Axilla lag auf ihrem Bett auf der Seite und starrte vor sich hin. Man hatte ihr eine frische Tunika angezogen und ihr die Arme verbunden. Nicht, dass letzteres nötig gewesen wäre. Sie hatte sich blutig gekratzt, aber dennoch waren es nur Kratzer. Es würden keine Narben zurückbleiben. Als Kind hatte sie sich schlimmer aufgeschrappt, wenn sie auf dem Kiesweg vor dem Haus hingefallen war. Obwohl der Verband dünn war, nässte er nicht einmal richtig durch. Axilla schätzte, dass sie das eher davon abhalten sollte, weiter zu kratzen. Sie atmete tief und resignierend durch, während sie ein wenig an dem Verband zupfte.
Hinter ihr ging leise die Türe auf. Ein paar zaghafte Schritte in ihr Zimmer rein, ganz vorsichtig und leise. Axilla wandte ganz leicht den Kopf, ohne sich wirklich herumzudrehen, um zu zeigen, dass sie nicht schlief und diese Schleicherei somit unnötig war. “Herrin? Ich habe dein Kleid gewaschen und geglättet.“ Liora, die sich hier im Haus um die Schlafzimmer und Kleidung der Herrschaften kümmerte, sprach ganz sanft und leise.
Axilla schloss kurz die Augen und hörte auf, an dem Verband herum zu zupfen. “Verbrenn es“, sagte sie ganz ruhig und beinahe abwesend, als sie eine Entscheidung gefasst hatte. Sie wollte das Ding nicht mal mehr sehen, geschweige denn anziehen.
“Aber Herrin, die schöne Seide hat doch ein Vermögen gekostet! Sie ist auch wie neu, und ganz glatt. Ich habe sie ganz gründlich gewaschen.“
Jetzt drehte Axilla doch den Kopf und setzte sich halb auf, stützte den Oberkörper auf einen Ellbogen. “Liora? Verbrenn es.“ Immernoch ganz ruhig und entsetzlich gefasst. Einzig ihr Blick,d er auf dem Kleid zu ruhen kam, sprach von Ekel. Nein, sie wollte es wirklich nicht mehr sehen.
“Ja, domina. Sofort, domina“, meinte die Sklavin und entfernte sie, ließ Axilla wieder allein.
Sie lehnte so eine Weile auf der Seite, starrte vor sich hin, ohne etwas zu sehen. Und atmete einfach nur. Ruhig. Ein. Aus. Die Gedanken waren gekommen und wieder gegangen und hatten nur eine stumme Resignation zurückgelassen. Was sollte sie tun? Sie wusste es nicht.
Ihr Blick klärte sich, und wie durch Fügung sah sie die Rüstung ihres Vaters da stehen, so gepflegt und poliert wie immer. Das einzige im Zimmer, auf das Axilla wirklich immer achtete. Und Tränen kamen ihr bei dem Anblick hoch, als sich ein dicker Klos in ihrem Hals bildete. Sie stand auf, ging die zwei Schritte hinüber und ließ sich vor der Rüstung auf die Knie fallen. “Was soll ich machen? Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht“, jammerte sie mit piepsiger Stimme und sah flehentlich zu dem Helm mit dem schönen Rosshaar hinauf. Was hätte sie jetzt darum gegeben, dort das Gesicht ihres Vaters zu sehen. Und gleichzeitig ängstigte sie nichts mehr als die Vorstellung, ihr Vater könnte sie jetzt sehen. Verzweifelt und am Boden, von einem Mann, der nicht ihr Ehemann war, genommen. Und sie hatte NICHTS getan, um das zu verhindern. Gar nichts. Axilla widerte sich selber an. Und Tränen der Verzweiflung rannen ihr über die Wangen. “Bitte sag mir, was ich machen soll. Bitte. Ich weiß es nicht.“
Wie lange sie flehentlich und schluchzend die Rüstung anstarrte, wusste sie nicht. Irgendwann wanderte ihr Blick tiefer, als sie es nicht mehr auszuhalten glaubte. Sie wusste, sie würde keine Antwort von der Rüstung ihres Vaters erhalten, so sehr sie es sich auch wünschte. Und just da, als sie aufgab, sah sie das Schwert.
Natürlich war es da. Es war immer da. Axilla wurde wahnsinnig, wenn es nicht da war. Aber jetzt fiel es ihr entsetzlich klar auf, als hätte sie es zuvor nie wirklich gesehen. Aber es war da, wie eine drohende Antwort auf ihre Frage.
