Beiträge von Decima Seiana

    Seiana bemerkte nicht einmal wirklich, wie Faustus Luft holte, um etwas zu sagen, nur um dann doch zu stocken, zu schweigen. Sie war zu sehr in Fahrt, um darauf zu achten, obwohl sie normalerweise recht feinfühlig war und solche Zeichen durchaus an anderen Menschen merkte. Aber irgendetwas hatte sich in ihrem Inneren Bahn gebrochen, etwas, von dem sie selbst gar nicht gewusst hatte, dass es da war. Oh ja, sie wusste, was sie falsch gemacht hatte, sie wusste, welche ihrer Handlungen der Ehre der Familie und ihrer eigenen geschadet hatten oder zumindest deutlich hätten schaden können. Aber was dazu geführt hatte, hatte sie nicht gewollt. Vor Jahren hätte sie einiges gegeben, um gewisse Dinge rückgängig zu machen, um einfach eine junge Decima zu sein, die von ihrer Familie behütet wurde und gezwungen gewesen war, mehr und mehr von der Verantwortung zu übernehmen, die zum einen Älteren und zum anderen Männern vorbehalten war. Nicht, dass sie heute damit haderte, aber damals war es verdammt hart für sie gewesen, und auch jetzt… sie war stolz auf das, was sie erreicht hatte, aber manchmal… das Leben wäre einfacher, wenn sie die Hauptlast der Entscheidung einfach abgeben könnte, so wie so viele andere Frauen ihren Alters. So viel einfacher. Und Faustus machte ihr gerade das zum Vorwurf, dass sie es nicht so einfach gehabt hatte?


    Als sie wieder in der Lage war, mehr wahrzunehmen als die Worte, die aus ihrem Mund sprudeln wollten, sah sie nur, wie sein Gesicht scheinbar versteinert war, während in seinen Augen Wut zu glimmen schien. Wut über sie, nahm sie an, berechtigt zum Teil, weil sie der Familienehre Schaden zugefügt hatte und weil sie das nicht rückgängig machen konnte, und es auch nicht wollte, und weil sie sich noch nicht mal wirklich dafür entschuldigt hatte, sondern nur Dinge aufbrachte zu ihrer Verteidigung, die in der Vergangenheit lagen und auch dort bleiben sollten… Seiana biss sich ebenfalls auf die Lippen, und nun fuhr sie wieder herum. Selten zeigte sich ihr iberisches Temperament, zu gut hatte sie während ihrer Erziehung gelernt, sich zu kontrollieren, zu sehr war es ihr von ihrer Mutter eingeprägt worden, und sie hatte ihre Mutter geliebt und bewundert, hatte alles versucht, um es ihr recht zu machen, zu sehr vielleicht. Fakt war, dass Seiana sich sehr gut zu beherrschen wusste. Aber wenn ihr Temperament mit ihr durchging, dann richtig, und es waren Momente wie dieser, die klar machten, wie es zu jenem verhängnisvollen Streit kommen konnte, der letztlich dazu geführt hatte, dass sie und Faustus über Jahre hinweg keinen Kontakt mehr gehabt hatten, dass weder er ihr geschrieben hatte, der wusste, wo sie war, noch sie ihm, die bald genug ebenfalls erfahren hatte, wo er sich aufhielt, über die Männer, die ihre Mutter auf ihn angesetzt hatte. „Einen Komödianten kaufen? Vielleicht mach ich das sogar, der kann mir dann nicht nur meinen Verlobten, sondern auch meinen Bruder ersetzen!“ fauchte sie wütend zurück, und als Faustus sich daraufhin umdrehte und nach einem gebrüllten Kommentar aus ihrem Zimmer fuhr wie ein Wirbelwind, war sie ihm mit einem Satz hinterher und riss die Tür auf. „JA, lauf nur davon, das kannst du ja SO GUT!!!“ Und mit einem Knall landete die Tür wieder im Schloss.

    Seiana zuckte zusammen, als die Faust ihres Bruders auf eine Kiste krachte, und für einen winzigen Moment starrte sie ihn fassungslos an. Dass ihn das Thema so beschäftigte, dass er so wütend war deswegen, dass er nun für einen Augenblick die Beherrschung verlor, traf sie unerwartet. Und sie zuckte ein weiteres Mal zusammen, als er das Wort Respekt herausbrüllte. War es das? Hatte sie zu wenig Respekt, trat sie wirklich… die Tradition mit Füßen? Und damit die Ehre der Familie? Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie wusste es einfach nicht. Und so stand sie da und ließ die Flut an Worten über sich ergehen, die Faustus in den nächsten Momenten von sich gab, starrte ihn weiterhin nur an. Jedes Wort wühlte sie mehr auf, und mit jedem Wort musste sie sich mehr zusammenreißen, um nicht dazwischen zu fahren, ihn nicht zu unterbrechen, auch wenn sie nach wie vor nicht so Recht wusste, was sie sagen sollte auf diese Anschuldigungen, nur dass sie sich verteidigen wollte – und genau das war der Punkt. Wäre es nicht gerade ein Zeichen mangelnden Respekts, wenn sie jetzt anfing sich mit ihm zu streiten? Aber sie konnte nicht anders. „Das war doch völlig anders, ich bin ihm nachgereist, um ihn kennen zu lernen, um herauszufinden, wie er ist, weil ich mich nicht auf die paar Treffen in Rom und eine Handvoll Briefe verlassen wollte! Da ist nichts passiert weiter!“ Sie biss sich auf die Lippe, aber bei seinen nächsten Worten hielt sie es schon wieder nicht mehr aus. „Oh, du weißt also, wie Liebe einen verschlingen kann? Herzlichen Glückwunsch, dann weißt du mehr als ich“, brach es aus ihr heraus, bevor sie sich abwandte. Die Arme um den Oberkörper geschlungen, legte sie den kurzen Weg zu einem der Fenster zurück und starrte nun hinaus, während Faustus hinter ihr weiter sprach.


