Beiträge von Nero Claudius Tucca

    Wir folgten dem Ianitor durch einen kurzen Gang bis wir das Atrium erreichten. Das Atrium einer Villa ist für mich einer der am eindeutigsten zu erkennenden Räume. Egal wie viele Lampen, Kerzen und Kohlebecken aufgestellt sind, die Luft ist durch den stetigen Zustrom über die Öffnung im Dach immer etwas frischer als im übrigen Haus. Wenn wie in dieser Villa dazu noch ein kleiner Springbrunnen oder ähnliches im Impluvium plätscherte, konnte ich das Atrium auch noch hören.


    Wieder fiel mir auf, dass der Ianitor eine ziemliche Fehlbesetzung war. Seine Schritte waren schwer, er musste recht groß oder massig sein. Das passte eher zu einem Rausschmeißer, aber nicht zu einer repräsentativen Gestalt, die das Aushängeschild für eine Villa war. Außerdem zeigte sich auch im Atrium nochmals, dass er nicht sehr sprachgewandt zu sein schien.


    "Danke." Ich wartete, bis er wieder weg war, und beugte mich zu Tuktuk. "Und?"
    "Sehr stilvoll und edel, eher altmodisch als modern, aber eindeutig von jemandem arrangiert, der Geschmack hat."
    Etwas anderes hatte ich nicht erwartet. Patrizische Villen alter patrizischer Familien waren sich wohl im Grund alle irgendwie ähnlich. Der einzige Unterschied war, dass manche wahllos vollgestopft waren mit teurem Zeug und manche das Vermögen nur mit wenigen kostbaren Stücken demonstrierten. Außer für den ersten Augenblick interessiert mich das aber meist sowieso nicht, denn diese Oberflächlichkeiten gingen völlig an mir vorbei.

    Sonderlich wortgewandt war der flavische Ianitor nicht. Er erweckte eher den Anschein, als wäre er überhaupt nicht darauf gefasst, die Tür zu öffnen. Vielleicht war es mit dem flavischen Vermögen doch nicht so weit her, wie man immer hörte. Das sollte an diesem Tag aber nicht meine Sorge sein. Tuktuk legte meine Hand wieder auf seine Schulter und kündigte leise eine Stufe an, als wir die Villa betraten.


    Ein flüchtiger Luftzug wehte an meiner Nase vorbei als die Tür schon geschlossen war. Vor mir drehte sich Tuktuks Schulter etwas, dann klatschte es als würde eine Hand auf Haut schlagen, wie wenn sich zwei Ringer an den Armen oder Schultern packten.
    "Lass' das", hörte ich meinen Sklaven sagen, hatte aber keine Ahnung, was los war.
    "Was ist los?"
    "Nichts."
    Tuktuk zog seine Schulter nach vorn und ging weiter, also folgte ich ihm (was blieb mir auch übrig?). Ich hatte mich längst daran gewöhnt, nicht immer alles mitzubekommen, und wenn Tuktuk entschied, dass es nicht wichtig war, musste ich es auch nicht wissen.

    Da der Weg von der Villa Claudia zur Villa Flavia nicht allzu weit war, waren wir zu Fuß unterwegs, mein Sklave Tuktuk und ich. Das war zwar in doppelter Hinsicht anstrengend, weil ich nicht in die Gegend hinein hören konnte, sondern auf den Weg achten musste, aber ich genoss es trotzdem. Der kühle Winterwind zupfte an meinem Haar und ließ mir die Finger auf Tuktuks Schulter kalt werden, aber ich konnte deutlich die Sonne in meinem Gesicht spüren. Es war ein angenehmer Tag und ich hoffte, meine Cousine Antonia würde überhaupt zuhause sein. Auf der Hochzeit von Epicharis und Aristides hatte ich zugesagt, sie zu besuchen, und ich wollte das noch vor dem Jahreswechsel tun. Die Zeit bot sich auch an, weil die vielen Feiertage und der bevorstehende Jahreswechsel sicherlich Antonias Ehemann außer Haus beschäftigen würden. Auf der Hochzeit war er ziemlich langweilig gewesen und ich konnte mir gut vorstellen, dass er als Senator und Pontifex auch sonst nur über staubtrockene Themen sprach.


    Tuktuks Schritt verlangsamte sich bis wir stehen blieben, dann nahm er meine Hand von seiner Schulter. Das war für mich das Zeichen, dass wir angekommen waren. Geduldig wartete ich, während er klopfte und mich ankündigte, nachdem die Tür geöffnet worden war.
    "Salve! Mein Herr Claudius Tucca möchte gerne seiner Cousine Claudia Antonia einen Besuch abstatten."

    Tuktuk war nicht gerade redselig, doch das war er selten, wenn wir uns in Gesellschaft anderer freier Bürger befanden.
    "Löwen, Basilisken und auch das Katoblepas habe ich selbst gesehen. Dazu erinnere ich mich an einige Tiere, für die ich in unserer Sprache nicht einmal einen Namen kenne, vor allem Vögel und Fische. Aber eine Chimäre ist mir nie begegnet."
    Ich kannte Tuktuks Erinnerungswelt wie die meine. Es war eine faszinierende Welt, geprägt von Extremen. Von dürrer Steppe und dem fruchtbaren Boden am Fluss, von langanhaltender Trockenheit und langanhaltendem Regen, von tagelangen Märschen durch das öde Land, von bequemen Reisen mit einem Boot auf dem Fluss, von süßen Früchten und scharfem Gewürz, von Tieren mit Punkten oder Streifen im Fell, Hörnern auf der Nase oder Schuppen auf der Haut. Ich wusste nicht, wie viel davon aus Tuktuks Erinnerung stammte, und wie viel er darum herum erdichtete, ähnlich wie ich, wenn ich eine Welt um meine halb verblassten Erinnerungen ersponn. Aber das war auch nicht wichtig. Ich würde diese Welt niemals sehen und vermutlich würde ich sie auch auf keine andere Weise je erleben. Doch ich liebte sie so, wie Tuktuk sie erzählte, denn es war ein ganz anderes Leben und eine ganz andere Welt als die unsere. Sogar das Meer, das Tuktuk einst am Ende des Flusses, der in der afrikanischen Sprache nur Fluss hieß (weil es der einzige Fluss weit und breit war), gesehen hatte, war ganz anders als das Meer in Italia. Das wiederum fand ich nicht verwunderlich, denn was er gesehen hatte, das musste der Okeanos am Rand der Welt sein, und die Welt wäre schön langweilig, wenn der Okeanos aussehen würde wie das Mare internum.


