Beiträge von Nero Claudius Tucca

    Menecrates schien mir ein bisschen durcheinander, doch ernsthafte Bedenken bekam ich erst, als er sich nach meinen Eltern erkundigte. Wie alt war er wohl? Er hatte schon erwachsene Kinder, das wusste ich. Gegen Ende seiner Zeit hatte mein Onkel, der mich in Ravenna aufgenommen hatte, die letzten Jahre komplett aus seinem Gedächtnis verloren. Er erzählte von seiner Frau und seinem Bruder, die schon seit Jahren tot gewesen waren, so als würden sie jeden Moment zur Tür hinein kommen, er regte sich über Staatsmänner auf, die längst unter den Göttern weilten, und berichtete über lange zurückliegende Ereignisse als wäre er gestern dabei gewesen. Vielleicht war Menecrates auch schon so weit und hatte einige Jahre aus seiner Geschichte gestrichen? Andererseits hörte er sich so alt noch nicht an. Die Stimme verliert an Kraft im Alter, wird rauer. Vielleicht konnte er mich auch einfach nur nirgendwo einsortieren. Konnte ich alle meine Vettern aufzählen, die Väter und Mütter dazu? Vermutlich nicht. Noch dazu hatte ich bisher immerhin auch keine sonderlich große Familienpräsenz gezeigt und meine Brüder hatten wohl kaum mit meiner Existenz geprahlt. Da ich merkwürdige Fragen durchaus gewohnt war, wenn sie sich auch sonst eher auf meine Blindheit bezogen, fiel meine Antwort recht locker aus.


    "Ich wollte eigentlich schon vor den Parentalien in Rom sein, um am Grab meiner Eltern zu speisen. Allerdings hat sich in Ravenna der Winter dieses Jahr lange gehalten."


    Um uns herum huschten Sklaven, vermutlich um die Anweisungen des Hausherrn auszuführen. Hinter mir klackte es als Geschirr auf einen Tisch gestellt wurde. Ich schnippte mit den Fingern und hob meine rechte Hand, unter die sich im nächsten Augenblick Tuktuks Schulter schob. Zuhause wusste ich genau, wo sich Möbel und Gegenstände befanden, und fand mich sehr gut allein zurecht. Doch in fremden Häusern war ich ohne Tuktuk schon nach dem ersten Schritt aufgeschmissen.


    "Ich würde gerne eine Weile in der Stadt bleiben", platzte ich dann doch schon mit meinem Wunsch heraus noch bevor wir saßen.


    Geduld war noch nie meine Stärke gewesen, außerdem war ich es gewohnt zu sagen, wenn ich etwas wünschte oder brauchte, denn oft blieb mir sowieso keine andere Möglichkeit. Natürlich würde ich auch irgendwo anders unterkommen können, aber daran hatte ich noch nicht gedacht. Außerdem würde es zugegeben schon ein merkwürdiges Licht auf die Sache werfen.


    "Ich werde auch niemandem zur Last fallen, ich komme sehr gut alleine zurecht. Anspruchslos bin ich zudem auch, mir reicht sogar ein Zimmer ohne Fenster", fügte ich nicht ohne ein leichtes Grinsen hinzu.


    Natürlich stand ich über den unkenden Stimmen, die mir meine Selbstständigkeit absprachen. Natürlich tat ich stets so, als würden ihre Worte spurlos an mir vorüber ziehen. Und natürlich entsprachen meine Worte der Wahrheit, denn Tuktuk zählte unter 'alleine', und mit seiner Schulter unter meiner Hand gab es kaum etwas, was ich nicht wie der Rest der Welt auch tun konnte - abgesehen vom Sehen. Doch leider haben viele Menschen die Angewohnheit, einem der nichts sieht, der sich deswegen vielleicht ein wenig unorthodox bewegt, gleich auch noch geistige Zurückgebliebenheit unterzujubeln. Ich würde das zwar hinsichtlich meiner eigenen Person nicht gänzlich ausschließen wollen, wer wusste schon, was sich damals noch alles in meinem Kopf verabschiedet hatte, und wer wusste, ob ich das selbst überhaupt bemerken würde, doch es wurde mir immer wieder von verschiedenen Seiten versichert, dass ich nicht dümmer war als der Rest der Menschheit auch.

