Dass Verus erst seit einem Tag in Rom war, erklärte zumindest, warum Menecrates nichts von ihm gesagt hatte. Ich folgte ihm zu den Klinen, von denen ich die erste Kante schon nach ein paar Schritten mit dem Stock fand. Es ärgerte mich, dass ich ihnen so nah gewesen war, vermutlich war ich nur einmal nach rechts statt links. Hätte mir Tuktuk nur den Weg beschrieben, hätte ich es auf ihn geschoben, denn Tuktuk hatte schon immer Schwierigkeiten mit Rechts und Links gehabt. Allerdings war ich den Weg selbst mit ihm gegangen und hatte die Schritte gezählt. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich schon ziemlich lange keine neuen Wege mehr beschritten hatte. In Ravenna kannte ich mich längst aus und wenn ich einmal aus der Stadt raus gekommen war, dann nie lange genug als dass es nötig gewesen wäre, mir Wege zu merken.
"Nachdem wir nicht vorhaben, ein gesellschaftliches Ereignis aus unserem Gespräch zu machen, ist mir der Platz völlig gleich."
Ansonsten legte ich durchaus Wert auf meinen Platz, vor allem außer Haus. Ich stand in der Ämterhierarchie natürlich ganz unten, doch ich war ein Claudius und hatte eine der großartigsten Familiengeschichten, die ein Römer haben konnte. Meine Vorfahren hatten Rom und dem Imperium viel von seiner Pracht gegeben. So viel, dass es auch auf mich noch nachwirkte und mich in den meisten Fällen vor einem Platz am Ende der Klinen bewahrte - zumindest in Ravenna. Vielleicht hätte ich nicht ganz so viel Wert darauf gelegt, wenn es mir nicht gleichzeitig auch einen Vorteil bei der Unterhaltung geboten hätte. Vor allem bei regen Tischgesprächen war es einfacher für mich, mich mit jemandem direkt neben mir zu unterhalten, als von irgendwo auf der anderen Seite des Tisches die Stimme meines Gesprächspartners aus den anderen Gesprächen herauszufiltern.
Ich löste meinen Arm von Verus und fuhr mit der Hand den Stock entlang nach unten bis ich die Kline berührte. Dann prüfte ich den Platz nach rechts und links, bevor ich mich setzte und den Stock vor die Kline auf den Boden legte. Nachdem auch Verus Platz genommen hatte, ergriff ich das Wort.
"Ich bin auch erst vor ein paar Tagen angekommen. Um ehrlich zu sein, mir ist in Ravenna die Decke auf den Kopf gefallen. Nautius Carbo ist letzten Winter über den Styx gesegelt, so dass die gesellschaftlichen Großereignisse in diesem Jahr rar werden."
Carbo hatte hinter vorgehaltener Hand den Beinamen Caesar Ravennae getragen und sein Vermögen in das Allgemeinwohl der städtischen Oberschicht gesteckt. Seine Gelage waren legendär gewesen, sein Ende nicht ganz unerwartet. Dennoch hatte es uns alle getroffen und in einem erlahmten Alltag zurück gelassen.
"Ein Philosoph aus Rhodus, den ich für den Mai eingeladen hatte, hat kurzfristig abgesagt, weil er einen Ruf nach Athen bekommen hat. Und Servilius Ruso hat sich in den Kopf gesetzt, die nächsten Jahre Ägypten zu bereisen, so dass ich zwar interessante Berichte von dort erhalte, mir allerdings nicht nur ein Ludus Latrunculorum-Gegner fehlt, sondern mit ihm auch das Leitpferd zum Ausreiten. Deswegen hielt ich es für eine äußerst gute Idee, endlich doch noch einmal Rom zu besuchen und meiner Verwandtschaft ein bisschen auf die Nerven zu fallen."
Ich grinste ein wenig schief.
"Ich muss allerdings gestehen, dass ich mir die Stadt lange nicht so groß vorgestellt habe. Ich war bei einem Theaterstück zu den Megalesia. Das Stück war wirklich gut, aber ich habe noch nie so viele Menschen auf einem Haufen erlebt."
Obwohl mir das Treiben in der Stadt wirklich gut gefiel, war ich mir noch nicht sicher, wie lange ich es aushalten würde. Natürlich konnte ich immer auf Tuktuk vertrauen, doch ich legte auch Wert auf meine Selbständigkeit. Momentan konnte ich mir allerdings nicht vorstellen, in Rom jemals irgendwo hin allein zu gehen.
"Aber nun sag schon, Verus, warum bist du hier? Hast du dein Studium abgeschlossen oder wirst du bald wieder nach Athen zurück kehren?"
Mit einem Mal drehte sich mein Kopf zur Seite, so dass mein Ohr in direkter Linie zu Verus lag. Es war eine unbewusste Reaktion, weil ich so nun einmal mein Gegenüber am besten hörte. Ich versuchte es normalerweise zu vermeiden, da es durchaus als unhöflich angesehen werden konnte. Es erweckte oftmals den, allerdings falschen, Eindruck, ich würde mich abwenden. Aber manchmal, wenn ich erstaunt oder überrascht war, vergaß ich es. Im Moment war ich überrascht über den Gedanken, der mir eben gekommen war. Verus war nun etwa so alt wie ich damals, als meine erste Ehe geschlossen worden war.
"Du bist doch nicht etwa nach Italia gekommen, um zu heiraten?"
Eine Hochzeitsfeier in Rom wäre genau nach meinem Sinn.