Thimótheos konnte und wollte es nicht glauben. Ein Mann von der Stadtwache hatte noch vor Sonnenaufgang beinah die Pforte seines Hauses eingetreten, um ihm die Schreckensnachricht zu überbringen. Eine weitere rhomäische Leiche in Alexandreia! Im ersten Moment hatte der Strategos bereits weitere Aufstände vor Augen gehabt. Ja, er sah sein schönes Alexandreia bereits in Flammen aufgehen! Hastig warf er sich seine Gewandung über und trieb dann den Stadtwächter grässlich fluchend vor sich her. Auf dem Weg zur Agora hatte er allerlei Ängste durchgestanden. Zunächst hatte er die Befürchtung gehabt, dass seine einstige Liebschaft Axilla umgekommen sein könnte. Dann glaubte er einen Anschlag auf die Gattin des Eparchos ermitteln zu müssen. Doch letztendlich verschlug ihm der Anblick der Toten Rhomäerin gänzlich den Atem. Es war Urgulania, die dort in ihrem eigenen Blut lag! Die Frau, die dem rhomäischen Praefektus Legionis die Stirn geboten hatte, die der hellenischen Oberschicht eines Amtes in der Polis würdig erschienen war, ja die allen Vorurteilen gegen die rhomäischen Besatzer entgegengewirkt hatte. Thimótheos war erschüttert bis in sein tiefstes Inneres. Wie konnte diese ehrbarste aller Frauen Alexandreias nur einem so feigen Mord zum Opfer fallen?
Doch viel Zeit blieb ihm nicht. Nicht zum Trauern, nicht zum Nachdenken. Die Offiziere der Stadtwache wuselten bereits mit etlichen Helfern am Tatort herum und standen plötzlich allesamt mit fragendem Gesichtsausdruck vor dem Strategos, der sich einen Moment lang völlig überfordert fühlte. "Tyche steh uns bei..." murmelte er, bevor er sich straffte und in gewohntem Befehlston Anweisungen gab. "Männer, besorgt eine Bahre und bringt den Leichnam fort. Am besten..." Er hielt inne und blickte sich hilfesuchend um. "Dort hinein!" Sein Finger wies geradewegs auf das Heiligtum der Tyche. Ja, dort konnte man die weiteren Untersuchungen vorerst vor der Öffentlichkeit abschirmen und musste den Leichnam auch nicht zuerst hektisch durch die sich langsam füllenden Straßen transportieren. "Ich will ab sofort Wachen an sämtlichen Eingängen des Tempels! Es kommen nur Priester und Männer mit meiner Erlaubnis durch, bis ich andere Anweisungen gebe! Und sperrt die Agora vorerst für jegliches Gesindel! Keine Händler, keine Beamten, nichts!" Die Befehle unterstrich er mit hektischen Gesten und Zähnefletschen. Als er die Hälfte der Hauptleute weggescheucht hatte, griff er sich einen der übrigen und gab ihm weitere Anweisungen. "Lauf zum Museion und hol mir jegliche Ärzte und Chirugen her, die du auftreiben kannst. Sag, es geht um eine Obduktion. Los jetzt!" Er versetzte dem Mann einen Tritt in den Hintern, woraufhin dieser eilends davonrannte. Einen weiteren hetzte er auf ebenso eindringliche Art. "Bringt mir den Gymnasiarchos Kerykes her, aber zackig! Sonst reiße ich euch allesamt eigenhändig den Kopf vom Rumpf!" Dann erst gönnte Thimótheos sich einen eingehenderen Blick auf das Bild des Grauens.
Die stolzte Iunierin lag am Boden wie gekreuzigt. Ihr anmutiger Körper war unbedeckt, das Kleid in Fetzen gerissen. Als sei dieser Anblick nicht genug, prangte eine ekelerregende Botschaft auf ihrem Bauch. 'HURE ALEXANDRIAS' stand dort in blutroten Lettern. Der Bantotake schnappte nach Luft, als Übelkeit in ihm aufstieg. Wer konnte so etwas nur tun? Welcher Unmensch konnte eine Frau wie Urgulania nur auf eine solche Art und Weise aus dem Leben reißen? Für einen unendlichen Augenblick verharrte Thimótheos in Trauer und Entsetzen und betrachtete das Opfer dieser Schandtat. Urgulania war eine schöne Frau. Trotz ihres Alters und ihrer vielfältigen Tätigkeiten sowohl in der Politik, als auch in der Wirtschaft, hatte sie eine Anmut und Eleganz besessen, von der viele andere Frauen nur träumen konnten. Hass und Zorn wollten den Strategos übermannen. Hass auf die Rhomäer, die solche Schandtaten begingen. Hass auf die Menschen, die hilflose Frauen grausam niederstachen und ihren Leichnam besudelten. Und Zorn ob seiner Hilflosigkeit, die er in diesem Moment empfand. Ruckartig wandte er sich zu den Männern der Stadtwache um und befahl schneidend: "Na los, holt ein Laken oder irgendetwas! Macht diesem Anblick ein Ende!" Die Soldaten hatten ebenfalls Tatenlos herumgestanden und ziemlich betroffen dreingeschaut. Nun rannten sie allesamt quer durcheinander. Bald war ein großes Leinentuch gefunden, das man schlichtweg einem frühen Händler abgekauft hatte. Die Bahre wurde herbeigeholt, der Leichnam darauf gebettet und Thimótheos geleitete die Tote mit seinen Männern ins Heiligtum der Tyche.
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Während der Leichnam im Tychaion untergebracht wurde, sammelten Männer der Stadtwache bereits die Beweisstücke auf und inspizierten den Tatort genauer. Ebenfalls kamen Legionäre an den Ort des Geschehens, die Auskünfte verlangten. Einer der Hauptleute vor Ort ging auf den ranghöchsten anwesenden Offizier der Rhomäer zu, den er als Optio erkannte, und klärte ihn auf: "Chairre, Optio. Deine Männerr frragen nach den Leichnam von getöteten Rrhomäerrin." Der Hauptmann deutete auf den Tempel der Tyche. "Strrategos Thimótheos Bantotakis berreits gebrracht in Heiligtum von grroßarrtige Agathe Tyche. Du findest dorrt. Warrte, ich brringe dich hin. Befehl vom Strrategos ist: Nurr mit Errlaubnis betrreten, ja?" Ja, sein Latein war nicht das beste. Aber er konnte sich verständigen. Und so erwartete der Hauptmann, dass der Rhomäer soweit alles verstanden hatte. Er bedeutete, ihm zu folgen, und schritt dann eilig die Stufen des Tempels hinauf, wo er die Soldaten kurz aufforderte zu warten. "Ich hole Strrategos herraus, ja?" erklärte er knapp und verschwand im Tempelinnern.
Wenige Augenblicke später kam er wieder heraus, gefolgt vom Strategos. Der wandte sich in bestem Latein an den Offizier. "Chaire Optio. Ich bin der Strategos. Gut, dass du hier bist. Hast du deinem Vorgesetzten bereits Nachricht geschickt? Und was ist mit dem Statthalter?" Thimótheos wirkte klar und rational, nachdem er wenige Minuten zuvor tief durchgeatmet hatte und sich im Gebet zu Tyche Mut zugesprochen hatte.