    Lange hielt sie es nicht aus in der Position, fuhr wieder herum, löste die gespannte Haltung und begann zu gestikulieren. „Und was hätte ich tun sollen? Ich meine, natürlich, klar, ich weiß, dass die Familie ein Mitspracherecht hat! Es ist nun mal nur leider so, dass ich das nicht gewohnt bin!“ Am liebsten hätte sie nun ihre Faust auf etwas krachen lassen, oder etwas kaputt gemacht, an die Wand geworfen, irgendetwas… „Wo seid ihr denn gewesen, die letzten Jahre? Es ging doch gar nicht anders, als dass ich mich um alles gekümmert hab, dass ich’s mir angewöhnt hab Entscheidungen zu treffen, ohne Rücksprache zu halten, als es Mutter immer schlechter ging, du und Appius, ihr wart verschwunden, und Caius war, wenn er daheim war, keine große Hilfe, die Götter sind meine Zeugen!“ Irgendwo, tief in ihr drin, meldete sich ihr schlechtes Gewissen wie ein Leuchtfeuer, noch weit entfernt, aber Seiana wusste, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis ihr ihre Worte wirklich leid taten. Es war nicht fair, davon anzufangen, es war nicht fair, ihre Mutter ins Spiel zu bringen, es war nicht fair, auf alte Fehler zu sprechen zu kommen… Und sie wollte auch niemandem Vorwürfe machen. Es war nun einmal so gewesen, und spätestens als Faustus aus dem Krieg zurückgekehrt war und sie sich ausgesprochen hatten, war es wirklich kein Problem mehr für sie gewesen. Aber letztlich hatten diese Erfahrungen dazu geführt, dass sie nun so war, wie sie war. Dass sie nach Ägypten reiste für längere Zeit, ohne ihrer Familie die Gelegenheit zu geben, ein Veto einzulegen. Dass sie sich mit einem Mann verlobte, den ihr Bruder noch nicht einmal kannte… ohne dass sie in dem Moment sich großartig Gedanken über diesen Fakt gemacht hätte. Und sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen und ändern, was sie gelernt hatte, was sie getan hatte, wie sie geworden war… Sie konnte nur versuchen, sich wieder andere Verhaltensweisen anzueignen, Verhaltensweisen, die einer römischen Frau angemessen waren, oder zumindest einer, die Wert auf Tradition und Ehre legte, jetzt, wo ihr so bewusst geworden war, was sie falsch machte. Aber sie war sich nicht so sicher, ob sie das wollte, auch wenn das zu Problemen führen würde. Mit ihrer Familie, ihrem Bruder, und später vielleicht auch mit ihrem Mann. „Ich kenn’s einfach nicht anders, als mich selbst um mich zu kümmern!“ Nicht seit sie wirklich erwachsen geworden war, und es war ein harter Prozess gewesen, das zu werden. Im Nachhinein erschien es ihr, als ob sie von einem Tag auf den anderen plötzlich… ja, erwachsen hatte sein müssen. Seiana sah wieder aus dem Fenster, schlang wieder ihre Arme um den Oberkörper, und ein drittes Mal zuckte sie zusammen, als Faustus’ letzte Worte erklangen. Trottelig. „Er ist vielleicht nicht immer der… Taktvollste. Oder der… rhetorisch Versierteste. Ich weiß, dass er manchmal ein Tollpatsch sein kann, und dass er manchmal mehr nachdenken sollte, bevor er den Mund aufmacht.“ Sie biss sich kurz auf die Lippen. Nicht gerade die beste Einleitung, um ihren Verlobten zu verteidigen, oder Faustus von ihrer Entscheidung überzeugen zu können, irgendwann mal vielleicht. „Er interessiert sich nicht so sehr für die Familie, oder die Traditionen, zu wenig, das weiß ich, und da ecken wir auch an, aber gleichzeitig heißt das doch, dass er sich für mich interessiert, nicht für den Namen meiner Familie. Und er bringt mich zum Lachen. Das hat er von Anfang an. Und die Götter wissen, dass das vor ihm schon lang keiner mehr geschafft hat.“

    Sie hatte ja nicht gesagt, dass die Goldenen die Schnellsten waren. Wenn sie das wären, würden sie gewinnen. Aber Seiana beschloss, dazu nichts mehr zu sagen. Sie stand zwar hinter der Factio Aurata, aber so wichtig waren ihr die Rennen dann doch nicht, dass sie allzu großen Spaß an derartigen Streitgesprächen hatte. Sicher war es ganz lustig, sich ein wenig gegenseitig zu necken, aber das war es dann auch schon, jedenfalls für sie.


    Hätte Seiana allerdings gewusst, was Caius gerade vorschwebte – hätte sie auch nur im Entferntesten geahnt, dass er gerade von sieben, 7, sieben, s-i-e-b-e-n Kindern träumte, sie wäre vermutlich vom Stuhl gekippt. Ohnmächtig, versteht sich. Oder schreiend, nein eher wortlos, davon gelaufen. So aber blieb sie, nachdem sie ihren ersten Schrecken bei der schlichten Erwähnung von Kindern überwunden hatte, bewundernswert ruhig. Sie lächelte sogar. „Sicher will ich Kinder, ich meinte nur, man weiß ja nie wann Iuno sich einem Paar gewogen zeigt. Aber genau deswegen… sollte ich vielleicht warten. Nicht dass ich dann, hm, bald nach der Hochzeit… wieder eine Pause einlegen muss, weil es sonst zu viel wird mit der Arbeit.“ Sie atmete kurz durch und nahm dann, diesmal äußerst vorsichtig und mit einem Seitenblick zu Caius, ob er nicht etwa dabei war, erneut irgendetwas in der Art von ‚lass uns Kinder kriegen’ von sich zu geben, einen Schluck Wasser. „Ja“, stimmte sie zu. „Erst mal heiraten.“ Und in diesem Moment dachte sie überhaupt nicht an irgendwelche Ausnahmen, sondern war einfach nur froh, dass die Sache mit dem Kinderkriegen wenigstens etwas noch dauern würde. Genauso froh war sie, als sie feststellte, dass das Thema damit erst mal abgehakt war. Caius jedenfalls ging nicht mehr großartig darauf ein, und Seiana hütete sich, die Sache weiter zu verfolgen und damit Gefahr zu laufen, sich womöglich doch noch zu verraten. Eine Weile unterhielten sie sich noch, dann verabschiedete Caius sich, und Seiana verschwand in ihren Gemächern.

    „In… Ordnung“, meinte Seiana, ein klitzekleines wenig zögerlich. Wenn Caius ihren Bruder einlud, hatte sie kaum Möglichkeiten, irgendwie einzugreifen, weil sie dann nicht dabei sein würde. Aber vielleicht sollte sie sich einfach damit abfinden, dass sie in der Sache nicht wirklich Mitspracherecht hatte, oder das Recht dabei zu sein, oder irgendein sonstiges Recht… Für einen winzigen Moment begann sie sich zu wünschen, sie wäre als Mann geboren worden. Dann hätte sie nicht solche Probleme damit, auch nur auszudrücken, was sie wollte, geschweige denn es durchzusetzen oder schlicht einzufordern.


    Dann zog sie gespielt beleidigt eine Augenbraue hoch. „Einen wahren Anhänger zeichnet aus, dass er seine Factio nicht fallen lässt, nur weil sie mal nicht gewinnt. Die Goldenen sind den Blauen doch im Grunde weit überlegen“, grinste sie dann. „Geh ruhig mit Piso. Ich hab auch nichts gegen dich, aber du sitzt eindeutig in der falschen Ecke.“


    Seiana nickte und trank einen Schluck Wasser, bevor sie noch etwas anfügen wollte, irgendetwas eher Belangloses, oder zumindest erschien es ihr belanglos, weil es sofort und vollständig aus ihrem Kopf gefegt wurde bei Caius nächsten Worten. So wie das Wasser aus ihrem Mund gefegt wurde, nicht den vorgesehenen Weg, die Speiseröhre hinunter, sondern wieder nach draußen, als sie sich verschluckte und erst prustete, bevor sie von einem Hustenkrampf geschüttelt wurde. „Kinder?!?“ Sie sollte nicht so entsetzt sein. Sie sollte ganz definitiv nicht so entsetzt sein bei dem Gedanken an Kinder. Es war nur natürlich. Man heiratete, man bekam Kinder. Punkt. Und sie wollte ja auch Kinder, ganz sicher wollte sie das, aber so wie Caius es sagte, das war… das… das klang so, als ob er quasi sofort damit loslegen wollte. Als ob er am liebsten gleich nach der Hochzeit drei Bälger haben wollte, die herumsprangen und plärrten. Nun, sprangen wohl eher noch nicht. Und sie wusste nicht, ob sie dafür schon bereit war, bei den Göttern, Kinder, das war… Sie hatte doch gerade erst ihre Läden richtig gut im Griff, sie würde jetzt noch die Medizintaverne von Caius übernehmen, sie arbeitete immer noch für die Acta, und die Schola war auch immer noch eine Option… Wo sollte sie da bitte Zeit nehmen für Kinder? Aber sie wollte doch heiraten, und ganz davon abgesehen wurde sie auch nicht jünger, ganz im Gegenteil… „Äh… Also, ich, ja, das… hatte ich vor. Uhm. Die Läden. Und die Acta. Bei der Schola wollte ich auch vielleicht anfragen, jetzt wo ich wieder in Rom bin. Allerdings… also, wenn… mit Kindern… vielleicht sollte ich damit noch ein bisschen warten. Also mit der Schola.“ Was sie eigentlich meinte waren die Kinder. Aber das konnte sie Caius weder sagen noch von ihm verlangen noch es beeinflussen.