    Vielleicht versuchte Serapio Tuktuk zum Weinkonsum anzuregen, damit er etwas redseliger würde. Der Versucht ließ mich auf alle Fälle weiter vor mich hin grinsen. Ich hatte das wahrlich selbst schon oft versucht, mit aus dem Weingenuss erwachsener Hingabe, Zorn oder Verzweiflung, aber geschafft hatte ich es nie (zumindest wüsste ich nichts davon). Ich persönlich geriet bei Serapios Schwärmen in regelrechte Verzückung, nach dieser Lobeshymne hätte der Segovier auch eine billige Plörre sein können, es hätte mir trotzdem geschmeckt wie der köstlichste Nektar der Götter.
    "Also mich hast du überzeugt, Serapio! Auf den Wein und seine zarte Seele! Stoß' an, Tuktuk!"
    Ich hob meinen Becher und hielt ihn ein Stück zur Seite. Es klackte tatsächlich, was mich zögern ließ.
    "Wenn das deine Milch war, die meinen Becher voll sonnigem Wein berührt hat, dann gibt es morgen kein Frühstück!"
    Mein Sklave lachte ungezwungen. "Es gibt morgen sowieso kein Frühstück, weil dir schlecht sein wird, njaatigi, und du schon beim Geruch nach Essbarem jammern wirst."
    Ich stumpte Tuktuk meinen Ellenbogen in die Seite. "Hör' nicht auf ihn, Serapio! Er will mir nur meinen Wein madig machen. Aber selbst wenn, was ist schon der Verlust eines Frühstücks gegen den ausgiebigen Genuss dieses edlen Tropfens!" Darauf erst einmal einen kräftigen Schluck. "Ah, herrlich! Wenn er seinen Wein nicht will, ich bin sicher, wir leeren diesen Krug auch zu zweit schneller als Tuktuk 'In den Wein weinend weint Veiento in den Wein rein' sagen kann."
    "Ich bleibe bei Milch."
    Ich konnte hören, dass da ein resignierter Unterton in Tuktuks Stimme mitschwang. War ich schon so weit? Zugegeben, der erste Krug war ziemlich schnell geleert. Wie üblich ignorierte ich jedoch alles, was mich vom Trinken abhalten könnte, inklusive meines Sklaven.
    "Du solltest Weinhändler werden, Serapio. Ich würde dir jede Amphore abkaufen, wenn du sie mit so schönen Worten garnierst." Vielleicht war Serapio ein Redenschreiber, oder aber ein Poet. Das würde gut passen, Dichter und Philosophen schlugen sich gerne die Nacht um die Ohren, das wusste ich. Zumindest die aufregende Sorte, die langweiligen fielen schon beim Abendessen halb in den Schlaf. "Du bist doch nicht etwa Weinhändler, oder?"

    Ein Hund also, das war nicht weiter verwunderlich. Schade, dass Fiona nicht mehr im claudischen Haushalt weilte, eine Frau aufzufangen konnte sonst eine wunderbare Gelegenheit für mehr sein. Sie machte auf mich einen angenehmen Eindruck, auch wenn sie ein bisschen schüchtern schien, aber es konnten nun einmal nicht alle Sklaven so locker mit ihren Herren umgehen, wie Tuktuk dies tat. Wer wusste schon, was für ein biestiges und herrisches Geschöpf Epicharis war (zu einer Claudierin würde das durchaus passen).


    "Vale, Fiona, dir ebenfalls noch einen angenehmen Tag!" sandte ich ihr meinen Abschiedsgruß nach und sprach zu Tuktuk. "Was ist mit den Spießen? Hast du sie noch?"
    "Natürlich, njaatigi. Hier." Er nahm meine freie Hand, legte mir den Griff eines Holzspießes hinein, nachdem ich sie geöffnet hatte, und schloss sie dann.
    "Vielleicht sollten wir zum Essen irgendwo anders hin, das hier scheint doch eine sehr belebte Ecke zu sein."
    "Es geht schon, ich passe auf."
    "Gut." Ich hob den Spieß und ließ mir das saftig gebratene Lammfleisch schmecken.


    Schweigend (da kauend) aßen wir unsere Spieße. Ich zupfte einen letzten Fleischrest von dem dünnen Holz, dann musste ich Tuktuk doch ausfragen.
    "Kennst du sie näher? Diese Fiona meine ich."
    "Nur flüchtig."
    "Sie riecht gut." Ich versuchte mit meiner Zungenspitze eine störrische Fleischfaser aus dem Zwischenraum meiner oberen Schneidezähne zu lösen. "Für eine Sklavin meine ich."
    "Vergiss sie, Tucca, sie ist jetzt bei den Flaviern."
    Endlich löste sich der Fleischrest und ich schluckte ihn hinunter, eine letzte kleine Erinnerung an das saftige Lamm. "Ja, schade, nicht wahr?" Ich grinste und hielt das abgenagte Holzstäbchen Tuktuk hin. "Bist du fertig? Dann lass' uns weitergehen."
    Das Holz wurde aus meinem Griff entfernt und gleich darauf zuppelte Tuktuk an meiner Toga herum. Geduldig ließ ich das über mich ergehen, bis er schließlich meine Hand ergriff und auf seine Schulter legte.


    Obwohl Rom auch danach noch mit aller Wucht seiner Gerüche, Geräusche und Berührungen auf mich einströmte, hingen meine Gedanken noch eine ganze Weile der Sklavin nach. Nicht, dass ich mir in Rom meine Gelüste verkniffen hätte, es gab hier ganz fabelhafte Lupanare, aber so eine Sklavin im eigenen Haus war schon etwas anderes.

    Nach dessen Ankunft grüßte ich meinen Vetter mit einem knappen "Salve, Menecrates". Es war ihm anzuhören, dass heute nicht sein bester Tag war. Obwohl seine Stimme fest schien, war sie doch eine Nuance leiser und nicht ganz so unbeschwert wie bei unserem letzten Gespräch. Viel interessanter war allerdings Brutus' Stimme nach dem Auftauchen seines Vaters und ich brauchte ihn nicht zu sehen, um zu bemerken, dass ihm diese Begegnung mehr als unangenehm war. Der Gedanke, dass Menecrates nichts von den Plänen seines Sohnes wusste, bestätigte sich direkt aus seinen Worten.


    Ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass viele, denen ich begegne, glauben, mich wegen meiner Blindheit bedauern zu müssen, aber gerade in solchen Situationen fand ich persönlich junge Männer wie Brutus viel bedauernswerter. Menecrates hatte Pläne für seinen Sohn, wie jeder römische Vater, und er hatte vermutlich die üblichen patrizischen Ansprüche an dessen Zukunft und Karriere. Für einen Claudier war das Beste nur gut genug, aber das Beste fiel einem selten einfach so in den Schoss, bedeutete harte Arbeit und oftmals Verzicht hinsichtlich der eigenen Wünsche. Ich war aus dieser patrizisch-claudischen Erwartungs-Maschinerie heraus gefallen an dem Tag, als fest stand, dass ich nie wieder etwas sehen würde. Es mag ein hoher Preis sein, doch da ich mein Leben nie aus dem negativen Blickwinkel des Versäumnisses heraus betrachtet hatte (zumindest nicht, solange ich nüchtern war), fand ich die Konsequenz in Anbetracht der Alternative nicht ganz so schlimm.