    Als ich so im Atrium herumstand, kam mir der Gedanke, dass es vielleicht ein bisschen töricht gewesen war, um diese Zeit nach Menecrates zu fragen. Ich wusste, dass er Senator war, vielleicht war er gar nicht zuhause. Dann aber näherten sich feste Schritte. Menecrates oder ein anderer Claudier, Sklaven bewegen sich anders. Im nächsten Moment hatte ich auch schon eine Hand an meiner Schulter und eine freundliche Begrüßung im Ohr. 'Willkommen in Rom, Vetter!', das hörte sich an wie 'Lass' deine Truhen auspacken und bleib' solange du willst.' Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Merkwürdigerweise war das die Reaktion, mit der ich nicht wirklich gerechnet hatte, obwohl es eigentlich die war, weswegen ich überhaupt nach Rom aufgebrochen war.


    "Salve, Menecrates!"


    Anfangs habe ich versucht, dorthin zu schauen, wo ich die Gesichter, die Augen meines Gegenübers vermutete. Ich hatte geglaubt, sie würden dann nicht bemerken, dass ich nichts sah. Schwer ist es nicht, zumindest wenn das Gegenüber schon einen Ton von sich gegeben hat, denn für gewöhnlich liegen die Augen bei jedem Menschen nun einmal über dem Mund und auf welcher Höhe dieser ist, hört man schließlich, wenn man nicht auch noch taub ist. Doch irgendwann sagte mein Onkel zu mir: 'Das ist ein unguter Blick, der dir geblieben ist, mein Junge. Du stierst die Menschen an als wolltest du ihnen das Hirn durch die Nase ziehen.' Nichts lag mir ferner, darum versuchte ich es nicht mehr. Im Laufe der Jahre verlor ich dann allmählich mehr und mehr den Bezug zur visuellen Welt. Es erschien mir völlig belanglos, wo meine Augen hin blickten. Tuktuk sagt, ich schaue zumeist nach unten, drehe manchmal leicht den Kopf, so dass ein Ohr das Gesagte schneller aufnehmen kann, doch ich selbst habe das Gefühl dafür verloren. Ich habe auch das Gefühl für Mimik und Haltung verloren, obwohl ich zumindest versuche aufrecht zu stehen, wie sich das für einen Patrizier gehört. Doch wenn man nicht ständig auf Mimik und Haltung der anderen achtet, wenn sie nicht wichtig sind, die Erscheinung des Gegenübers zu komplettieren, dann geht einem auch an sich selbst das Bewusstsein dafür verloren. Manchmal merkte ich nicht, wenn ich lächelte oder wenn ich die Augenbrauen zusammen zog. Manchmal fragte mich Tuktuk, weshalb ich so ein böses Gesicht machte, dabei konzentrierte ich mich nur auf etwas, ein Geräusch, ein Geruch vielleicht. Oder eben auf mein Gegenüber, denn neben Worten kann man auch Gestik hören. Der Stoff der Kleidung reibt aneinander, bei ausladenden Bewegungen spüre ich den Luftzug, nicht zuletzt erzeugt die Bewegung selbst ein Geräusch und manchmal auch der Körper.


    In diesem Augenblick versuchte ich, mich ganz auf Menecrates zu konzentrieren und dabei nicht zu vergessen, weswegen ich eigentlich hier war. Doch ich wollte ihn nicht gleich überfallen.


    "Wie geht es dir, und wie geht es der Familie?"

    Tuktuk folgte dem Sklaven und ich Tuktuk, und weil ich jeden Schritt zählte, zog die Welt der Villa an mir vorbei, ohne dass ich viel davon mitbekam. Für schöne Dinge hatte ich auch keinen Blick. Im Atrium angekommen verließ uns der Türwächter und wir blieben stehen. Tuktuk sagte kein Wort und ich hörte in den Raum hinein. Das Wasser im Impluvium plätscherte sanft vor sich hin, links ein Stück in einen Gang öffnete sich eine Tür, eine zierliche Person trat heraus und entfernte sich vom Atrium. Eine Sklavin vielleicht, wer wusste das schon. Es würde vermutlich eine Weile dauern, bis ich all die fremden Gangarten zuordnen konnte. Vorausgesetzt, ich würde bleiben. Von der anderen Seite her schreckte mich auf einmal eine Frauenstimme aus meinen Überlegungen. Natürlich war man in einer patrizischen Villa nie allein, doch diese Villa war für mich ein großer, leerer Fleck und ich versuchte noch, mich halbwegs zu orientieren, so dass ich die leisen Schritte erst kurz vor der Frage vernommen hatte.