    „Jaaa…“, machte Seiana gedehnt und grinste erneut. „Gehört sich auch so. Geschenke wollen schließlich gewürdigt werden. Aber lass mal, das mit Ordnung schaffen… ich glaub das muss ich schon selbst machen…“ Mit einem leichten Stirnrunzeln sah sie sich um und gestand sich lautlos ein, dass sie doch ganz gern ein wenig Hilfe hätte. Oder, noch besser, dass das jemand komplett für sie übernahm und sie sich einfach ausklinken konnte, dass sie zurückkam in komplett fertig eingerichtete Gemächer. In denen sie sich dann nicht mehr auskennen und vermutlich erst mal alles umräumen würde. Nein, das war keine Lösung, und Hilfe von den Sklaven konnte und würde sie ja in Anspruch nehmen. Sie war nur jetzt so müde von der Reise, das war vermutlich alles. Seiana setzte sich wieder auf das Bett, mit einem untergeschlagenen Bein, während Faustus begann, die Kisten ein wenig herumzuschieben. „Danke…“ Sie wurde ein wenig rot, als er sagte er sei stolz auf sie. „Wär schon was gewesen, beim Museion. Vor allem der Austausch mit den anderen dort. Aber die Sehnsucht nach Rom war dann doch größer.“ Sie zuckte leicht die Achseln und betrachtete fast schon ein wenig fasziniert, wie penibel und ordentlich Faustus ihren Reisemantel faltete. Sie war ja durchaus ein ordentlicher Mensch, aber so exakt gefaltet war ihre Kleidung wohl noch nie gewesen. Seine auch nicht. Nicht so weit sie sich erinnern konnte, jedenfalls. Wieder wurde ihr klar, wie viel sie in den letzten Jahren verpasst hatte, wie sehr Faustus sich weiter entwickelt hatte…


    Mitten in diese Gedanken hinein platzte Faustus mit seinem Kommentar über Caius. Und Seiana hatte Mühe, ein entnervtes Seufzen zu unterdrücken, was ihr allerdings im Gegensatz zum Augenrollen gelang. „Ja, will ich. Ich verlob mich doch nicht einfach so.“ Sie rieb sich über die Stirn und sah Faustus dann an. „Hör mal, hatten wir das nicht schon? Er war doch bei Onkel Meridius. Und er hat genug Ärger mit mir bekommen, weil er bei ihm war, bevor er mit mir geredet hat. Soll er die ganze Familie abklappern? Zu Onkel Livianus gehen, zu Mattiacus, zu jedem männlichen Verwandten von uns, der gerade da ist?“ Seiana stützte ihre Ellbogen auf die Oberschenkel und vergrub kurz das Gesicht in den Händen. Eine seltsame Mischung aus Trauer und Wut stieg in ihr auf, und sie bemühte sich darum, die Fassung zu bewahren. Die Reise, dachte sie. Das ist die Reise, die Anstrengung, die Müdigkeit… ich bin einfach fertig. Sie sah auf. „Entschuldige, ich wollte dich nicht so anfahren. Es ist nur… ich bin müde, und ich…“ … will mich nicht rechtfertigen müssen. Seiana sprach es nicht aus. Vor Jahren hätte sie es auch nicht ausgesprochen, sie hätte es ins Lächerliche gezogen, wäre Faustus ihr auf diese Art gekommen. Sie hätte gelacht oder ihn höchstens gefragt, wer ihn auf die Schnapsidee gebracht hatte ihr das Gefühl zu geben, eine Rechtfertigung von ihr zu erwarten. Aber es hatte sich mehr verändert zwischen ihnen. Jetzt sprach sie es nicht aus, weil sie irgendwie das Gefühl hatte, dass sie sich rechtfertigen musste. Sollte. Dass es richtig war. Er war nicht ihr Vormund, aber sie war unverheiratet, noch, und er war ihr Bruder. Ihr engster lebender männlicher Verwandter. „Er wird mit dir reden, und wenn ich ihn herzerren muss. Verlass dich drauf. Ich will doch auch, dass alles… richtig ist.“ Sie machte eine kleine Pause, und dann platzte es plötzlich aus ihr heraus: „Sag mal, hast du wirklich geglaubt, ich könnte schwanger sein? Hast du ernsthaft auch nur einen Moment lang gedacht, ich könnte die Familie auf so eine Art und Weise entehren?“ Seiana war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr dieser Gedanke, die Frage, die… nun ja, die wenigstens ansatzweise Anschuldigung an ihr genagt hatte, bis sie Faustus wirklich darauf ansprach.


    Immer noch ein wenig befangen wegen der Sache mit Caius, schaffte sie es nicht ganz die Begeisterung zu zeigen, die Faustus’ nachfolgende Ankündigung eigentlich verdient gehabt hätte. Aber dass sie sich ehrlich für ihn freute, war ihr anzusehen. „Das ist großartig! Ist doch egal, aus welchem Grund er es gemacht hat, er ist unser Onkel… und du hast es verdient, dass er dich unterstützt. Es tut mir leid, dass ich da nicht dabei sein konnte bei der Zeremonie.“ Seiana runzelte leicht die Stirn, als sie den Zynismus bemerkte, der in seinen Worten mitschwang, und legte den Kopf leicht schief. „Macht dir… deine Arbeit denn noch Spaß, bei den Kohorten?“

    „Ich red mit ihm“, versprach Seiana. „Wenn du möchtest und Zeit hast, schicke ich einen Sklaven los, der sich erkundigt, ob und wann er heute in die Casa kommen kann. Dann könntest du einfach auf ihn warten.“ Die Frage war nur, ob sie dem Sklaven mitteilen sollte, wer auf Faustus warten würde… oder nicht. Es fiel ihr gerade schwer abzuwägen, was besser war: dass Faustus sich vorbereiten konnte, oder dass er überrascht werden würde. Allerdings gebot es schon allein die Fairness, dass sie ihm sagte, weswegen er heimkommen sollte. Dann grinste sie ebenfalls kurz. „Die Rennen, ja? Ich glaub ich sollte auch mal wieder hin. Allerdings sollten wir das wohl besser getrennt tun…“


    Bei der anschließenden Aufzählung der Besuchsreihenfolge überlegte Seiana kurz, oder eher, sie tat so. Im Grunde war es ihr egal, wen sie in welcher Reihenfolge besuchten, es war nur die schiere Anzahl… Ihr Magen zog sich ein wenig zusammen. In Alexandria war alles so leicht und unbeschwert gewesen. Sie war froh, wieder in Rom zu sein, sie wollte nicht zurück, aber was diese Hochzeit betraf und ihr Zusammensein mit Caius, das war… Es schien alles so viel drängender zu werden nun. Und ernster. Sie umklammerte den Wasserbecher, trank aber nicht mehr daraus, weil sie im Moment das Gefühl hatte, nicht einmal einen Schluck Wasser herunter zu bringen. Aber sie brachte ein Lächeln fertig das sogar einigermaßen echt wirkte. „Doch, das können wir gerne so machen. Wenn wir länger bei deinen Eltern bleiben, können wir ja sehen, wann wir fahren – und ob vielleicht das Essen mit Axilla und Piso davor noch reinpasst.“

    Seiana war immer noch nicht so ganz begeistert, auch nicht wenn sie am Anfang dabei sein würde, aber dann gehen sollte. Aber wenn sowohl Faustus als auch Caius darauf bestehen würden… gefiel es ihr trotzdem nicht, aber dann würde sie die zwei halt allein lassen. Sollten sie tatsächlich so dumm sein aufeinander loszugehen, würde sie hinterher jedenfalls keinen von den beiden verarzten. Oder auch nur bemitleiden 8)