    Dem Hundegebell schenkte ich nicht mehr Aufmerksamkeit als den anderen Geräuschen um uns herum, den Rufen von Händlern und Passanten, dem Plätschern eines Brunnens irgendwo auf der anderen Straßenseite, dem leises Klopfen eines Hammers auf Metall, dem Gackern irgendwelcher Hühner irgendwo linker Hand, und all den anderen Lauten, die so ein Markttag mit sich brachte. Ich hatte absolut keinen Schimmer, was auf einmal geschah, dass Fiona schon wieder halb in meinen Armen lag, wir strauchelten und erneut kurz davor waren, uns dem Boden anzunähern. Aber auch dieses Mal war Fortuna uns hold, außerdem spürte ich Tuktuks starken Griff, der meinen schwankenden Körper stabilisierte und mir damit half, die Sklavin in der Senkrechten zu halten. Meine größte Sorge galt in diesem Augenblick tatsächlich weder Fiona noch meiner eigenen Person, sondern den Lammspießen, die Tuktuk zuvor in seinen Händen gehalten hatte, und dem Gedanken daran, dass er sie am Ende hatte fallen lassen.


    Die ganze Sache war Fiona hörbar unangenehm, vermutlich nicht nur, weil sie es sowieso schon eilig hatte. Sofort begann sie sich wieder zu Entschuldigen. Ich dagegen musste ein Grinsen unterdrücken. Der Faltenwurf meiner Toga war nun vermutlich völlig hinüber, und Tuktuk würde noch darüber meckern, aber diese Geschäftigkeit, dieses Drängen und Rempeln war genau das, was ich in Ravenna zuletzt vermisst hatte (zumindest so lange mein Sklave bei mir war, im anderen Fall wäre ich wohl eher panisch geworden).
    "Jetzt sind wir wieder quitt. Mir ist nichts passiert. Ich hoffe dir ist nichts passiert? Was ist überhaupt passiert?" Ich wandte meinen Kopf ein wenig planlos durch die Gegend. "Tuktuk?"
    "Ja?"
    "Ah, da bist du." Tuktuk links, Fiona rechts, Rom drumherum, das genügte für die erste, grobe Orientierung.

    Ich lachte vergnügt und schüttelte zugleich den Kopf.
    "Nein, nein, ich kann mir zwar einiges erlauben, aber nach einem öffentlichen Auftritt würde mich meine Familie schnurstracks aus der Stadt hinaus jagen. Oder gleich auf eine Insel vor der Küste verbannen!"
    Oder eben zurück nach Ravenna, was für einen Stadtrömer sicherlich genauso schlimm war, auch wenn es für mich einen gewaltigen Unterschied machte. Ich stellte mir vor, wie der ehrenwerte Senator Claudius Menecrates aus dem Gebäude der Curia Iulia hinaus trat und über die Menschenmenge auf dem Forum Romanum hinweg irgendwo seinen Vetter Tucca auf einem Fass stehen und voll Inbrunst ein paar Lieder schmettern sah und hörte. Diese Vorstellung ließ mich überaus belustigt in mich hinein grinsen.


    "Ein feuriger Hispanier ist nie verkehrt" antwortete ich noch immer grinsend auf Serpios Frage und war mir der Doppeldeutigkeit meiner Worte dabei bewusst. Mir stand der Sinn keinesfalls nach Jünglingen oder Männern, um diesem vielleicht nahe liegenden Gedanken direkt vorzubeugen, es war nur eine Neckerei, durch den erhöhten Weinkonsum und meine lockere Zunge begünstigt. Ich bevorzugte Frauen, schon immer und mein Leben lang, diese jedoch in allen möglichen Varianten.


    Danach war ich mir erst nicht sicher, ob Serapios weitere Frage mir galt. Der Sinn seiner anschließenden Worte machte jedoch deutlich, dass er auf Tuktuks Milch anspielte. Ich hatte mich längst an diese Unart gewöhnt und respektierte sie, und obwohl auch ich immer wieder versuchte, meinen Sklaven bei einem nächtlichen Streifzug zum Weinkonsum anzustiften, war es vielleicht besser für mich, wenn er nüchtern blieb.
    "Es schmeckt nach Milch", antwortete Tuktuk neben mir, keinesfalls unfreundlich, sondern der Nüchternheit der Tatsache mit seiner nüchternen Stimme Rechnung tragend. Seine Ablehnung war auch nicht unfreundlich, aber bestimmt. "Danke, aber ich möchte wirklich keinen Wein."
    Tuktuks Götter sahen es nicht gern, wenn ihre Gläubigen vergorene Früchte aßen oder den Saft davon tranken. Vielleicht waren Tuktuks Götter in dieser Hinsicht tatsächlich schlauer als unsere, denn außer den Genuss brachte der Weinkonsum schließlich nicht viele Vorteile.


    "Meine Familie gehörte zum Stamm der fulani. Wir lebten an einem Fluss in Africa, der in der Sprache meiner Eltern bah djimma, 'Fluss', heißt. Er liegt noch weiter im Süden als der große Strom, der hier Bambotus oder Nias heißt. Aber ich bin schon sehr lange in römischem Besitz, an dieses Leben habe ich nur wenig Erinnerung."
    In dieser Hinsicht waren wir uns sehr ähnlich, Tuktuk und ich. Die Parzen hatten uns beide aus unserer Welt gerissen, Tuktuk aus den Tiefen Africas und mich aus der Welt des Sehens. Beide erinnerten wir uns nur schemenhaft an diese vergangenen Welten und üblicherweise teilten wir diese Erinnerung vorwiegend miteinander. Es kam selten vor, dass Tuktuk einem Außenstehenden von seiner Heimat erzählte. Hauptsächlich deswegen, weil sich sonst kaum ein Römer mit einem Sklaven unterhielt oder sich für dessen Geschichte interessierte.
    Vielleicht war es das, was Tuktuk dazu bewog, weiter zu sprechen. "Mit Rasseln und Trommeln wird dort musiziert, und dazu gesungen."
    Das war auch mir neu. "Rasseln und Trommeln, Tuktuk? Das hast du mir ja noch nie erzählt. Was meinst du, Serapio, eine Trommel würde doch sicherlich gut zu Syrinx und Kithara passen?"
    Natürlich war der Gedanke an so etwas immer noch unrealistisch, doch je mehr Wein ich trank, desto besser gefiel er mir. Obwohl der Abend eher dazu bewog, den Becher als halb voll anzusehen, so war mein Becher schon wieder halb leer.

    Dass sich Fiona entschuldigte, fiel mir nicht einmal bewusst auf. Vermutlich hatte ich sie zu schnell in die Schublade der Sklaven einsortiert. Sklaven entschuldigten sich ständig für irgendwelche kleinen Unachtsamkeiten, von denen ich die eine Hälfte nicht einmal mitbekam und die andere Hälfte nicht als Nachlässigkeit wahrnahm. Die Neuigkeiten aus der flavischen Villa interessierten mich sowieso viel mehr. Allerdings war Fiona wohl in Eile und nicht sonderlich gesprächig, denn viel hatte sie nicht zu berichten und verabschiedete sich schon im nächsten Atemzug.


