"Dieses Jahr des Friedens war aus vielerlei Hinsicht für mich ein besonders glückliches Jahr. Korruption und Kriminalität waren, wie schon gesagt, deutlich gefallen und durch meinen zweiten Sieg gegen die Barbaren hatte ich auch noch mehr an Ansehen gewonnen. Außerdem konnte ich mich ein wenig der Stadtentwicklung widmen. Ich ließ zunächst den Statthalterpalast renovieren. Der hölzerne Palast war in etwa so groß wie euer Haus hier, also ist der Begriff "Palast" vielleicht etwas irreführend. Ich benutze ihn aber trotzdem weiter. Der Palast hatte zwei Innenhöfe. Einen zwischen dem Eingang und der großen Halle und einen zwischen der großen Halle und meinen Privatgemächern. Um den äußeren Hof waren die Officia der Beamten angeordnet. Jedenfalls ließ ich den Palast komplett renovieren, also vor allem das Holz neu lackieren und ein paar Vasen aufstellen und Kalligraphien berühmter Texte aufhängen. Außerdem ließ ich den Ahnentempel der Statthalter renovieren und stellte dort einen kleinen Schrein für meine Ahnen und die Ahnen meiner Frau auf. In der Stadt ließ ich den Markt erneuern und die Straßen pflastern und so wurde Stück für Stück aus der Provinzstadt nahe der Grenze ein recht guter Ort zum Leben. Die Barbaren handelten auch mit uns, anstatt uns zu überfallen, und das alles machte mich auch bei den Bürgern beliebt.
Um mein Glück perfekt zu machen, war meine Frau schwanger. Was kann es schöneres geben als eine Familie zu gründen? Wäre es so geblieben, hätte ich dort bis an mein Lebensende bleiben können."
Ich trank einen kleinen Schluck.
"Aber so blieb es leider nicht. Der Provinzstatthalter, mein Mentor, wurde nach zehn Jahren treuer Dienste versetzt, und zwar nach Panyu am anderen Ende des Reiches. Das ist dort üblich, damit man sich keine Machtbasis aufbaut und dem Kaiser gefährlich wird. Es war schon etwas Besonderes, dass er überhaupt zehn Jahre Statthalter war. Normal sind höchstens fünf. Sein Nachfolger war, so wie ich, ein entschiedener Gegner der Korruption und wir verstanden uns von Anfang an recht gut. Insofern war blieb alles gut. Auch als mein Schwiegervater ein neues Kommando erhielt, nämlich 1000 Meilen weiter östlich, war noch alles in Ordnung. Natürlich wagten sich meine Feinde nicht vor, so lange mein Schwiegervater binnen einer Woche mit 30.000 Mann vor der Stadt stehen konnte, aber auch, als er weg war, fürchteten sie um meine guten Kontakte zu den Truppen und zum Provinzstatthalter. Beides zusammen war zu gefährlich für sie. Natürlich hatte ich Feinde, denn der Kampf gegen Korruption und Kriminalität machte für sie das Leben ziemlich unangenehm.
Schwierig wurde die Situation erst, als meine Frau bei der Geburt meines Sohnes starb. Mein Sohn starb am Tag darauf. Einige meiner Feinde streuten das Gerücht, dass dies ein Zeichen der Götter war. Sie sahen jetzt die Zeit zum handeln gekommen. Insgeheim stachelten sie die Barbaren gegen mich auf und ermunterten sie zu einem Angriff auf die Stadt. Sie taten das, weil ich in den ersten beiden Schlachten die schlechte Eigenschaft hatte, ganz vorne bei meinen Truppen mitzukämpfen. Sie hofften, dass ich so in der Schlacht getötet würde und sie mich loswürden. Womit sie nicht gerechnet hatten, war, dass ich von den Angriffsplanungen der Barbaren erfahren hatte - dank meinen Spionen. Deshalb griff ich die Barbaren an, als ihre Anführer noch ihren Angriff planten. Ich schaffte es, die Anführer gefangen zu nehmen und sie nannten mir die Verräter, die ich dann sofort hinrichten ließ. Diesmal war ich aber zu hart in der Bestrafung, weil ich ein altes Gesetz anwendete, das auch die Hinrichtung der Familien erlaubte. Ich bin mir nicht sicher, warum ich diese Härte an den Tag legte, aber ich denke, dass die Trauer über den Tod meiner Frau und meines Sohnes und der Zorn darüber, dass sie es wagten, den Tod meiner Frau und meines Sohnes gegen mich zu verwenden, mich dazu brachten. Hinterher hatte ich es bereut, aber mein Ansehen unter den Bürgern der Stadt war deutlich gesunken. Vorher verehrten sie mich, jetzt fürchteten sie mich."
Man merkte mir an, dass ich meine Entscheidung von damals bereute. Sie fügte mir immer noch seelische Qualen zu, obwohl es nun mehr als fünf Jahre her war. Vielleicht verstand Axilla jetzt, warum ich mir selbst nicht verzeihen konnte. Vielleicht verstand sie jetzt, warum ich mich für einen schlechten Menschen hielt.
"Ich hätte die Hinrichtung der Familien noch verhindern können, aber dann hätte ich meine Glaubwürdigkeit verloren. Ein Jínshí hat seine Befehle immer gut durchdacht, deshalb irrt er sich nicht. Ich war éin Jínshí. Ich bin es noch immer."
Meine Worte klangen traurig und ein wenig trotzig zugleich. Meinen inneren Zwiespalt konnte ich nicht verbergen.