    Auf die Sache mit dem Kaiser ging Seiana nicht weiter ein. Sie konnte verstehen, wenn Caius darüber nicht allzu viel erzählen wollte, und sie gehörte nicht zu der Sorte Mensch, der furchtbar neugierig war. „Wart’s einfach ab“, erwiderte sie daher nur. „Du wirst dann schon erfahren, was er will.“ Sie lächelte aufmunternd, musste sich dann aber gleich darauf zusammenreißen, als Caius noch einmal auf das Treffen mit Faustus zu sprechen kam. „Ich müsst ihn fragen, wann er Zeit hat. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du schon so schnell kommen würdest…“ Erneut fand der Wasserbecher den Weg zu ihren Lippen, während sie kurz überlegte. Vielleicht war es besser, wenn Faustus auch vorgewarnt war, dass Caius hier war und ihn sprechen wollte. „Wir… sind noch gar nicht so wirklich dazu gekommen, darüber zu sprechen“, antwortete sie ausweichend. „Er hat viel zu tun, und wie gesagt, ich dachte es dauert noch bis du kommst.“

    Ganz leicht hob Seiana die Augenbrauen. „Nein, das hätte ich nicht gern so“, antwortete sie ruhig. Das war ja der Grund, weshalb sie ihm überhaupt etwas angeboten hatte. Sie war nicht gern abhängig von anderen, deswegen hatte sie mit der Töpferei angefangen, hatte sich einen Patron gesucht, hatte jede Menge Arbeit hinein gesteckt. Ihre Familie hatte Geld genug, dass sie das nicht nötig gehabt hätte, aber sich darauf zu verlassen, hatte sie nicht gewollt. Und auch wenn sie kein Problem damit hatte, ein Geschenk anzunehmen, wollte sie dennoch genauso wenig, jetzt oder nach der Hochzeit, auf Caius angewiesen sein, in der Form, dass sie abhängig war. Jeder, egal, ob es ihre Familie oder ihr zukünftiger Ehemann war, konnte sich darauf verlassen, dass sie nichts tun würde, was ihre Ehre beschmutzte – aber ihre Unabhängigkeit war ihr zu wichtig, um sie aufzugeben. Dennoch sagte sie nichts weiter zu diesem Thema, sondern nickte nur leicht auf die nächsten Worte hin. „Schick ihn vorbei mit dem, was du hast. Den Rest organisier ich mir dann selbst.“ Gedanklich machte sie sich ein paar Notizen, was sie dann noch würde auftreiben müssen. In Anbetracht dieser Umstände war es wohl unvermeidlich, dass sie sich die Taberna ohne allzu große Vorkenntnisse ansah und sich von den Angestellten darlegen ließ, wie die Geschäfte in der letzten Zeit gelaufen waren.


    „Wenn Quarto dich dabei haben will, wird er sich schon was gedacht haben. Lass dich einfach überraschen“, schlug sie dann mit einem leichten Grinsen vor, nur um gleich darauf ernst zu werden. Dass es schlecht um den Kaiser stand, war nicht wirklich ein Geheimnis, auch wenn es häufig dementiert wurde – aber dass es so schlecht stand, war ihr nicht bewusst gewesen. „Das klingt… aber gar nicht gut. Wenn er…“ Seiana verstummte. Sie wollte diesen Gedanken gar nicht laut aussprechen – aber wenn der Kaiser tatsächlich dem Tod so nahe war, wie Caius gerade andeutete, war das für Rom und das Reich kein gutes Zeichen. Innerhalb so kurzer Zeit gleich zwei Kaiser zu verlieren? Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde zu niemandem etwas sagen. Da kannst du dich drauf verlassen“, versicherte sie. Sie arbeitete zwar bei der Acta, aber derartige Informationen würde sie dort nicht preisgeben, schon gar nicht, wenn sie sie von Caius auf diese Weise bekam.


    Anschließend lehnte sie sich etwas zurück und nippte wieder an ihrem Wasser, was auch dem Zweck diente, dass sie sich etwas hinter dem Becher verstecken konnte. „Hm. Willst du ihn denn lieber erst mal alleine treffen, ohne mich?“ Seiana musterte Caius, und ihre Brauen waren diesmal ganz leicht gerunzelt. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Es ging immerhin um sie, um ihre Zukunft, da wollte sie dabei sein – andererseits, wenn Caius darauf bestand… Sie dachte an die Briefe, aber Faustus schien sich beruhigt zu haben, jedenfalls hatte sie diesen Eindruck gehabt bisher. Möglich, dass er sich ihr gegenüber auch ein wenig zurückgehalten hatte. Aber gerade wenn es so war, war es doch vielleicht eher besser, wenn die beiden nicht alleine aufeinander trafen, sondern jemand dabei war… Gut, es war Caius’ Entscheidung, wann und wie sie Flavius Piso kennen lernen sollte, aber bei seinem ersten Aufeinandertreffen mit Faustus wäre sie dennoch gerne dabei. Und dann war es wieder so weit, dass sie überrascht den Blick hob – als er anfing, herumzustottern. „Ja, klar kenne ich sie. Was… achso.“ Seiana lachte. „Meinst du dass sie das würden? Also wegen mir gerne. Und was deine Eltern angeht, und Ravenna: klar, lass uns das machen.“ Auch wenn sie sich nicht ganz so sicher war, ob sie für unbestimmte Zeit in Ravenna bei seinen Eltern bleiben wollte… sie kannte sie ja gar nicht, wusste nicht, wie sie waren. Aber wenn es nicht ganz so gut lief, konnten sie ja immer noch vorzeitig abreisen. Wobei, wer wusste schon, wie Caius reagieren würde auf eine solche Bitte… Seiana beschloss, es einfach abzuwarten.

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    „Hm“, brummte Marcus. Hatte er schon von einer Iunia Axilla gehört? Hätte er von ihr hören müssen? Hatte er es nur vergessen? Aber wenn die Dame zwei Sklaven schickte, die erst einen Termin ausmachen sollten, standen die Chancen gut, dass er nichts vergessen hatte. Die Herren erzählten ihm ja nicht unbedingt immer sofort, wen sie alles zu sich eingeladen hatten. Er blinzelte kurz zum Himmel hoch. Der sah zwar nicht allzu ungemütlich aus, aber es war auch nicht unbedingt warm genug, um die Sklaven draußen stehen zu lassen. Immer diese Entscheidungen… Der Ianitor unterdrückte ein Seufzen und nickte. „Dann kommt mal kurz rein. Ich schick jemanden los, der nachsieht, ob der Herr im Haus ist, damit er euch einen Termin nennen kann. Ansonsten müsstet ihr einen Brief hier lassen. Oder wieder kommen.“ Wie sie das machten, war ihm eigentlich egal. Während die beiden Sklaven also das Haus betraten, schickte Marcus den Jungen fort, der immer, für genau diesen Zweck, in seiner Nähe herumsprang, damit er nachforschte, wo Decimus Livianus steckte und ob dieser von einer Iunia Axilla gehört hätte und wann er denn Zeit hätte, die Dame zu empfangen, vorausgesetzt natürlich, er hätte von ihr gehört und sie eingeladen. Decimus Livianus war ein angesehener und einflussreicher Mann. War nicht sonderlich abwegig, dass irgendjemand mit einem Trick versuchte, ihn zu treffen. Marcus wandte sich wieder den beiden Sklaven zu, als der Junge abgedampft war, und gestikulierte zu einem kleinen Tisch, der in einer Nische seitlich neben der Tür platziert war und auf dem ein Wasserkrug und einige Becher standen. „Bedient euch.“


    Sim-Off:

    Hast du mit Livianus was ausgemacht? Ansonsten würde ich vorschlagen, der Junge kehrt mit einem Termin zurück und Axilla selbst kann dann kommen :)