    "Dann will ich dich natürlich nicht aufhalten. Bitte richte Epicharis und Antonia einen Gruß aus, und ... ähm ... ihren Ehemännern natürlich auch."
    Es war durchaus schade, dass die Sklavin es eilig hatte. Es wäre eine wunderbare Gelegenheit gewesen, sie zu fragen, an welchen Tagen Antonias Mann nicht zuhause war. Er war auf der Hochzeit ziemlich wortkarg gewesen, und auch wenn das vielleicht seine Gründe hatte, so konnte ich mit Schweigen nicht viel anfangen. Daher wollte ich meine Cousine lieber dann besuchen, wenn er nicht im Haus war, ich selbst hatte schließlich zu jeder Tageszeit die Möglichkeit für Besuche.

    Den ersten Schluck Wein spülte ich durch den Mund und versetzte ihn mit der Zunge in Bewegung, bevor ich ihn den Gaumen hinab rinnen ließ. Er hatte eine schwere Note, die pelzig auf der Zunge liegen blieb, mit einem leicht süßen Abgang, der den Magen wärmte. Er war vielleicht nicht besser als der erste Becher, den ich an diesem Abend getrunken hatte, aber ganz sicher besser als der letzte zuvor. Unter dem Tisch begann mein Fuß im Takt des Liedes zu wippen, das durch den Raum zog. Es war eines dieser Lieder, die man bei ungezwungenen Landpartien mit ungezwungenen Freunden anstimmte. Ich kannte einige von diesen ungezwungenen Kerlen, die in Ravenna ihr Leben nur so in den Tag hinein lebten, die Taugenichtse ihrer Familien, Abenteurer wie mein Freund Platorinus einer war, Faulpelze wie Crepereius Asper oder Einfaltspinsel wie Herminius Rullus. In so einer Gesellschaft begann man auch am Tag schon zu Singen. Ein bisschen vermisste ich sie wohl, doch Platorinus war auf Reisen und Asper hatte die Familie am Ende doch noch nach Gallia abbeordert, wo sie in irgendwelche Handelsgeschäfte involviert war, so dass in Ravenna nur der Einfaltspinsel verblieben war.


    Mit einem Mal legte Serapio los und berichtete über Hispania. Natürlich interessiert es mich und er konnte sich meiner vollsten Aufmerksamkeit sicher sein. Ich versuchte mir das klare, durchringende Licht vorzustellen, und es war keine Helligkeit, die dabei heraus kam, sondern etwas widerstandsloses, weiches, vielleicht flüssig-warmes Wasser, in das der Körper eintaucht , oder zitroniger Rauch, der einen umgibt. Ich habe das Meer nie gesehen, doch Tuktuk beschreibt es wie den Himmel, nur unter den Füßen und ohne dass man darauf gehen kann. Ich erinnerte mich an den Himmel, wenn auch nicht mehr an die Farbe, die Blau heißt. Ich stellte mir daher den Himmel vor einer Küste (steinige, schroffe Felsen) vor, den salzigen Geschmack auf den Lippen, das fast schwerelose Dahintreiben auf den Wellen, den Geruch nach Tang und dem Gefühl, auf Sand und Steinen hinaus ins Wasser zu waten. In dieses un-sichtbare Bild flogen Serapios Möwen, brandete das Rauschen der Wellen, zog der Wind mit dem Duft der Kräuter und mischten sich seine weiteren Beschreibungen. Er schien nicht nur ein guter Beobachter, sondern generell mit allen Sinnen aufmerksam zu sein.


    "Das hört sich nach einem wundervollen Land an. Irgendwann sollte ich es besuchen." Das sagte ich immer. Irgendwann. Immerhin war ich nun schon bis nach Rom gekommen. Vielleicht würde ich 'irgendwann' doch auch noch einmal einen Fuß in die weite Welt setzen.
    "Kennst du das hier, es scheint mir genau auf dein Hispania zugeschnitten zu sein."
    Ich setzte den Becher ab und begann, nicht ganz so laut, zu singen, das Lied aus der anderen Ecke des Raumes ignorierend. Meine Sing-Stimme war tatsächlich nicht schlecht, und mit ein bisschen Wein geölt hätte sie vielleicht sogar ausgereicht, ein Heroenlied auf der Rostra zu schmettern.
    "Hispania im Sonnenschein, / schöne Frau'n und wilder Wein, / die See so blau, das Land so grün, / im Felde bunte Blumen blüh'n.
    Hispania, oh Heimatland, / nie hätte ich mich abgewandt / hätt' ich gewusst wie sonderbar / es hier ist in Italia!
    Hispania, bald komm' ich heim, / will fortan nurmehr bei dir sein. / Kauf' mir ein Haus und leb' famos, / dann wirst du mich nie wieder los!"


    Ich zog das letzte Wort in die Länge, dann hob ich grinsend meinen Becher wieder an und leerte ihn ebenfalls. Eigentlich war das Lied auf Dalmatia zugeschnitten, zumindest hatte mir ein durchreisender illyrischer Händler das glaubhaft versichert. Ich wusste auch nicht, ob es wirklich ein dalmatisches Lied oder ob es ihm nur im Suff eingefallen war, aber es hatte einen so einprägsamen Rhythmus, dass ich es mir gemerkt hatte (was vielleicht auch daran lag, dass wir es damals über Stunden hinweg in allen möglichen Tonarten und Geschwindigkeiten gesungen hatten).

    Ich lachte auf. Die Frage war so merkwürdig, dass zu antworten mir schon nicht mehr seltsam erschien.
    "Natürlich bin ich schon in einem Fluss geschwommen. Der Padus eignet sich an seiner Mündung ins Meer vorzüglich zum Baden, falls du einmal in die Gegend um Ravenna kommst. Das Süßwasser mischt sich dort mit dem salzigen des Meeres und hat daher einen ganz eigenwilligen Geschmack."
    Ich dachte immer noch nicht daran, dass ich ein gutes Ziel für jeden vorbei eilenden Dieb bot, auch nicht, dass sie vielleicht zu diesen gehören könnte. Ich wandelte mit meiner durch Ravenna geprägten Naivität durch Rom, außerdem hatte ich nicht viel bei mir, was man mir stehlen konnte, wenn man mich nicht nackt stehen lassen wollte. Meine Münzen hatte Tuktuk an seinem Leib verwahrt, ich selbst trug nur einen kleinen Beutel mit ein paar Assen bei mir.


    In diesem Moment kam meine Münzsammlung zurück. Wie sich herausstellte, hatte deren Träger eine echte Köstlichkeit zwischen billigem Eintopf und Puls in halben Broten entdeckt.
    "Njaatigi, ich habe Lammspieße, mit einer Honigkruste überzogen. Salve, Fiona."
    Er grüßte so beiläufig, dass ich es fast überhört hätte. "Fiona?"
    "Das ist ihr Name."
    "Ihr Name? Wir kennen uns?" Wenn Tuktuk sie kannte, dann musste ich sie auch kennen, denn wen sollte er schon in Rom kennen, den ich nicht kannte? Das Essen hatte ich völlig vergessen.
    "Sie ist eine von Epicharis' Sklavinnen."
    Es ärgerte mich ein bisschen, dass Tuktuk das alles so sagte, als wäre es längst klar. Vermutlich war es das natürlich auch allen Beteiligten, außer mir. "Ist sie? Ach, das war mir gar nicht bewusst. Entschuldige, das mit dem Erkennen ist manchmal nicht so einfach. Wie geht es euch bei den Flaviern? Werdet ihr gut behandelt? Ist in deren Villa mehr los, als bei uns?" Ich kannte einen Flavier aus Ravenna, der war nicht gerade umgänglich mit seinen Sklaven. Aber natürlich bedeutete das nicht, dass die in Rom genau so waren.

