Beiträge von Marcus Achilleos

    Ich war dem Sklaven gefolgt und stand nun am Eingang des Perystiliums. Ohne zu warten, dass Axilla aufstand, tat ich, was ich so noch nie getan hatte. Ich fiel auf die Knie und verbeugte mich dann, mit den Händen auf dem Boden, bis meine Stirn etwa eine Hand breit über dem Boden war. Einse solche Geste der Unterwerfung hatte ich das letzte Mal vor dem Kaiser von Han gemacht, als ich zur höchsten Prüfung im Palast von Luoyang war. Ansonsten war eine solche Verbeugung auch höchst ungewöhnlich. Höchstens, wenn ein Schüler etwas ziemlich angestellt hatte und sich bei seinem Meister entschuldigen wollte. Das war hier zwar nicht der Fall, aber zumindest war es eine Lektion in Demut für mich. Ich sagte nichts, sondern wartete darauf, dass ich angesprochen wurde.

    Ich wartete, bis der Ianitor wieder die Tür öffnete. Ich erwartete, nein, ich hoffte, dass Axilla mich nicht sehen wollte. Das hätte es einfacher gemacht. Ich hatte mich schon lange nicht mehr entschuldigt. Als die Tür wieder geöffnet wurde, sah ich den Ianitor erwartungsvoll an.
    "Nun?"

    Bin Doktorand in einem theoretischen Fach. Und wenn man sowieso die ganze Zeit vorm PC hängt, programmiert und den HPC quält, kann man zwischendurch auch mal ins IR schauen ;) Zumal ich sowieso 70-80 Stunden pro Woche arbeite, wenn ich alles aufsummiere. (Zitat eines Professors, der inzwischen im Ruhestand ist: "Der Tag hat 24 Stunden. Wenn die nicht reichen, nehmen Sie die Nacht dazu!")

    Ich verbeugte mich.
    "Chaire. Wärest du bitte so freundlich und würdest der ehrenwerten Iunia Axilla ausrichten, dass Marcus Achilleos es sehr bedauert, wie er sie gestern behandelt hat und an der Tür steht, um sich zu entschuldigen."

    Vom Sonnentor aus war ich schnurstracks zurück zum Museion gegangen. Hier, in meinem Zimmer, legte ich das Sutra auf den Tisch und stellte das Schwert in eine Ecke. Dann entledigte ich mich meiner Jacke und meines Hemdes und wusch mich, um mich danach neu einzukleiden. Die Kleidung sah aus wie die, die ich zuvor getragen hatte, nur dass sie jetzt sauber war. Danach setzte ich mich an den Tisch und goss mir Wasser aus einer Karaffe aus Ton in einen Becher des gleichen Materials. Das Wasser war zwar lauwarm, aber Hauptsache irgend etwas zu trinken.

    Dem Gewicht nach zu urteilen war die Kanne halb leer und den Temperaturen nach war die Sonne schon fast auf ihrem höchsten Stand. Da ich nun seit fast 24 Stunden nichts mehr gegessen und eigentlich zu wenig getrunken hatte, beschloss ich, dass es an der Zeit wäre, zurück nach Alexandria zu gehen. Doch etwas musste ich noch ausprobieren. Ich warf die Kanne hoch in die Luft und als sie wieder herunter fiel trat ich nach ihr, als sie auf der Höhe meines Kopfes war. Mit einem lauten Scheppern zersprang sie in Scherben und setzte das restliche Wasser in Form lauter kleiner Tropfen frei, als mein Fuss sie traf.
    Wirklich erfrischend waren die Tropfen nicht, das hatte ich mir anders vorgestellt. Aber meine Kampftechnik war immer noch gut. Ich sammelte das Sutra und das Schwert auf und ging nach Alexandria.