    „Oooh ja“, seufzte Seiana. „Ich weiß genau was du meinst.“ Dann huschte ein Schmunzeln über ihre Lippen. „Mal sehen ob ich den Laden renovier… Danke!“ Überrascht sah sie ihn an, als Caius sagte er würde ihr das Geschäft einfach so schenken. „Hör mal, das ist aber nicht nötig, ich mein, ich kann dir auch was bezahlen dafür…“ Sie musste lächeln und schüttelte den Kopf. „Großunternehmerin… da müsste ich noch was ganz anderes aufziehen, glaub mir. Hast du irgendwelche Unterlagen zu der taberna?“ Sie freute sich schon darauf, die taberna medica von ihm zu übernehmen. Sobald sie die nötigen Dokumente von Caius bekommen hatte, würde sie sich eingehend damit beschäftigen, würde überprüfen, wie der Laden bisher gelaufen war, wo es vielleicht Verbesserungspotential gab… Und solange sie sie noch nicht hatte, würde sie sich allgemein in das Thema einlesen. Mal sehen, ob sie hier im Haus etwas dazu fand… Mit den Angestellten würde sie dann auch bald sprechen müssen, da konnte sie vielleicht morgen schon einen Termin ausmachen, aber das brachte nichts, bevor sie sich nicht wenigstens etwas mit dem Geschäft beschäftigt hatte.


    Ein wenig aus den gedanklichen Planungen gerissen, sah sie dann auf, als Caius weiter sprach. „Germanicus Avarus’ Gestüt? Dann solltest du das der Decima in Hispania auch noch besichtigen, damit du einen Vergleich hast“, grinste sie. „Nichts“, versicherte sie gleich darauf schnell, konnte sie doch selbst nicht so genau sagen, was eigentlich los war. Dass dieser fragender Unterton untypisch für ihn war, hatte sie sich sicher nur eingebildet. Und Caius lenkte gleich darauf auch schon erneut ab. „Na die Aktion einfach so zu ihm zu gehen war aber auch etwas… ungeschickt. Mich hast du damit noch viel mehr auf die Palme gebracht, wie du dich vielleicht erinnerst.“ Sie grinste ihn an. „Aber er hatte nichts gegen dich. Sonst hätte er mich nie einfach so nach Ägypten gelassen. – Den Kaiser? Tust du echt?“ fragte Seiana dann nach, fast ein wenig ungläubig. Caius erwähnte so selten, mit wem er verwandt war, dass es allzu leicht war, einfach nicht daran zu denken. „Das ist… toll! Kennst du ihn den schon, oder triffst du ihn das erste Mal?“


    Und dann fing es an, merkwürdig in ihr zu kribbeln. Ein straffer Zeitplan… Sie wollte heiraten, sie musste auch heiraten, so alt wie sie inzwischen war, aber Caius so konkret davon sprechen zu hören, von den ganzen Vorbereitungen, wen sie alles kennen lernen musste, da… wurde ihr dann doch fast etwas mulmig zumute. „Ähm. Ja. Nein, also, die Reihenfolge ist mir eigentlich egal. Vielleicht triffst du Faustus auch heute noch, ich weiß nicht, ob und wann er heute kommt. Ansonsten würde ich vorschlagen, dass wir einfach mal gemeinsam essen. Und der Rest… ich weiß nicht, zumindest was Quarto betrifft, werden wir uns ja wohl eher nach ihm richten müssen. Hm, deine Eltern könnten wir einfach mal über ein Wochenende besuchen, vielleicht nicht das nächste, aber wie wäre es mit dem darauf? Ach nein, da bist du wohl noch in Misenum… Ich würd sagen, dann vielleicht eher danach, wenn du wieder in Rom bist. Und Piso… Willst du irgendwohin gehen? In den Circus oder ins Theater? Oder hattest du eher an ein Essen gedacht? Vielleicht kann er dazu kommen, wenn wir mit Faustus essen, was meinst du?“

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    Es war Marcus, der alte Ianitor, der die Tür öffnete und nach draußen linste, um zu sehen, wer da wohl schon wieder etwas wollte von den Herrschaften. Zwei Männer standen draußen, Sklaven allem Anschein nach, in jedem Fall Bedienstete. „Wie kann ich euch helfen?“ fragte er, nicht unbedingt in der höflichsten Manier, zu der er fähig war, aber auch nicht wirklich unwirsch. Er war eben alt.

    Seiana konnte nicht anders, sie musste lachen, als Faustus aus der Geschenkübergabe eine solche Szene machte, so wie früher, als sie noch klein gewesen waren. „Angelhaken, genau, was willst du denn damit… oder hast du ein neues Hobby von dem ich noch nichts weiß?“ grinste sie zurück, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck zu einem Lächeln. „Klar hab ich das“, meinte sie leise, während Faustus das Amulett zuerst betrachtete und sich dann umhing. „Tut mir leid, dass du es erst jetzt kriegst. Danach gefragt hast du ja schon vor längerem, ich hätt’s auch einfach mal schicken können, aber ich wollte es dir persönlich geben.“


    Seiana streckte sich etwas und warf einen Blick auf die Kisten um sich herum. Sie hatte noch mehr dabei, aber auf Auspacken hatte sie jetzt keine Lust, und genauso wenig darauf, in dem Gepäck zu kramen und suchen. Sie zuckte leicht die Achseln und grinste etwas schief. „Auf den Rest wirst du wohl warten müssen, bis hier ein bisschen Ordnung herrscht.“ Bei Faustus’ nächster Frage wurde sie allerdings wieder etwas ernster. Sie meinte gespürt zu haben, dass es Dinge gab, über die er jetzt nicht reden wollte, dass es vor allem eine Stimmung gab, in die er ihr Gespräch nicht abdriften lassen wollte, aber das hieß für sie, dass es gewisse Dinge gab, über die sie dann wohl besser nicht reden sollten. Aber auch wenn die letzten Tage und Wochen in Ägypten getrübt gewesen waren, war es ja nicht so, dass ihre ganze Zeit dort so gewesen war. „Na ja… gut. Alexandria ist eine tolle Stadt. Von der Atmosphäre her ganz anders als Rom, oder Tarraco. Wobei es Tarraco noch ähnlicher ist. Das Leben ist irgendwie… lockerer, weißt du? Vieles wird da nicht so ernst genommen, das hab ich dir ja auch schon geschrieben. Umgekehrt gibt es aber auch einiges, worauf man achten muss, gerade als Römer… Im Museion hätte ich gerne wirklich angefangen, aber da kam dann meine Abreise dazwischen. Ich wollte einfach…“ Heim, lag ihr auf der Zunge, aber das war das falsche Wort. Sie hatte in Rom nicht wirklich mehr Zeit verbracht als in Alexandria. Dennoch war ihr nicht im Mindesten in den Sinn gekommen, nach Tarraco zu fahren. Nein, wenn sie an Zuhause dachte, dann war es merkwürdigerweise Rom, das ihr in den Sinn kam. Oder vielleicht doch nicht merkwürdigerweise – Faustus war hier. Und Rom war der Ort gewesen, von dem sie schon als Kinder geträumt hatten. Rom war der Ort gewesen, zu dem Faustus gegangen war, damals, mit 16… Und war damit auch der Ort gewesen, an den sie hatte gehen wollen, seitdem, ohne dazu in der Lage zu sein. So sehr, wie sie sich jahrelang gewünscht hatte endlich nach Rom zu können, dort zu leben, war es wohl nicht wirklich verwunderlich, dass es sie von Alexandria wieder hierher gezogen hatte und nicht nach Tarraco. „… hierher zurück. Heim“, sagte sie dann doch. „Klingt es komisch, dass ich das Gefühl hab hier zuhause zu sein?“ Wieder folgte ein etwas schiefes Grinsen. Kurz überlegte sie, ob sie Caius erwähnen sollte. Faustus’ Briefe waren ihr noch gut im Gedächtnis – aber es wäre auch seltsam, wenn sie gar nichts über ihren Verlobten sagte. „Caius ist erst mal dort geblieben, aber er hat vor auch nach Rom zu kommen, er will sich hier eine Stelle suchen. Und was gibt’s bei dir neues?“