    Als die Gäste sich zum Brautzug aufstellten, musste mir Tuktuk von der Kline aufhelfen. Ich hatte mit meiner Cousine Antonia geplaudert, eine Menge gegessen und noch viel mehr getrunken. Genau genommen hatte ich schon zu viel getrunken und ich merkte, dass ich leicht schwankte, kaum dass ich stand. Aber immerhin würden Epicharis und Aristides nur ein mal im Leben heiraten (zumindest in dieser Kombination, in einer anderen vielleicht nicht), also musste das gefeiert werden. Mein Nachteil war in dieser Situation ein Vorteil, denn da ich nichts sah, führte mich sowieso mein Sklave, und weil es schon dunkel war, lag nicht meine Hand auf seiner Schulter, sondern er hatte mich am Arm untergehakt, so dass ich keine Mühe hatte, dem Brautzug in einigermaßen gerader Linie zu folgen.


    In dieser Verfassung hatte ich wenig übrig für den Garten um mich herum. Der Duft von Malve, Oleander und Pinien zog genau so unbeachtet an mir vorbei wie die Geräusche der dämmerungsaktiven Tiere. Meine ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Brautzug. Ich mochte Brautzüge sehr. Vor allem dann, wenn ich schon reichlich dem Wein zugesprochen hatte, denn dann fielen mir noch viel bessere Spottsprüche ein als in nüchternem Zustand. 'Besser' aus meiner Sicht natürlich, weniger aus der des Paares und schon gar nicht aus literarischer.


    "Bevor der Ehe Tag erwacht, bedarf es einer Ehenacht.
    Drum, Flavius, nimm die Claudia ran, dass morgen keiner zweifeln kann!"


    Das war schon ganz in Ordnung gewesen, aber ein bisschen kurz (dass die Claudia gar keine Claudia mehr war, sondern jetzt eine Flavia, war dabei völlig an mir vorbei gegangen). Ich beugte mich zu Tuktuk vor und flüsterte.
    "Was reimt sich auf links?"
    "Stinkts?"
    "Mäßig. Wie wäre es mit rechts?"
    "Brechts? Hechts? Lechzt?"
    "Egal, vergiss' es."


    Vermutlich sollte ich einfach froh sein, dass Tuktuk Latein sehr gut beherrschte. Von ihm auch noch dichterisches Feingefühl zu erwarten, war zu viel verlangt. Andererseits passte der 'lechzende' Mann besser als der, der die Zügel 'fest' hält, was sich noch weniger reimen würde.


    Eilig rief ich meinen Spruch, bevor ich ihn wieder vergaß.


    "Einmal Hü und einmal Hott, ja dass ist der Ehetrott,
    einmal auf, zweimal ab, das hält jeden Mann auf Trab!
    Die Frau zerrt links, die Frau zerrt rechts,
    der Mann nach ihren Brüsten lechzt!
    Einmal oben, einmal unten, schon ist die Krise überwunden.
    Drum lasst euch die Ehe kein Übel sein,
    und wenn sie's doch ist, dann greift zum Wein!"


    Zum Glück hatte ich mich bezüglich Tuktuks magerer Reimkunst zurückgehalten, denn andernfalls wäre meine Bemerkung nun sicherlich zu mir zurück gekommen.

    "Dann bin ich beruhigt", lächelte ich freundlich, wobei ich ihr nicht das Gesicht zu wandte, sondern eher die Seite davon. Meine Nase auf sie zu richten, hatte ich in diesem Moment völlig vergessen. Ich rechnete damit, dass sie weiter ging, aber auf einmal drückte sie mir meinen Stock in die Hand, wobei ich für einen Moment ihre Finger berührte. Es waren nicht die zarten, weichen Hände einer Frau, die nichts tat, aber auch keine rissigen, schorfigen Hände, wie sie Menschen hatten, die den ganzen Tag damit arbeiteten, Färber, Wäscherinnen oder Wirte etwa. Sie mochte eine verheiratete Frau sein, mit einem Mann der verdiente, die den Haushalt führte und sich um die Kinder kümmerte, vielleicht gerade auf dem Weg das Getreide für das Abendessen zu kaufen. Vielleicht war sie auch eine Lupa, die um diese Uhrzeit keine Kundschaft hatte und sich um ihre Verdienstmöglichkeit, ihren Körper kümmerte, auf dem Weg zu den Thermen. Oder sie hatte einen kleinen Laden, auch wenn mir zu diesem Szenario keine plausible Erklärung einfallen wollte, weshalb sie um diese Zeit unterwegs war. Vielleicht war es aber auch ganz anders, ich wusste es nicht und es ging mich auch nichts an, trotzdem dachte ich beiläufig darüber nach.


    "Danke sehr!" Ihre Aktion war nicht selbstverständlich. Ich war in meinem Leben schon mit einigen Menschen kollidiert, das blieb nicht aus, auch wenn es bei weitem nicht so oft passiert, wie sich Sehende das manchmal vorstellen (weil sie selbst völlig unkoordiniert sind, sobald sie nichts sehen). Die meisten hasteten nach einer Entschuldigung direkt weiter, meist vermutlich nicht einmal realisierend, dass ich nichts sah, auch nicht, was ich vielleicht verloren hatte.
    "Das ist hier aber auch ein Gedränge" plauderte ich, ohne mir klar zu sein, weshalb. Vermutlich nur, weil Tuktuk noch nicht aufgekreuzt war und ich sonst nichts zu tun hatte. "Als würde man in einem Fluss schwimmen."

    Brutus' Eingeständnis und seine Zukunftsaussichten machten mir wieder einmal bewusst, wie einfach ich es hatte. An einen Claudius an sich wurden schon einige Erwartungen gestellt, aber bei dem Sohn eines Senators war es vermutlich noch schlimmer. Cultus Deorum, Cursus Honorum, Kultbruderschaften, politisches Kalkül hier, Familienpolitik da, und bei allem saß nicht nur die lauernde Verwandschaft im Nacken, sondern dazu auch noch die politischen Gegner. Ich konnte wirklich nicht behaupten, dass ich dieses Leben vermisste.


    "Wie alt bist du, Brutus?"