    "Nein, danke, ich habe keinen Durst."


    Die Wahrheit war das nicht unbedingt, aber meine Gedanken waren in diesem Augenblick nicht mit meinem Körper in Einklang. Ich hatte selten Probleme mit mir und meiner Welt. Sie war nun einmal so, wie sie war, und ich versuchte nicht ständig einen Sinn dahinter zu finden. Ich hatte nie das Gefühl, etwas zu verpassen. Doch es ist eine Sache, wie du dich selbst siehst - vor allem, wenn du dich sowieso nicht siehst -, jedoch eine ganz andere, wie andere dich sehen, vor allem die Familie, die Menschen, die um dich herum sind. In Ravenna hatte ich mich nie versteckt, doch wenn ich ehrlich war, hatte ich mich lange in Ravenna vor Rom und dieser Familie versteckt. Ich war ein mündiger Bürger, konnte auf mich selbst achten und brauchte niemanden, traf meine eigenen Entscheidungen. Trotzdem hatte ich die Befürchtung, sie würden mich wieder fort schicken, denn viele Menschen erlagen dem Irrtum, das Leben habe keinen Sinn, wenn man keinen visuellen Sinn mehr hat. Der einzige Nutzen, den ich für diese Familie hatte, war, dass ich nicht davor zurückschrecken würde, die hässlichste Frau der Welt zu heiraten, wenn man mich darum bat. Allerdings hatte ich mir vorgenommen, nie wieder zu heiraten, womit ich dann im Grunde völlig nutzlos war.


    So stand ich völlig nutzlos im Atrium, zögerte, nahm dann aber doch meine Hand von Tuktuks Schulter, der etwas zur Seite trat, womit ich nicht nur völlig nutzlos, sondern auch völlig hilflos im Raum stand. Natürlich würde ich mich umdrehen und meinen Weg zur Tür zurückverfolgen können. Doch jede verbale Aufforderung Platz zu nehmen, einem Sklaven zu folgen oder dem Hausherrn entgegen zu gehen würde mich vor ein nicht unbeträchtliches Hindernis stellen. Ich mochte diese Aussicht nicht. Doch ich vertraute darauf, dass Tuktuk wenn ich ihn brauchte genau da stand, wo er immer stand, wenn ich ihn brauchte, seitlich, ein Stück vor mir. Dennoch war mir unwohl. Nicht meinetwegen, sondern weil ich keine Ahnung hatte, wie Menecrates auf meinen Wunsch in Rom zu bleiben reagieren würde. Ich glaube, ich bin auf Menecrates Hochzeit gewesen, aber vielleicht war es auch eine andere. Vermutlich habe ich in meinem Leben mit der alten Vespa aus Ravenna mehr Worte gewechselt als mit meinem Vetter. Und die alte Vespa war in ganz Ravenna für ihre Schweigsamkeit bekannt.

    Ich folgte ihm ohne ein Widerwort. Immerhin war ich ein Patrizier und wir leisten keine Widerworte gegenüber Sklaven. Eine andere Wahl hatte ich nun sowieso nicht mehr, nachdem Tuktuk unseren Weg schon beschritt.


    Die ganze Reise über hatte ich mir ausgemalt wie diese Villa wohl sein würde. Als ich sie nun betrat, bekam ich kaum etwas davon mit. Die wohlige Wärme in ihrem Inneren umringte uns, doch meine Gedanken waren am Boden, zählten die Schritte bis zum Atrium.

    Als sich die Tür öffnete, schlich sich ein zarter Duft nach Rosmarin aus dem Inneren der Villa nach draußen und an meiner Nase vorbei. Ros marinus, der Tau des Meeres. Ich mochte nicht nur seine schmalen Blätter, die an den Rändern nach unten gerollt sind und auf der Unterseite mit einem weichen, filzigen Pelz behaart, sondern auch seinen intensiven Duft, der mich nicht nur an ein Bad oder eine Massage mit duftenden Ölen erinnerte, sondern auch an einen knusprigen Wildschweinbraten.