    Seiana grinste zurück bei Caius’ Andeutung, der allerdings Elenas’ und Katanders möglichen Verbleib nicht nur nicht weiter kommentierte, sondern auch überraschend schnell wieder ernst wurde. Kurz zog sie die Brauen ein wenig hoch, aber sie sagte nichts mehr dazu, sondern bedeutete nur einem Sklaven, ihr ein Wasser zu bringen. „Bei dir auch? Meine Rückreise war furchtbar… Ich glaub mir war noch nie so schlecht im Leben. Wie lang bist du denn schon wieder in Rom?“ Der Becher Wasser wurde ihr gereicht, und Seiana nippte kurz daran. „Ja, angesehen hab ich sie mir. Sie ist eher klein, hat aber einiges im Sortiment, und sie ist gut geführt – wenn du sie wirklich nicht behalten möchtest, würde ich sie gern übernehmen. Ich hab zwar von dem Geschäft nicht allzu viel Ahnung“, sie grinste kurz, „aber das hat mich ja noch nie davon abgehalten, ein Geschäft zu übernehmen. Und was nicht ist, kann ja noch werden.“ Vor allem bei der Töpferei hatte sie sich auch sehr stark einarbeiten müssen, weil sie davon zu Anfang kaum etwas gewusst hatte.


    „Na ja hör mal, Katander wird das Klima in Rom ja wohl auch aushalten – so kalt ist es hier auch wieder nicht. Vielleicht tut ihm ein Winter in Germanien mal wieder ganz gut. Ich freu mich jedenfalls, dass du erst mal in Rom bleiben möchtest.“ Sie lächelte, nur Caius dann wieder ein wenig überrascht zu mustern. Es war weniger Zusicherung an sich, die er sich über die Hochzeit holen wollte, vielmehr der fragende Unterton, der die Worte tatsächlich als Frage kennzeichnete. Irgendwie… Sie konnte nicht genau sagen, was es war, konnte nicht den Finger darauf legen, aber irgendwie schien etwas anders zu sein. Flüchtig dachte sie an Alexandrien, wie locker und unkompliziert es da gewesen war, an ihren Ausflug, als sie sich verlobt hatten, an die zahllosen Unterhaltungen in seiner Wohnung… Lag es daran, dass sie jetzt in Rom waren, nicht mehr unbeobachtet? „Natürlich wollen wir.“ Sie grinste erneut und strahlte ihn dann gleich darauf an, das hieß, nicht ganz, weil sie sich gleichzeitig vorneigte und ihn kurz umarmte. „Procurator a memoria? Das ist großartig, Glückwunsch!“


    Und dann wurde es wieder etwas merkwürdig, als die Sprache auf den Blumenstrauß kam. Caius wirkte irgendwie… unsicher. Und Seiana konnte sich nicht wirklich erinnern, wann er das letzte Mal unsicher gewirkt hatte. Als sie bei ihm in Alexandrien aufgetaucht war, einfach so, und er nicht gewusst hatte, was sie wollte… Als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte… „Natürlich darfst du“, beeilte sie sich zu versichern, während sie sich innerlich schalt, dass sie sich doch lieber über die Blumen freuen sollte anstatt sich Gedanken zu machen über ein Verhalten, das vermutlich nur in ihrer Einbildung etwas merkwürdig schien. „Ich freu mich drüber, danke schön“, sagte sie dann in die Stille hinein, als diese etwas zu lang zu werden drohte.

    Seiana sah Katander einen Augenblick hinterher, immer noch lächelnd. „Mh. Elena wird sich richtig freuen, dass ihr schon da seid. Ich glaub die nächste Zeit brauchen wir gar nicht nach den beiden suchen.“ Sie grinste Caius an, nahm seine Hand und zog ihn hinüber zu einer Sitzgruppe. „Möchtest du etwas? Irgendwas zu trinken, oder essen? Wie war denn die Reise?“ Seiana ließ sich in einen der Sessel sinken und musterte ihn. Es war noch gar nicht so lange her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten – nicht lang jedenfalls im Vergleich zu der Zeitspanne, die sie eigentlich erwartet hätte –, aber dennoch war sie erleichtert, dass er jetzt schon da war. Sie hatte ihn vermisst, seine fröhliche, lockere Art, mit der er sie immer irgendwie aufheitern konnte. Und nachdem ihre Abreise und die Tage davor trotzdem recht getrübt gewesen waren, war es jetzt umso schöner, ihn wiederzusehen. „Das klingt doch toll – was für einen Platz hat er dir denn versprochen? Heißt das, du wirst erst mal in Rom bleiben?“ Darüber hatte Seiana sich noch keine Gedanken gemacht, hatte sich keine Gedanken machen wollen – wenn sie heirateten, war es klar, dass sie nicht in zwei verschiedenen Städten wohnen konnten, schon gar nicht, wenn die eine das Zentrum der Welt war und die andere am Rand eben jener Welt lag. Aber sie wollte Rom auch nicht wieder verlassen, nicht für den Moment. Es tat ihr gut, hier zu sein – vor allem tat es ihr gut, Faustus in der Nähe zu wissen. Und wenn Caius hier einen Posten bekam, dann würde sich dieses Problem zumindest für die nächste Zeit von selbst lösen.


    Dann wanderte ihr Blick zu den Blumen. „Für mich?“ Ihre Augen weiteten sich etwas. „Äh. Was ist der Anlass? Ich meine, du… ich freu mich, aber…“ Sie nahm die Blumen von ihm entgegen und senkte kurz ihre Nase zu den Blüten, bevor sie wieder aufsah. „Du hast mir noch nie Blumen mitgebracht“, grinste sie ihn an. „Und so lang ist es auch nicht her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

    Marcus, der alte Ianitor, nickte nur brummig, überlegte einen Augenblick lang, ob er sie nicht einfach warten lassen sollte, ließ sie aber dann doch hinein. Immerhin war der Aelier bereits hier gewesen, und es war auch kein Geheimnis, dass Seiana sich in der Zwischenzeit mit ihm verlobt hatte. Also öffnete er die Tür und hieß sie, einem Sklavenjungen zu folgen, der sie ins Peristylium bringen würde, um danach Seiana zu holen.

    Der Sklavenjunge lief auf flinken Füßen voraus und führte die Gäste, wie von Marcus befohlen, zum Säulengang, wo er in seiner Aufregung völlig vergaß, ihnen etwas zu Trinken anzubieten, sondern gleich wieder verschwand, um die Decima zu holen.