    Ich konzentrierte mich auf Serapios Summen. Er hatte ein schöne Stimme, melodisch, ein bisschen rau, aber sicherlich konnte er auch gut damit singen. In diesem Moment allerdings kam er aus dem Takt und fing noch einmal von vorne an. Bald summte ich mit, ohne das Lied zu kennen, im Versuch in die Melodie zu finden. Alle Lieder folgten einer Harmonie und bei vielen konnte man sich das Ende zusammen reimen, wenn man den Anfang kannte. Dann trommelte Serapio, und ich glaubte fast, dass ich das Lied vielleicht doch kannte, als er plötzlich die Frage nach meinem Sehvermögen stellte. Ich musste lachen. Ich konnte es einfach nicht zurückhalten. Die Frage kam auf einmal so unvermittelt zwischen das Summen und Trommeln, dass sie irgendwie grotesk war. Beinahe so, als müsste man sehen können, um summen zu können. Andererseits konnte ich es Serapio nicht verdenken, früher oder später kam sie immer, diese Frage.
    "'Nicht so gut' wäre noch eine Untertreibung. Ich sehe nicht das geringste, nicht einmal Licht und Schatten."
    Ich vermied es, von Schwärze oder Dunkelheit zu sprechen, denn um ehrlich zu sein, wusste ich nicht mehr genau, was es war. Ich konnte mich erinnern, mich anfangs vor der Dunkelheit gefürchtet zu haben. Aber das war alles schon so lange her, dass ich nicht einmal mehr wusste, ob meine Erinnerungen an das Sehen tatsächlich Erinnerungen an das Sehen waren oder nur etwas, wovon ich glaubte, dass so das Sehen gewesen war. Dennoch war mir war das Thema ganz und gar nicht unangenehm. Meine Blindheit war immerhin ein Teil von mir und es war für mich ganz natürlich, nichts zu sehen.


    Allerdings gab es etwas, das mir diesbezüglich unangenehm war, und da ich keine Acht darauf gehabt hatte, wohin meine Nase wies, keimte eine Befürchtung in mir auf. Ich wandte den Kopf ein Stück, so dass meine Augen Serapio nicht anschauten, egal wohin sie gerichtet waren.
    "Ich habe doch nicht etwa gestarrt, oder? Das tut mir leid, es war keine Absicht. Ich kann das nur schlecht koordinieren."
    Ich grinste ein bisschen verlegen. In der ersten Zeit als ich nichts mehr gesehen hatte, hatte ich immer versucht, mein Gegenüber anzublicken ohne es zu sehen, weil ich glaubte, dass dann niemand bemerken würde, dass ich blind war. Eines Tages aber hatte mir mein Onkel gesagt, ich würde starren, und das wäre ein ganz unguter Blick. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass es wie der böse Blick der alten Hexe Perictione war, die früher unter den Arkaden des Circus Maximus Flüche verkauft hatte, und manchmal für uns Kinder als furchterregende Drohung herhalten musste ('Wenn du nicht aufhörst bei Tisch zu zappeln, wird dich irgendwann noch der Blick der Perictione treffen!'). Deswegen hatte ich danach versucht, meine Augen nicht mehr meinem Gegenüber zuzuwenden. Mit der Zeit allerdings war mir der ganze Gedanke fremd geworden. Blicken und angeblickt werden lag nicht mehr in meinem Bewusstsein, und das eine war so schwer wie das andere. Wenn ich daran dachte, hielt ich meine Nase immer ein bisschen gesenkt, um nicht zu starren, allerdings doch immer in die Richtung meines Gegenübers, um anzuzeigen, mit wem ich sprach. Aber manchmal vergaß ich es einfach, denn im Grunde war es mühselig, und manchmal wollte ich mich auch einfach nicht in diese sehende Welt mit ihren ganzen Vorgaben einpassen, die überhaupt keinen Sinn mehr für mich ergaben.


    Die Getränke wurden auf dem Tisch abgestellt, wortlos, aber unüberhörbar. Irgendjemand schenkte ein, vermutlich Tuktuk, denn er stellte kurz darauf einen Becher vor mir ab.
    "Der Wein, njaatigi." Er klopfte mit dem Finger gegen den Becher, damit ich hören konnte wo er war.
    Ich tastete dennoch vorsichtig, denn es war zu laut, um mich nur auf mein Gehör zu verlassen. Außerdem wollte ich Serapio nicht noch verschrecken, indem ich den Wein über den Tisch kippte. Zugegeben, so etwas passierte mir wirklich selten, aber gerade spät am Abend, beziehungsweise früh am Morgen doch ab und an, auch wenn es so spät noch nicht war (das glaubte ich zumindest). Es war ein Tonbecher und ich spürte die Vertiefung einer Verzierung unter meinem Daumen. Da ich davon ausging, dass mein Sklave auch Serapio eingeschenkt hatte, hob ich schließlich den Becher.
    "Auf die Lieder aus allen Ländern des Erdkreises und darauf, dass sie uns niemals ausgehen mögen!"
    Zugegeben, ein etwas seltsamer Trinkspruch, aber es war zugegeben auch eine seltsame Nacht, irgendwie.

    Menecrates' Sohn war wieder in Rom? Dahin war mein Informationsgrad und ich musste wohl dringend mal mit Tuktuk sprechen. Wenn er das nächste Mal Informationen einholte, sollte er das in der Küche tun. Essen musste schließlich jeder irgendwann, so dass man dort immer über alle Bewohner des Hauses informiert sein sollte.


    "Onkel zweiten Grades, genau. Menecrates ist mein Vetter." Ich hoffte, damit nicht meine Lücken bezüglich der Familiengraduierung entblößt zu haben. Xte Grade waren mir immer viel zu mühsam gewesen, Verwandtschaft blieb Verwandschaft, und die Namen der Väter und Großväter sagten meiner Meinung nach genug aus.


    Ich dachte kurz über Sabinus' Worte bezüglich seines Bruders nach. An den Schwierigkeiten mochte etwas dran sein, immerhin waren wir in Rom. Dann allerdings riss er mich neuerdings aus meiner Ruhe.
    "Kultbruderschaft?" Ich hörte die Ungläubigkeit meiner eigenen Stimme, doch es war schon zu spät, um sie zu verbergen. Meinte er das ernst? Ich kramte in meinem Gedächtnis, wann das wohl gewesen war, dass wir uns zuletzt begegnet waren. Vielleicht wusste er es gar nicht, hatte es nie zur Kenntnis genommen. Warum auch, ich hatte schließlich nie viel Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Und wer es nicht wusste, der mochte nicht unbedingt bemerken, dass ich blind war.
    "Ich weiß nicht ...", sagte ich zögerlich, irgendein anderes Thema suchend, doch mir wollte keines einfallen.


    Brutus lenkte glücklicherweise mit seinen Überlegungen wieder die Aufmerksamkeit auf sich. Er war also auch dem religiösen Pfad gefolgt, ein durchaus ehrenvoller Weg für einen Patrizier.
    "Ich lebe üblicherweise in Ravenna", erklärte ich meine langjährige römische Abwesenheit. Ich schätzte Brutus auf nicht älter als zwanzig. Ich wusste, dass er jünger als seine Schwestern war, so dass ich ihn vermutlich nie zu Gesicht bekommen hatte.
    "In Rom bin ich etwa seit dem Frühjahr. Was treibt dich zurück nach Rom, Brutus? Hat man dich zurückbeordert?"
    Patrizier in irgendwelchen Provinztempeln werkeln zu lassen, war eine Verschwendung, ganz besonders, wenn es Claudier waren. Claudier gehörten nach Rom. Mich natürlich ausgenommen. Die einzige claudische Rolle, die mir zukam, war die eines willigen Ehemannes, wenn irgendwer eine Verbindung mit irgendeiner Familie brauchte, in der es nur Töchter gab. Ich hatte das schon zwei Mal hinter mich gebracht und würde es vermutlich wieder tun, auch wenn ich keinen großen Wert darauf legte.