    Die Stimme des claudischen Sklaven war tief und freundlich. Meine Hand lag noch immer auf der Schulter meines Sklaven Tuktuk, der zum Glück immer einen Kopf kleiner als ich geblieben war, so dass ich spüren konnte, wie er sich ganz leicht nach vorne neigte, bevor er mich vorstellte.


    "Salve, mein Herr ist Nero Claudius Tucca. Er möchte zu seinem Vetter Claudius Menecrates."


    Obwohl Tuktuk weit aus dem Süden der Länder hinter Africa stammte und, wie mein Onkel mir gesagt hatte, schwarz wie die Nacht war, war seine Sprache mittlerweile beinahe völlig frei von jeglichem Akzent. Er stand immerhin schon ziemlich lange an meiner Seite.

    Was für eine Wucht diese Stadt! Ich hatte schon vor der Stadtmauer geglaubt, dass es intensiver nicht mehr geht, dass nicht mehr Töne und Gerüche in die Luft passen, doch was mich im Inneren Roms erwartete, übertraf dies bei weitem. Geschrei sauste zwischen den Vorhängen der Sänfte hindurch, Rufe von Fußgängern und Sänftenträgern, Gezeter alter Weiber, kreischende Kinder, fluchtende Alte, plappernde Frauen, politisierende Männer, feilschende Käufer, anpreisende Verkäufer, vor mir, hinter mir, an den Seiten und manchmal sogar über mir aus irgendeinem Fenster einer Insula heraus. Dazu der Dampf aus Garküchen, nach allerlei Essensorten, die ich nicht einmal zuordnen konnte, wahrscheinlich auch einiges darunter, was kein Essen war, ich aber trotzdem nicht zuordnen konnte, der Geruch jeden Handwerks der Welt dazwischen, in einem breiigen Wust aus dem nichts einzelnes mehr zu riechen war. Die Wucht der Sinneseindrücke erdrückte mich beinah unter sich, wie benebelt lag ich in den Kissen der Sänfte und ließ mich bereitwillig unter ihnen platt walzen - ich liebte diese Stadt jetzt schon!


    War sie früher auch so gewesen? Ich erinnerte mich nicht mehr. Alles, was mir geblieben war, war die Erinnerung an die Geborgenheit einer Villa, still und sicher. Wahrscheinlich war es nicht einmal eine Erinnerung, sondern nur ein Trugbild, ein kindlicher Wunsch. Tatsächlich näherten wir uns jedoch bald dieser Stille an, die Hektik um uns ebbte ab. Die Geräusche und Gerüche wurden weniger, unterscheidbarer, Schritte guten Schuhwerks auf gutem Pflaster gefolgt von nackten Sklavenfüßen, ein Tuch, das aus einem Fenster geschüttelt wurde, eine Decke vermutlich, ein blühender Forsythienbusch rechterhand, eine Sänfte linkerhand, vier Träger auf schnellen Füßen insgesamt, der eine Wolke aus Pfirsichwasserduft folgte. Dann wurden die Männer um mich herum langsamer.


    "Wir sind da, njaatigi."


    Da waren wir also. Ich hatte mir vorgenommen, völlig unbefangen und ohne Zögern an die Tür meines Zuhauses zu klopfen - oder beim Klopfen zuzuhören. Trotzdem schob ich die Vorhänge der Sänfte nur langsam zurück, setzte langsam meine Füße auf die unbekannte Straße und suchte langsam Tuktuks Schulter vor mir. Ich hatte es auf einmal nicht mehr eilig. Eigentlich könnten wir uns erst noch ein bisschen die Stadt ansehen, Tuktuk würde mir die großartigen Bauwerke, von denen ich so viel gehört hatte, mit prächtigen Worten beschreiben, wir würden über die Märkte schlendern und Eindrücke in uns aufsaugen wie ausgedörrte Schwämme. Doch Tuktuk setzte sich schon in Bewegung und ich, ohne darüber nachzudenken, hinterher.


    "Zwei Stufen."


    Zwei Stufen, dann stoppte er schon wieder. Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu sagen, ihn abzuhalten, doch Tuktuk klopfte schon an die Türe. Also schwieg ich.