bis sie gesehen hatte, wie er für Axilla in die Bresche sprang. Nicht, dass sie gewollt hätte, dass er sich für sie so aufführte – sie wollte überhaupt nicht, dass er sich so aufführte –, aber das war nicht der Punkt hier. Der Punkt war, dass er sich niemals so aufgeführt hätte, wäre es um sie gegangen.


    Und dann beging Caius noch einen Fehler. Einen weiteren. Und jeder weitere bedeutete einen Nagel für seinen Sarg. Wut flammte ein weiteres Mal hoch auf in ihren Augen, alser meinte, sich nun wehren zu müssen – als er meinte, ihr Vorwürfe machen zu müssen! „Du hast doch gar keine Ahnung, was eine Szene auf offener Straße ist – schon gar nicht eine, die dir eine Decima macht!“ fauchte sie, und dann näherte sie sich ihm, so weit es ging, ohne ihn tatsächlich zu berühren, stand direkt vor ihm und sah mit wütend blitzenden Augen zu ihm hoch. „Aber wenn wir schon mal dabei sind: ich mache dir eine Szene, weil sie deine beste Freundin ist. Ich mache dir eine Szene, weil man solche wie den Duccius an Löwen verfüttern sollte, weil sie sie ansieht. Ich mache dir eine Szene, weil du dem Duccius sämtliche Knochen brechen wirst, wenn er ihr weh tut! Reicht dir das vielleicht für eine Szene? Ach nein. Du hast ja nur mal geschaut, was es noch gibt!“

    Seiana hatte keinen Blick dafür, ob bei Caius so etwas wie Verständnis aufzudämmern schien, für die Tatsache, dass der Aurelius ihr Patron war, oder dafür, wie unangebracht sein Verhalten gewesen war, oder für sonst etwas. Nicht einmal dafür, dass er lustig aussah, wie er hüpfte, um ihr hinterher zu kommen. „Ein Wiedergutmachungsgeschenk. Oooh. Klar. Das macht alles vergessen!“ Ein Wiedergutmachungsgeschenk! Sie würde da persönlich aufkreuzen und sich sowohl bei dem Ehepaar als auch bei ihrem Patron entschuldigen, und er hatte vor, ein Geschenk zu schicken?


    Es war Caius’ Glück, dass Seiana keine Ahnung hatte, wohin seine Gedanken gerade kurz abschweiften. Dass sie nicht einmal bemerkte, dass seine Gedanken kurz abschweiften. „Was weißt du?“ fauchte sie zurück. Und blieb sie erneut stehen. Starrte Caius an. „Und dass ich das nicht mag, heißt das etwa, dass du deswegen eine andere so anschauen kannst?“ Wut rang mit Fassungslosigkeit in ihrem Blick. „Was? Was hat Duccius Vala bitteschön getan, dass er das verdient hat? Du hattest nicht das geringste gegen ihn, als wir neulich gegessen haben! Was ist heute so anders gewesen, dass du so reagiert hast?!?“ Sie wusste die Antwort. Auch wenn sie sich selbst jetzt noch dagegen wehrte, es selbst jetzt noch nicht wahrhaben wollte, sie wusste die Antwort. Tief in sich hatte sie sie wohl schon länger gewusst, irgendwie. Und trotzdem musste sie diese Frage einfach stellen.