    Es war Markttag in Rom und die Stadt platzte beinah aus allen Mauern. Aus dem ganzen Umland waren die Bauern angereist, um ihre frischen Waren anzupreisen, Obst, Gemüse und Fleisch - sowohl lebendes als auch totes, daneben die Fischer mit ihren Fluss- und Meeresfischen und -früchten. Dazwischen alle möglichen anderen italischen und Fernhändler mit allem, was der Mensch in Rom brauchte oder glaubte zu brauchen, angefangen von Verwertbarem wie Gewürzen, Süßigkeiten, Duftölen und Cremes, über Gebrauchs- und Alltagsdinge wie Kleidungsstücke, Schuhe, Geschirr aus Holz, Ton, Glas und Metall, kleinere Möbel, Sklaven, Lampen, Tücher und Decken, bis hin zu Tand und Nippes, der nicht unbedingt notwendig, aber für einen Römer jeder Klasse natürlich obligatorisch zum Leben dazu gehörte - Schmuck, kleine Statuen und Figuren, die wahlweise Götter, Helden oder Tiere darstellten, Blumen in Sträußen oder Kränzen, dekorative Vasen und Schalen, alle möglichen Arten von Anhängern und Medaillons, um Böses abzuwenden oder das Glück anzuziehen, und dergleichen mehr. Einen Teil der Waren konnte ich riechen, einen Teil hörte ich in Form der Händler, die ihre Vorzüge anpriesen und den Rest beschrieb mir Tuktuk in seiner phantasievollen Art, in der nervös scharrende Hühner zu dämonischen Wesen wurden, die mit ihren scharfen Klauen den Boden aufkratzten um sich durch ihren Käfig hindurch einen Tunnel in die Unterwelt zu graben, in der bunte Steine und stumpf glänzender Metallschmuck zum Geschmeide von Kaisern und fremdländischen Königen wurde, welches in Rom wohl an jeder Ecke zu erwerben war, und in der ein Stand mit Ölen zu einer Oase der Körperkultur heranwuchs, mit unzähligen Dosen und Pötten voller kostbarster Ingredienzen und Essenzen.


    Wir waren mitten in diesem Trubel, irgendwo in Rom, ohne noch zu wissen wo genau. Eigentlich wollte ich zu den Tempeln auf dem Kapitol. Ich hatte mich extra in Schale geworfen, denn vor den Göttern wollte ich nicht wie ein Tölpel dastehen, sondern wie der, der ich war, ein Claudius. Vor einem Opfer stand aber natürlich der Einkauf der Opfergaben und in meiner Naivität hatte ich geglaubt, wir könnten diese schnell auf dem Weg erwerben. Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass Rom nicht Ravenna war. Wenigstens hatte sich meine Nervosität in diesen Massen langsam gelegt und ich begann, die vielen Eindrücke zu genießen. Obwohl es im Grund viel zu viele Eindrücke waren, um sie alle auch nur halbwegs zu verarbeiten. Der markante Duft frisch gebackener Brote schwebte durch die Luft und ich glaubte eindeutig eingebackene Oliven darin mitschwingen riechen zu können. Mein Magen grummelte leise, obwohl ich am Morgen ausführlich gefrühstückt hatte. Ich drehte den Kopf und hatte kurz ein ziemlich aufdringliches Parfüm mit viel Bergamotte in der Nase, das mich diese instinktiv rümpfen ließ. Zwei Sklaven, Klienten oder Liktoren schufen schräg hinter mir Platz, vermutlich für eine Sänfte, allerdings nannten sie keinen Namen, sondern setzten sich mit unwirschem 'Platz da!' und 'Aus dem Weg!' durch. Tuktuk brachte mich aus dem Weg und wir blieben stehen.


    "Ich habe Hunger", sagte ich unvermittelt zu meinem Sklaven. "Wie wäre es mit einer Kleinigkeit zu Essen? Ich warte hier am Straßenrand, du besorgst etwas."
    "Was möchtest du?"
    "Egal. Schau einfach, was du findest."
    "In Ordnung, aber rühr' dich nicht vom Fleck, njaatigi."


    Ich löste meine Hand von seiner Schulter und Tuktuk wurde vom Gewühl des Menschen verschluckt. Leise Furcht keimte in mir auf, davor, dass er mich nicht mehr finden könnte und ich plötzlich allein mitten in Rom stand. Doch ich atmete tief ein und verdrängte den Gedanken mit den nächsten Gerüchen, die durch meine Nase zogen. Der Tag war bisher viel zu aufregend, um sich Gedanken über Eventualitäten zu machen, die sowieso nicht eintreffen würden. Tuktuk hatte mich noch nie irgendwo allein zurück gelassen.


    Ich drehte meinen Stock zwischen den Händen und versuchte ein paar Gesprächsfetzen aus der Umgebung aufzufangen, als plötzlich jemand gegen mich rannte. Die Berührung kam trotz der Menschenmenge so unvermittelt, dass ich vor Schreck den Stock fallen ließ und die Person bei der Schulter fasste, weniger aus Angst, selbst zu fallen, als dass ich sie aus dem Gleichgewicht gebracht hätte (ich hatte in meinem Leben schon so einiges zu Fall gebracht). Mehr als die Kollision erschreckte mich allerdings ihr ruppiger Tonfall.
    "Entschuldige, das war nicht meine Absicht!"
    Ich war zwar nur so herum gestanden, doch ich wusste nicht, ob ich nicht vielleicht doch irgendwie ungünstig im Weg herum stand oder durch eine unbedachte Gewichtsverlagerung in ihren Weg hinein geraten war.
    "Ich hoffe, es ist nichts passiert?" fragte ich ehrlich besorgt nach und ließ ihre Schulter wieder los, nur durch diese Berührung sicher, dass sie noch vor mir stand und nicht längst weiter gegangen war.

    Ich überlegte, wie lange meine Unterhaltung mit Verus schon her war. Die Zeit in Rom verflog ebenso, wie sie dahin schlich. Sabinus' Stimme drang nun von mir gegenüber an mein Ohr und ich vermutete, dass er sich ebenfalls gesetzt hatte. Mein Gesicht folgte daher dieser Richtung, auch wenn meine Nase wohl eher auf den Tisch wies.


    "Das ist schon wieder eine ganze Weile her, es war nicht allzu lange nach eurer Ankunft hier in Rom. Ich nehme an, er treibt seine Karriere voran. So etwas ist immerhin eine Menge Arbeit, wenn man sie selbst tun muss. Da sich Menecrates meines Wissens nach politisch nicht gerade sehr aktiv zeigt, wird Verus viel selbst tun müssen."
    Der weg in die religiösen Collegien hörte sich da schon um einiges einfacher an. Wenn es wirklich so einfach war, wie Sabinus erzählte.


