Menecrates schien mir ein bisschen durcheinander, doch ernsthafte Bedenken bekam ich erst, als er sich nach meinen Eltern erkundigte. Wie alt war er wohl? Er hatte schon erwachsene Kinder, das wusste ich. Gegen Ende seiner Zeit hatte mein Onkel, der mich in Ravenna aufgenommen hatte, die letzten Jahre komplett aus seinem Gedächtnis verloren. Er erzählte von seiner Frau und seinem Bruder, die schon seit Jahren tot gewesen waren, so als würden sie jeden Moment zur Tür hinein kommen, er regte sich über Staatsmänner auf, die längst unter den Göttern weilten, und berichtete über lange zurückliegende Ereignisse als wäre er gestern dabei gewesen. Vielleicht war Menecrates auch schon so weit und hatte einige Jahre aus seiner Geschichte gestrichen? Andererseits hörte er sich so alt noch nicht an. Die Stimme verliert an Kraft im Alter, wird rauer. Vielleicht konnte er mich auch einfach nur nirgendwo einsortieren. Konnte ich alle meine Vettern aufzählen, die Väter und Mütter dazu? Vermutlich nicht. Noch dazu hatte ich bisher immerhin auch keine sonderlich große Familienpräsenz gezeigt und meine Brüder hatten wohl kaum mit meiner Existenz geprahlt. Da ich merkwürdige Fragen durchaus gewohnt war, wenn sie sich auch sonst eher auf meine Blindheit bezogen, fiel meine Antwort recht locker aus.
"Ich wollte eigentlich schon vor den Parentalien in Rom sein, um am Grab meiner Eltern zu speisen. Allerdings hat sich in Ravenna der Winter dieses Jahr lange gehalten."
Um uns herum huschten Sklaven, vermutlich um die Anweisungen des Hausherrn auszuführen. Hinter mir klackte es als Geschirr auf einen Tisch gestellt wurde. Ich schnippte mit den Fingern und hob meine rechte Hand, unter die sich im nächsten Augenblick Tuktuks Schulter schob. Zuhause wusste ich genau, wo sich Möbel und Gegenstände befanden, und fand mich sehr gut allein zurecht. Doch in fremden Häusern war ich ohne Tuktuk schon nach dem ersten Schritt aufgeschmissen.
"Ich würde gerne eine Weile in der Stadt bleiben", platzte ich dann doch schon mit meinem Wunsch heraus noch bevor wir saßen.
Geduld war noch nie meine Stärke gewesen, außerdem war ich es gewohnt zu sagen, wenn ich etwas wünschte oder brauchte, denn oft blieb mir sowieso keine andere Möglichkeit. Natürlich würde ich auch irgendwo anders unterkommen können, aber daran hatte ich noch nicht gedacht. Außerdem würde es zugegeben schon ein merkwürdiges Licht auf die Sache werfen.
"Ich werde auch niemandem zur Last fallen, ich komme sehr gut alleine zurecht. Anspruchslos bin ich zudem auch, mir reicht sogar ein Zimmer ohne Fenster", fügte ich nicht ohne ein leichtes Grinsen hinzu.
Natürlich stand ich über den unkenden Stimmen, die mir meine Selbstständigkeit absprachen. Natürlich tat ich stets so, als würden ihre Worte spurlos an mir vorüber ziehen. Und natürlich entsprachen meine Worte der Wahrheit, denn Tuktuk zählte unter 'alleine', und mit seiner Schulter unter meiner Hand gab es kaum etwas, was ich nicht wie der Rest der Welt auch tun konnte - abgesehen vom Sehen. Doch leider haben viele Menschen die Angewohnheit, einem der nichts sieht, der sich deswegen vielleicht ein wenig unorthodox bewegt, gleich auch noch geistige Zurückgebliebenheit unterzujubeln. Ich würde das zwar hinsichtlich meiner eigenen Person nicht gänzlich ausschließen wollen, wer wusste schon, was sich damals noch alles in meinem Kopf verabschiedet hatte, und wer wusste, ob ich das selbst überhaupt bemerken würde, doch es wurde mir immer wieder von verschiedenen Seiten versichert, dass ich nicht dümmer war als der Rest der Menschheit auch.