    So langsam wurde mir die Sonne zu warm. Also stand ich auf, nahm Kanne, Schwert und Sutra und ging in den Schatten eines Johannisbrotbaumes. Dass jemand ganz in meiner Nähe war, bemerkte ich nicht.
    Im Schatten des Baumes war es schon viel angenehmer. Ich nahm einen kleinen Schluck Wasser, bevor ich mein "Gepäck" neben den Baumstamm stellte. Das Schwert lehnte ich dabei aufrecht an den Stamm, so dass ich es im Zweifelsfall schnell greifen konnte. Einen Moment lang überlegte ich, mich hinzusetzen, doch dann hielt ich es für besser, meinem Körper etwas Bewegung zu geben.
    Ich stellte mich stabil hin und atmete, wobei ich das Chi durch einen Körper strömen ließ. Dann begann ich, mit langsamen, fließenden Bewegungen Schläge und Tritte zu üben, wobei ich stets auch auf die Beinarbeit achtete. In zehnfacher Geschwindigkeit ausgeführt, wären es gefährliche Fauststöße, Handkantenschläge, Abwehrschläge und Tritte. Aber das war nicht Sinn der Übung. Sinn der Übung war es, das Chi durch meinen Körper fließen zu lassen. Und so sah es aus, als würde ich in Zeitlupe gegen unsichtbare Gegner kämpfen. Gleichzeitig sahen diese ineinander fließenden Bewegungen auch sehr elegant aus, fast wie ein Tanz.
    Ich übte fast zwei Stunden lang, nur unterbrochen durch einen Schluck Wasser, den ich hin und wieder aus der Kanne nahm.

    Nach einiger Zeit spürte ich meine Beine nicht mehr. Ich musste schon ein paar Stunden hier sitzen. Durch die tiefe Meditation hatte ich von meiner Umgebung kaum noch etwas bewusst wahrgenommen. Selbst das ständige Rauschen der Brandung hatte ich, wenn überhaupt, nur noch unbewusst wahrgenommen. Ich legte mich auf den Rücken, um die Beine zu strecken und zu bewegen, damit ich wieder Gefühl in sie bekam. Dabei musste ich zwangsläufig auf den Sternenhimmel blicken. Ich war immer wieder erstaunt, wie schön doch die funkelnden Sterne waren und wie viele von ihnen am Firmament hingen. Ein kurzes Lächeln huschte mir übers Gesicht, das aber sofort aufhörte, als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss. "Unbedeutend! Das alles ist völlig unbedeutend!" Dafür kam mit dem Gefühl vor allem eins in meine Beine: Schmerz. Doch auch der war unbedeutend.
    Nachdem ich eine ganze Weile mit meinen Beinen gewackelt hatte, gehorchten sie meinen Befehlen und ich stand auf, um einige Schritte zu gehen. Mein Schwert hob ich zur Sicherheit auf, man konnte ja nie wissen, wer einem so alles bei Nacht begegnete - von wilden Tieren mal ganz zu schweigen. Aber hier war nichts. Der Strand war ruhig.
    Ich ging hundert Schritte in die eine Richtung und dann hundert Schritte wieder zurück. Dann setzte ich mich wieder im Lotussitz hin und meditierte weiter.
    Nach ein paar weiteren Stunden wiederholte ich die Prozedur. Danach hielt meine Meditation an, bis ich von der aufgehenden Sonne abgelenkt wurde. Ich stand mühsam auf. Meinem Kreislauf hatten die langen Meditationsphasen und der Schlafmangel ganz schön zugesetzt, was ich daran merkte, dass mir ganz leicht schwindelig war. Ich betrachtete den Glutofen, der sich schnell im Osten erhob. Als ich mich wieder setzte, öffnete ich die Kanne und trank einen Schluck Wasser. Immerhin hatte ich die ganze Nacht nichts getrunken. Meine Beine hatte ich ausgestreckt und sah auf das Meer. Im Sand vor mir bemerkte ich einen Skorpion, der am Strand scheinbar nach Nahrung suchte.
    "Guten Morgen, kleiner Freund," sagte ich leise und sanft und schenkte dem Krabbeltier ein freundliches Lächeln. War ich verrückt geworden? Den Skorpion kümmerte das wenig. Er krabbelte weiter den Strand entlang. Ich beschloss, ein wenig über diese Begegnung zu meditieren und setzte mich wieder in den Lotussitz.