    Kurze Zeit später tauchte Seiana auf, allein, weil sie den Jungen weiter geschickt hatte um Elena zu suchen. Freudestrahlend bog sie um die Ecke und kam auf Caius zu, umarmte ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Caius“, begrüßte sie ihn, mit einem fast schon zärtlichen Unterton. „Ich freu mich so dich zu sehen, ich hätte nie gedacht, dass du so schnell schon nach Rom kommst – deinen Brief hab ich erst vor ein paar Tagen bekommen! Salve, Katander“, grüßte sie dann auch den Sklaven mit einem ehrlichen Lächeln, „Elena müsste auf dem Weg sein. Aber du kannst sie auch gern suchen gehen, wenn du möchtest.“ Dann erst fielen ihr die Blumen auf, und etwas überrascht zog sie die Brauen hoch. Blumen? Caius und Blumen? Seiana war kein Mensch, der schnell anfing andere zu verdächtigen, aber Caius hatte ihr noch nie Blumen mitgebracht, weswegen sie doch erstaunt war. Lag es nur daran, dass Blumen in Ägypten, bei der Hitze und Trockenheit, nicht so leicht zu bekommen waren, dass er nun welche mitbrachte? „Für wen sind die?“

    Während Seiana Faustus umarmte, stellte sie fest, dass sie in seinen Armen beinahe verschwand. Leise seufzte sie auf, während sie sich fragte, wann sie eigentlich von der – auch körperlich – großen Schwester zur kleinen geworden war. Irgendwie hatte sie das völlig verpasst, irgendwie war ihr das auch entgangen, als sie beide sich nach Jahren endlich in Rom wieder getroffen hatten, obwohl sie da schon sehr deutlich den Eindruck gewonnen hatte, wie sehr Faustus sich verändert hatte seit sie ihn das letzte Mal vor Jahren gesehen hatte, wie erwachsen er geworden war… Aber jetzt hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, die Kleine zu sein, für die er da war, nicht umgekehrt. Und sie konnte ein Gefühl der Enttäuschung nicht unterdrücken, als er die Umarmung unterbrach und zurückging, wenn auch den Kontakt nicht gänzlich brach. Aber sie wusste auch nicht so recht, was sie sagen sollte, schon gar nicht nachdem Faustus erneut begann, so locker zu reden und sie anzulächeln. Natürlich wusste sie nicht, was er dachte – aber bei dem Verhalten, dass er an den Tag legte, war es selbst für einen weniger feinfühligen Menschen nicht schwer zu spüren, dass er gerade keine schwermütigen Themen zulassen wollte. Und obwohl Seiana sich im Augenblick danach sehnte – nicht nach schwermütigen Themen, aber danach, sich einfach festhalten zu lassen und dabei… loslassen zu können, verdrängte sie dieses Bedürfnis, wie sie es schon so oft getan hatte. Sie hatte Erfahrung darin, sie hatte die ganze Zeit, während es mit ihrer Mutter langsam dem Ende zugegangen war, nichts anderes getan.


    Nach einem kurzen Moment, in dem sie all das sorgfältig in sich verbarg und versuchte, stattdessen eine Art Maske aufzusetzen, erwiderte sie also sein Lächeln, nickte leicht und bemühte sich ebenfalls um einen lockeren Tonfall. „Ja, sind wir… das heißt, ein bisschen Zeit ist schon vergangen, ich weiß gar nicht wie lang. Ich lag erst mal einfach nur hier und hab gar nichts gemacht“, erwiderte sie mit einem Blick auf die unausgepackten Kisten, die um sie herum standen. Sicherlich gab es Sklaven, die den Hauptteil des Auspackens übernehmen würden, aber das änderte nichts daran, dass Seiana dabei sein wollte, wenn das geschah, und selbst dafür sorgen, wo was hinkam. Dann sah sie wieder hoch. „Ja, also nein. Gegessen hab ich noch nichts.“ Dass sie gerade keinen Hunger hatte, weil ihr immer noch etwas flau im Magen war, verschwieg sie. „Aber warte noch, ich hab dir was mitgebracht…“ Sie wandte sich um und steuerte zielsicher den Beutel an, der auf ihrem Bett lag. „Also, ich hab dir noch mehr mitgebracht…“ sagte sie halb über die Schulter, während sie begann in dem Beutel zu kramen. „Aber das hier… hab ich… Moment… hier reingetan, das wollt ich dir gleich geben… Ah ja!“ Und sie zog ein kleines Päckchen hervor, das sie ihm reichte, rundlich, aber recht flach, in dem ein Serapis-Amulett verborgen war.

    Seiana ließ sich auf ihr Bett fallen, als sie in das Zimmer kam, während Elena in einen der Sessel am Fenster sank. Der Raum hatte, obwohl voll möbliert, diesen unbestimmbaren Hauch der Leere an sich, wie alle Räume, die längere Zeit unbewohnt gewesen waren, aber Seiana störte das im Moment nicht. Ohnehin würde sie das bald ändern, und für den Augenblick reichte es ihr, einfach nur angekommen zu sein. Sie war nicht allzu lange in Rom gewesen, nachdem sie aus Tarraco abgereist war, aber trotzdem hatte Rom damals Aufbruch für sie bedeutet, etwas Neues, etwas Aufregendes… Nach Rom zu gehen hatte sich einfach gut angefühlt, und etwas von dieser Stimmung machte sich auch jetzt wieder bemerkbar, obwohl dieses Zimmer, dieses Haus, diese Stadt für sie nicht dasselbe bedeutete wie es Tarraco tat. Aber die Erinnerungen an Hispania waren getrübt, und Seiana bezweifelte, dass es ihr sonderlich gut tun würde, dorthin zu reisen.


    Entschlossen schob sie die Gedanken fort, wollte sie doch jetzt nicht schon wieder anfangen zu grübeln, und als hätten die Götter ihren Entschluss gehört und beschlossen, sie zu unterstützen, kamen gleich darauf einige Sklaven herein, die ihr Gepäck brachten. Seiana setzte sich auf und bedeutete ihnen, die Kisten einfach abzustellen und wieder zu verschwinden. Auszupacken, darauf hatte sie jetzt auch keine große Lust, stellte sie fest, und so blieb sie sitzen und starrte nur versonnen in den Raum, während Elena den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen hatte. In diesem Augenblick klopfte es. Und noch bevor Seiana oder Elena reagieren konnten, wurde die Tür auch schon aufgerissen und Serapio stürmte herein. Mit einem Satz, von dem sie noch vor wenigen Momenten nicht geglaubt hätte, dass sie dazu in der Lage wäre, war sie auf den Beinen und sprang ihrem Bruder entgegen, ohne darauf zu achten, dass sie mit dem Fuß irgendwo dagegen knallte. „Faustus!“ Mit diesem Ausruf fiel sie ihm kurzerhand um den Hals und drückte ihn an sich. „Götter bin ich froh dich endlich wieder zu sehen…“ Ausgerechnet jetzt, wo sie hier war, wo es gar keinen Sinn mehr hatte, wurde ihre Kehle eng. Beinahe wütend auf sich selbst löste sie sich etwas von Faustus und sah zu, wie Elena und er sich begrüßten, die vergnügt grinsend die Umarmung erwiderte. „Ja, im Vergleich zu uns siehst du bald aus wie einer von denen aus dem Norden“, konterte sie, dann warf sie einen kurzen Blick zu Seiana. „Ich werd mich mal zurückziehen, wenn das in Ordnung ist. Bin ziemlich müde.“ Seiana lächelte ihr zu und nickte nur. Sie war sich sicher, dass Elena zwar tatsächlich müde war, aber auch deshalb ging, weil sie wusste, dass Seiana mit ihrem Bruder allein sein wollte – und kaum hatte sie das Zimmer verlassen, umarmte sie Faustus ein weiteres Mal, immer noch ohne eine seiner Fragen beantwortet zu haben. „Ich war zu lange weg“, murmelte sie.