Mit zittrigen Fingern griff Axilla nach dem Heft. Sie kannte den Griff gut, hatte es tausende Male in der Hand gehabt. Das Leder, das zur besseren Griffigkeit darum geschlungen war in feinen Streifen, den Knauf, der das Gegengewicht zur kurzen, scharfen Spitze bildete. Sirrend kam es aus seiner Scheide, und die Schneide leuchtete silbern im Licht.
Axilla wusste, dass das der nobelste Ausweg war. Eigentlich sogar der einzig richtige. Gerade für eine Iunia. Ihre Familiengeschichte war so verwoben mit der der römischen Republik. Sie wusste nicht, wie oft sie die Geschichte von Livius gelesen hatte. Hatte lesen müssen, während ihr die Geschichte der ruhmvollen Iunier wieder und wieder erzählt worden war.
“Obwohl ich mich von der Schuld freispreche, spreche ich mich nicht von der Strafe frei. Keine unkeusche Frau soll in Zukunft leben und sich auf Lucretias Beispiel berufen...“, murmelte sie die Zeilen, die die edle Lucretia gesagt haben sollte, ehe sie sich selbst erstochen hatte. Auch sie war gegen ihren Willen genommen worden und hatte es über sich ergehen lassen, weil sie sonst schlimmeres fürchtete.
Axilla nahm das Schwert und setzte es sich unter den Rippen an. Es war so schöner Stahl, und sie hatte ihn gut behandelt. Es würde nicht sehr weh tun. Die Klinge war scharf. “Noch während sie trauerten zog Brutus das Messer aus Lucretias Wunde, und während er es bluttriefend vor sich hielt, sagte er: "Bei diesem Blut, überaus rein vor der Freveltat des Königssohnes, schwöre ich, und Euch, Ihr Götter, rufe ich zu Zeugen, dass ich den Lucius Tarqunius Superbus vertreiben werde, zusammen mit seinem verfluchten Weib und der ganzen Brut, mit Feuer und Schwert und jedem Mittel, das in meiner Macht steht, und ich werde nicht dulden, dass sie oder irgend jemand sonst Rom als König regiert."....“ zitierte sie weiter aus Livius Werk, und Tränen rannen weiter über ihre Wangen. Es war nur eine kurze Bewegung. Sie musste nicht einmal etwas tun, nur sich nach vorne fallen lassen. Den Rest erledigte die Schwerkraft. Sie musste nur... sie musste...
Mit einem verzweifelten Aufheulen schob Axilla die Klinge von sich, so dass sie auf dem Boden schepperte, und schlug sich die Hände vors Gesicht. “Ich kann das nicht!“ schrie sie verzweifelt aus und heulte einfach weiter. Die Tür hinter ihr ging auf, und wer immer hereinkommen wollte, wurde mit einem “HAU AB!“ davongescheucht. Sie wollte niemanden um sich haben, nicht jetzt. Sie saß auf dem Boden und weinte einfach, schluchzte, dass ihr ganzer Körper davon gebeutelt wurde. Sie konnte sich nicht umbringen. Und es würde sie auch niemand rächen. Sie hatte keinen edlen Ehemann und Vater, die losziehen würden, sie zu rächen. Beide waren tot, tot, tot. Sie war allein. Und sie durfte nicht sterben. Sie konnte nicht sterben! Nicht, bevor sie einen Sohn geboren hatte, der den Namen ihres Vaters ehren würde. Sie durfte und konnte nicht zulassen, dass ihr Vater als namenloser Schatten in der Unterwelt lebte, bis er in der Lethe verging. Das ging nicht.
Und sie war so hungrig nach dem Leben! Sie liebte das Leben. Sie konnte das einfach nicht aufgeben, auch wenn es das einzig richtige war. Sie KONNTE nicht!
Resignierend wiegte sie langsam den Kopf, als keine Tränen mehr kamen. Das Schwert lag noch auf dem Boden, und mit zittriger Hand hob Axilla es auf, um es wieder zu verräumen. Sie konnte das jetzt nicht. Vielleicht später. Aber sie konnte das auch nicht allein. Schwankend stand sie auf und ging zu dem Tischchen in ihrem Zimmer, holte die Wachstafeln hinaus. Sie musste irgendwas tun. Sie brauchte Hilfe.