    Nach meinem idiotischen Verhalten am Tor des Königsviertels war ich erstmal zurück zu meinem Zimmer gegangen. Ich kramte in meinen Sachen und holte schließlich ein Sutra hervor. Ich hatte es das letzte Mal in Indien gelesen, doch nun wollte ich mich damit ausführlich beschäftigen. Ich nahm also diesen Text, gürtete mein Schwert um und nahm noch eine verschlossene Tonkanne mit Wasser. So ausgerüstet, verließ ich das Museion und verließ die Stadt, um an der Küste zu meditieren.

    Nachdem ich an einem abgelegenen und einsamen Küstenabschnitt östlich von Alexandria angekommen war, stellte ich die Kanne mit dem Wasser rechts von mir in den Sand, legte mein Schwert links von mir in den Sand und ließ mich im Lotussitz nieder. Dann legte ich das Sutra vor mich in den Sand und begann es zu lesen. Ich schaffte es gerade noch, im letzten Restlicht der Dämmerung das Sutra zu Ende zu lesen. Danach setzte ich mich gerade hin und begann zu meditieren.
    "Gate, gate, paragate, parasamgate, bodhi - svaha! Gate, gate, paragate, parasamgate, bodhi - svaha. Gate, gate, paragate, parasamgate, bodhi - svaha."
    Ich sah in die Dunkelheit vor mir und konzentrierte mich auf meinen Atemrythmus. Die Gedanken flossen durch meinen Kopf. Meine Unhöflichkeit dem Strategen Cleonymus gegenüber. Meine Unhöflichkeit der Torwache gegenüber. Meine Unhöflichkeit Iunia Axilla gegenüber. Meine Arroganz. Meine Gnadenlosigkeit in Han. Die Todesurteile, die ich ausgesprochen hatte. Alles das ließ mich an mir zweifeln. Mir wurde klar, dass ich loslassen musste. Ich musste mich meines Selbst entäußern. Waran hielt ich fest? Ich trauerte der Macht nach, die ich in Han besessen hatte. Ich spürte mein Verlangen nach Macht. Ich musste dieses Verlangen loswerden. Ich durfte an nichts festhalten, durfte keine Bindungen besitzen. Ich durfte nicht mehr Marcus Achilleos sein. Ich durfte auch nicht mehr Zixi De sein. Ich musste meine Vergangenheit hinter mir lassen!

    Das Schlimme an der Situation war, dass ich eigentlich dachte, dass meine Arroganz nach meiner Zeit in Indien kein Problem mehr für mich war. Offensichtlich war das ein Irrtum. "Dein Stolz und deine Arroganz werden immer wieder aufs Neue zu Leiden führen," hatte mir einer der Mönche in Indien gesagt. "Sie werden dich vernichten. Früher oder später werden sie dich vernichten." Noch schlimmer an der Situation war aber, dass der Soldat recht hatte. Doch am schlimmsten war, dass ich durch seine Worte merkte, wie grausam eigentlich meine Herrschaft über die Stadt in Han gewesen sein musste. Auch wenn ich mich strikt an die Gesetze hielt, so war ich doch ein erbarmungsloser Verfechter der Gesetze. Mildernde Umstände gab es nicht und die Möglichkeit, Gnade vor Recht walten zu lassen, hatte ich nie genutzt.


    "Ich bedaure, dich belästigt zu haben, Legionarius," sagte ich ehrlich. "Und ich danke dir für deine Erklärung."
    Ich verbeugte mich und sah kurz Axilla hinterher. Das hatte ich ja toll hingekriegt! Zum Domizil der Iunier würde ich wohl besser erstmal nicht mehr gehen. Ich hatte mich höchst unehrenhaft verhalten, also sollte ich diesen Ort meiden. Ich stand einen Moment lang unschlüssig am Eingang der Torwache, dann machte ich mich auf den Weg zurück zum Museion, um meine Gedanken zu ordnen.

    "Bitte was? Nur gut 150 Mann? Für diese Stadt?"
    Ich war entsetzt. Meine sonst recht gute Selbstbeherrschung war für einen kurzen Moment einer völligen Fassungslosigkeit gewichen.
    "Ich hatte die Verantwortung für eine Stadt von 6000 Einwohnern und dafür hatte ich 200 Man zur Verfügung... eine so kleine Stadtwache für eine Stadt wie diese... das ist... das ist... das ist doch Wahnsinn!"