Seiana bemerkte nicht einmal wirklich, wie Faustus Luft holte, um etwas zu sagen, nur um dann doch zu stocken, zu schweigen. Sie war zu sehr in Fahrt, um darauf zu achten, obwohl sie normalerweise recht feinfühlig war und solche Zeichen durchaus an anderen Menschen merkte. Aber irgendetwas hatte sich in ihrem Inneren Bahn gebrochen, etwas, von dem sie selbst gar nicht gewusst hatte, dass es da war. Oh ja, sie wusste, was sie falsch gemacht hatte, sie wusste, welche ihrer Handlungen der Ehre der Familie und ihrer eigenen geschadet hatten oder zumindest deutlich hätten schaden können. Aber was dazu geführt hatte, hatte sie nicht gewollt. Vor Jahren hätte sie einiges gegeben, um gewisse Dinge rückgängig zu machen, um einfach eine junge Decima zu sein, die von ihrer Familie behütet wurde und gezwungen gewesen war, mehr und mehr von der Verantwortung zu übernehmen, die zum einen Älteren und zum anderen Männern vorbehalten war. Nicht, dass sie heute damit haderte, aber damals war es verdammt hart für sie gewesen, und auch jetzt… sie war stolz auf das, was sie erreicht hatte, aber manchmal… das Leben wäre einfacher, wenn sie die Hauptlast der Entscheidung einfach abgeben könnte, so wie so viele andere Frauen ihren Alters. So viel einfacher. Und Faustus machte ihr gerade das zum Vorwurf, dass sie es nicht so einfach gehabt hatte?
Als sie wieder in der Lage war, mehr wahrzunehmen als die Worte, die aus ihrem Mund sprudeln wollten, sah sie nur, wie sein Gesicht scheinbar versteinert war, während in seinen Augen Wut zu glimmen schien. Wut über sie, nahm sie an, berechtigt zum Teil, weil sie der Familienehre Schaden zugefügt hatte und weil sie das nicht rückgängig machen konnte, und es auch nicht wollte, und weil sie sich noch nicht mal wirklich dafür entschuldigt hatte, sondern nur Dinge aufbrachte zu ihrer Verteidigung, die in der Vergangenheit lagen und auch dort bleiben sollten… Seiana biss sich ebenfalls auf die Lippen, und nun fuhr sie wieder herum. Selten zeigte sich ihr iberisches Temperament, zu gut hatte sie während ihrer Erziehung gelernt, sich zu kontrollieren, zu sehr war es ihr von ihrer Mutter eingeprägt worden, und sie hatte ihre Mutter geliebt und bewundert, hatte alles versucht, um es ihr recht zu machen, zu sehr vielleicht. Fakt war, dass Seiana sich sehr gut zu beherrschen wusste. Aber wenn ihr Temperament mit ihr durchging, dann richtig, und es waren Momente wie dieser, die klar machten, wie es zu jenem verhängnisvollen Streit kommen konnte, der letztlich dazu geführt hatte, dass sie und Faustus über Jahre hinweg keinen Kontakt mehr gehabt hatten, dass weder er ihr geschrieben hatte, der wusste, wo sie war, noch sie ihm, die bald genug ebenfalls erfahren hatte, wo er sich aufhielt, über die Männer, die ihre Mutter auf ihn angesetzt hatte. „Einen Komödianten kaufen? Vielleicht mach ich das sogar, der kann mir dann nicht nur meinen Verlobten, sondern auch meinen Bruder ersetzen!“ fauchte sie wütend zurück, und als Faustus sich daraufhin umdrehte und nach einem gebrüllten Kommentar aus ihrem Zimmer fuhr wie ein Wirbelwind, war sie ihm mit einem Satz hinterher und riss die Tür auf. „JA, lauf nur davon, das kannst du ja SO GUT!!!“ Und mit einem Knall landete die Tür wieder im Schloss.