    Erleichterung war das falsche Wort, um zu beschreiben, wie Seiana sich fühlte, als sie und Elena endlich die Casa Decima Mercator erreichten. Zu sagen sie wäre erleichtert, wäre eine Untertreibung, entschied sie. Hätte ein dramatischer veranlagtes Naturell, sie wäre zu Boden gesunken und hätte den Göttern auf den Knien dafür gedankt, dass sie endlich da war. Sie wusste nicht, ob sie es als Zeichen der Götter deuten sollte, dass die Reise so schlecht verlaufen war dieses Mal. Vermutlich lag es einfach nur an der Jahreszeit, dass das Wetter so schlecht gewesen war während der Seereise, aber trotz der Jahreszeit fand sie zwei Stürme, die Neptun ihnen auf den Hals gehetzt hatte, doch etwas viel. Noch dazu weil die See ohnehin recht stürmisch gewesen war, jedenfalls für ihren Geschmack, auch wenn die Seeleute nur darüber gelacht hatten. Die Hälfte der Zeit war ihr einfach nur richtig schlecht gewesen, die andere Hälfte… mehr oder weniger schlecht. Was das Schlimme an den Stürmen gewesen war: sie hatte nicht an Deck gedurft, weil es zu gefährlich gewesen wäre. Unter Deck jedoch, in den Kabinen, waren die rollenden Bewegungen des Schiffes auf den Wellen noch viel schlechter auszuhalten gewesen. Immerhin war es Elena die meiste Zeit recht gut gegangen, eine Tatsache, über die Seiana zwar auch neidisch gewesen war, aber gleichzeitig auch froh und dankbar, hatte Elena sich so doch um sie kümmern können. Immerhin, die Reise nach Rom dann war ruhig verlaufen, abgesehen davon dass ihre Freude, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, getrübt worden war durch die Tatsache, dass eben dieser Boden nun ebenfalls schwankte, und das nicht erst, als die Kutsche schließlich losgerollt war, mit der sie nach Rom fuhr.


    Alles in allem war Seiana also mehr als einfach nur erleichtert, als sie endlich angekommen war. Erschöpft ließ sie Elena den Vortritt, damit diese anklopfen konnte, und erwiderte nur verhalten die Begrüßung von Marcus, dem Ianitor. Sie beauftragte ihn nur damit, dafür Sorge zu tragen, dass ihr Gepäck hineingebracht wurde, dann gab sie Elena einen Wink und zog sich mit ihr zurück in ihre Räume.

    Seiana saß da, in ihrem Zimmer, das sie bewohnte, bei Flaminia Aviola. Sie hatte die ältere Dame im Lauf der letzten Monate in ihr Herz geschlossen, und es war nicht einfach gewesen, Lebewohl zu sagen. Ein Abschied. Um sie herum wirkte der Raum aufgeräumt, mehr noch, leer, was kein Wunder war angesichts der Tatsache, dass alles gepackt und hinaus gebracht worden war. Sie sah auf den Brief in ihrer Hand hinunter, Faustus’ Brief. So oft hatte sie ihn in den letzten Wochen gelesen. Noch ein Abschied. Dass Appius, ihr Bruder, ihr ältester Bruder, nicht mehr leben sollte, das war… unbegreiflich. Nach wie vor. Es hätte genauso gut sein können, dass er einfach… in Germanien war. Wie er es geplant hatte, wie er es erzählt hatte. Sie konnte es nicht überprüfen. Wie hätte sie das auch, es war ja nicht wie damals beim Tod ihrer Mutter, den sie hautnah miterlebt hatte, wie sie dahin gesiecht war, wie sie immer schwächer wurde, wie es immer schwieriger geworden war für sie, das Essen, das Atmen, das Leben… Und wie es selbst dann noch gedauert hatte. Zu schwach zum Leben, zu stark zum Sterben. Appius’ Tod war anders gewesen, nach dem, was Faustus geschrieben hatte. Schnell und überraschend, aber ohne dass er hatte leiden müssen. Aber wie damals beim Tod ihrer Mutter, und auch wie beim Tod ihres anderen Bruders, hatte sie mit niemandem darüber gesprochen. Oh, Caius und Elena und die anderen hatten durchaus davon erfahren – aber Seiana hatte nichts von dem nach außen gelassen, was die Nachricht in ihr ausgelöst hatte. Wie nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie nach Beschäftigung gesucht, nach Ablenkung, hatte alles mögliche getan, während sie innerlich sich Stück für Stück an die Wahrheit heran getastet hatte, Stück für Stück zugelassen hatte, dass das Geschehene sich in ihr ausbreitete, dass sie es realisierte. Ihre Finger strichen über den Brief, fuhren sacht die Buchstaben nach, die in der charakteristischen Handschrift ihres Bruders dort standen. Der Tod ihres Bruders schien immer noch seltsam irreal zu sein, dafür hatte Seiana in den letzten Wochen etwas anderes realisiert: sie musste zurück. Nein, sie wollte zurück. Sie brauchte ihre Familie, sie wollte bei Faustus sein. Wer wusste schon, wen von ihnen es als nächsten treffen würde. Das Leben war zu kurz, die Abschiede, die es einem aufzwang, zu endgültig, um allzu viele selbst gewählte Abschiede hinter sich zu bringen von den Menschen, die einem wichtig waren. Und sie hatten so viel Zeit vergeudet nach ihrem lächerlichen Streit, als er damals fortgegangen war.


    Caius hatte ihren Entschluss gefasst aufgenommen, als sie es ihm gesagt hatte. Seiana konnte nur vermuten, dass er nicht begeistert davon war, aber er verstand es wohl, und er hatte gemeint, er würde nachkommen, sobald es ihm möglich war. Sie hätte nicht gewusst, was sie hätte tun sollen, hätte Caius nicht deutlich gemacht, dass er ohnehin plante ebenfalls bald nach Rom zu gehen. Sie konnte nicht ständig hin und her reisen. Aber sie konnte auch nicht in Rom bleiben, wenn Caius hier war, in Alexandria, nicht wenn ihre Verlobung Bestand haben sollte. Aber Faustus im Grunde gar nicht mehr zu sehen, nur aus Briefen von ihm zu hören, das auszuhalten fiel ihr zunehmend schwerer. Sie war froh, dass ihr diese Entscheidung abgenommen worden war, dass der nächste Abschied, der ihr bevorstand, von vornherein als ein Abschied auf hoffentlich nicht allzu lange Zeit definiert war. Und so saß sie nun hier, nahm in diesem Augenblick innerlich Abschied von Alexandria und Ägypten. Von Caius hatte sie sich bereits verabschiedet. Sie hatte ihn darum gebeten, sie nicht zum Hafen zu begleiten, sie auch bei ihrem Aufbruch allein zu lassen, und auch dem hatte er zugestimmt. Seiana wusste nicht, wie viel er geahnt oder gemerkt hatte, aber sie selbst hatte das Gefühl gehabt, dass es für sie zu viel an Abschied werden würde, wenn Caius auch noch zum Hafen mitkam. Mit dem nach wie vor kaum verarbeiteten Tod ihres Bruders im Hintergrund und dem Verlassen Ägyptens, in dem sie in der kurzen Zeit so heimisch geworden war, hatte sie das Gefühl, sie würde Tränen oder sonst etwas in der Richtung nicht mehr zurückhalten können, wenn der Abschied von Caius auch noch am Hafen stattfinden würde, und das wollte sie nicht. Sie wollte sich vor ihm nicht so gehen lassen und schon gar nicht vor diversen anderen Menschen, die sich am Hafen tummelten, vor Reisenden und Arbeitern und Seeleuten. Nein, Abschied, genauso wie Trauer, war besser zu verkraften, wenn er häppchenweise kam.


    Elena war unten bei Katander und verabschiedete sich auch, oder besser gesagt, immer noch. Eigentlich hätte sie schon längst hier sein sollen, um sie abzuholen, damit sie aufbrechen konnten, dem Gepäck hinterher, das bereits zum Hafen gebracht worden war. Aber Seiana machte keine Anstalten, sie zu rufen. Sie wusste, wie Elena und Katander zueinander standen, und sie hatte ihr gesagt, dass sie hier bleiben sollte, aber Elena hatte sich rundheraus geweigert. Und obwohl Seiana ein schlechtes Gewissen hatte, war sie zu froh darüber, nicht gänzlich allein zu sein auf dem Weg nach Rom, dass sie nicht widersprochen hatte, sondern ihr nur zutiefst dankbar war. Lange dauerte es jedoch nicht, bis Elena schließlich doch noch kam, und ohne viele Worte zu wechseln brachen sie auf und machten sich auf den Weg in den Hafen, um sich von dort aus auf den Weg gen Rom zu machen.