    "Ich?" fragte ich dann etwas überrumpelt. Es kam nicht oft vor, dass man mich nach Plänen fragte. Obwohl ich mich längst daran gewöhnt hatte, nicht in das familiäre Schema zu passen, war es mir gerade gegenüber der Familie doch immer irgendwie unangenehm, es zuzugeben. "Ich habe nichts spezielles vor."


    Wo blieb nur Tuktuk mit dem Wein? Ich wollte gerade Sabinus' Frage nach meinem Befinden übergehen, um von mir abzulenken, und bezüglich des seinen genauer nachhaken, als eine neue Stimme ertönte. Derjenige, zu dem sie gehörte, saß anscheinend schon, und ich fragte mich, wie lange er dort wohl schon saß. Da ich auf das Gespräch mit Sabinus konzentriert war, hatte ich nicht auf die Geräusche um mich herum geachtet.


    "Salve", grüßte ich in Brutus' Richtung zurück, ein bisschen verwirrt über die neue Stimme, die zu keinem mir bekannten Bewohner dieser Villa passen wollte. Das war natürlich ein Umstand, den ich sofort beseitigen musste. "Ich glaube, wir sind uns noch nicht über den Weg gelaufen, zumindest könnte ich mich nicht daran entsinnen. Ich bin Tucca, Nero Tucca, Sohn des Tiberius Maximus."



    Sim-Off:

    Ich für meinen Teil habe es nicht eilig.

    Erst glaubte ich, dass es Verus war, der mich da so jovial begrüßte. Doch es war nicht ganz seine Stimme, so dass es sein Bruder Sabinus sein musste. Sonst kam niemand in Frage, denn Menecrates' Stimme kannte ich ebenfalls. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann genau ich Sabinus zuletzt getroffen hatte. Vermutlich war es auf einem sehr lange zurückliegenden Familienfest gewesen, denn gegensätzlich zu seinem Bruder war er nie mein Gast in Ravenna gewesen.


    "Salve, Sabinus!" grüßte ich zurück und erlaubte mir einen kleinen Scherz auf meine eigenen Kosten. "Hmh, gesehen habe seit etwa zwanzig Jahren niemanden mehr." Ein Grinsen ließ keinen Zweifel daran, dass ich das ganz locker 'sah'. "Aber nein, ich bin heute noch niemandem begegnet. Das passiert in dieser Villa sowieso selten. Wenn du mich fragst, verschluckt das Haus seine Bewohner und spuckt sie nur ab und zu für einen denkwürdigen Moment aus. So wie heute."


    Das mochte etwas merkwürdig klingen, aber so empfand ich es. Manchmal hatte ich mir schon überlegt, ob die Einwohner dieses Hauses nur nicht gesprächig waren und vielleicht ständig an mir vorüber gingen, ich sie nur nie bemerkte. Tuktuk hatte diese Idee allerdings verworfen, denn in seiner Begleitung trafen wir auch selten auf einen Claudier.


    Ich lehnte mich auf der Kline zurück. Zu Begrüßungen aufzustehen hatte ich mir vor langer Zeit abgewöhnt, es war einfach zu umständlich. Da ich nicht wusste, wohin Sabinus sich setzen würde, sprach ich etwa in die Richtung, in der er eben noch gewesen war.
    "Ich habe keinen Grund zu klagen, Rom gefällt mir sehr gut. Und wie geht es dir? Verus hat mir erzählt, dass er in die Politik einsteigen will, und du auch mit dem Gedanken spielst. Hast du dich schon entschieden?"

    Es war immer noch merkwürdig ruhig in der Villa. Vielleicht sogar noch ein bisschen ruhiger, seit Menecrates' Tochter Epicharis mit ein paar Sklaven ausgezogen war. Ich war deswegen dazu übergegangen, das öffentliche Nachtleben Roms zu erkunden. Das brachte mich meist schon zum Essen aus der Villa hinaus, so dass mir das pralle Familienleben am Abend entging. Ich wusste natürlich sowieso, dass dieses Leben nicht existierte. Mein Sklave Tuktuk kannte mittlerweile einige Sklaven im Haus und unser Informationsgrad war daher ziemlich hoch. Dass es tagsüber in der Villa ruhig war, war weiterhin nicht verwunderlich, und störte mich auch nicht, denn daran war ich gewöhnt. Eine kleine Familienzusammenkunft fiel jedoch völlig aus dem Rahmen des Familienlebens in dieser Villa. Einer der Arbiter-Brüder hatte anscheinend darum gebeten, aber Tuktuk wusste nicht, ob es Verus oder Sabinus gewesen war. Er wusste auch nicht, weshalb alle zusammenkommen sollten, und ich hoffte, dass es keine schlechten Neuigkeiten gab.


    Ein bisschen früher als gebeten machten wir uns zum Zentrum der Villa, dem Atrium auf. Obwohl ich nicht gerne wartete, kam ich noch weniger gern zu spät. Außerdem brachte mir das zu früh Kommen den Vorteil, dass ich mich ohne Aufmerksamkeit im Raum platzieren konnte, obwohl ich mich mittlerweile in der Villa auch schon recht gut auskannte. Meinen Stock hatte ich daher in meinem Cubiculum gelassen und ließ mich nur von Tuktuk durch die Gänge führen. Jedes Geräusch hallte durch die Stille, unsere Schritte auf dem Boden, unsere Worte und jedes Klappern oder Rumpeln in der Villa. Als wir uns dem Atrium näherten, drangen zudem ein paar Geräusche von außen durch die Öffnung des Compluvium.


    "Ist schon jemand da? fragte ich Tuktuk, als wir die Schwelle zum Atrium übertraten.
    "Nein, niemand zu sehen." Das schloss natürlich keine Sklaven ein, denn Sklaven waren immer überall.
    "Gut, bring' mich zu den Klinen und dann geh' mir einen Becher Wein holen. Wein, Tuktuk, kein Wasser."
    Er antwortete nichts, doch ich wusste schon, warum ich den Wein betonte. Wenn ich es nicht tat, kam er mit einem Becher Wasser zurück, der vielleicht kurz an der Weinkanne gerochen hatte und sich noch fern an den Duft erinnerte, in dem aber kein einziger Tropfen Wein gelandet war. So würde mir Tuktuk zwar keinen puren Wein bringen, aber es würde zumindest ein ordentlicher Schluck im Wasser sein.


    An den Klinen nahm der Sklave meine Hand von seiner Schulter und zeigte mir, wo die Sitzfläche war. Ab dort fand ich mich alleine zurecht, und Tuktuk machte sich auf, den ersehnten Wein zu beschaffen. Wer konnte schon wissen, wie lange diese Familienversammlung dauern würde, da wollte ich nicht auf dem Trockenen sitzen. Ich summte leise vor mich hin, während ich auf seine Rückkehr und auf die weiteren Bewohner der Villa wartete.