Beiträge von Penelope Bantotakis

    “Rausdrücken? Wo willst du da drücken, da ist überall Knochen, und den solltest du tunlichst ganz lassen. Und das Hirn mit rausdrücken willst du ja auch nicht.“
    Jetzt musste Inhapy doch lachen. Rausdrücken, auf die Idee wäre sie noch nicht einmal gekommen. Lachend schüttelte sie leicht den Kopf, ehe sie ihm seine Frage dann doch beantwortete, was die beste Methode war.
    “Am besten geht das, wenn man den Kopf über Wasserdampf hängt. Der Dampf verflüssigt den Schleim, und er läuft dann leichter ab. Ich hab gehört, wenn man Pfeffer zerschrotet und ins Wasser gibt, soll es noch besser gehen. Aber das hab ich selbst nie getestet, Pfeffer ist doch ein wenig teuer. Und angeblich sollen die Augen davon ganz ordentlich auch tränen. Aber so häufig sitzt ohnehin nicht Schleim im Kopf fest. Das ist eher selten, häufiger gibt es andere Krankheiten, wie Entzündungen an Augen und Zähnen, oder Probleme mit Magen und Darm. Oder trockenen Husten, der kommt auch häufiger vor.“
    Inhapy zuckte mit den Schultern. Dass jemand eine laufende Nase hatte und verschleimt war, war doch eher selten. Sie vermutete, dass das mit dem Wasser zusammenhing, aber das war nur eine Vermutung und hatte keinerlei Grundlage. Deshalb behielt sie es auch für sich.
    “Kannst ja auch mal bei mir klopfen, damit du weißt, wie sich das anhören muss. Aber vorsichtig, du hast ziemlich große Hände.“

    “Na, wenn die Nase schon läuft, dann ist viel Schleim im Kopf. Aber manchmal sitzt der ziemlich hoch im Kopf, das hört man dann beim klopfen.“
    Inhapy stand kurz auf und ging zu Anthimos hinüber, um ihm zu zeigen, was sie meinte.
    “Hier und hier hinter über den Augen ist ein kleiner Hohlraum von der Nase. Wenn man da vorsichtig mit den Knöcheln dagegenklopft, so… dann muss sich das frei anhören. Wenn es dumpf und voll klingt, sitzt da Schleim im Kopf.“
    Nachdem sie Anthi vorsichtig mit dem rechten Zeigefinger gegen die Stirn geklopft hatte, wo in späteren Jahren ein kluger Kopf die oberen Nebenhöhlen entdecken würde, setzte sie sich wieder hin und lächelte ihn leicht an. Er war ja doch ein wissbegieriges Kerlchen, hätte sie nicht gedacht.

    So, ein paar Pflanzen hatte Inhapy hier noch. Natürlich gab es auch mehr, aber sie wollte ihn nicht gleich am Anfang mit allem zuwerfen, das wurde sonst noch zuviel.
    “Dieses unscheinbare grüne Ding ist Sellerie. Der hat vielfältige Verwendungsmöglichkeiten, vor allem wenn man es mit der Galle hat. Wenn die Blase entzündet ist, oder Nieren und Leber schmerzen. Aber auch bei Augenentzündung oder eitrigen Zähnen. Bei Kopfweh kann man ihn auch beigeben, wenn man vermutet, dass es an Schleim im Kopf liegt.
    So, dann haben wir noch Hülsenfrüchte. Hier ein paar getrocknete Linsen und Erbsen. Die sind vor allem zum kräftigen des Körpers gut geeignet. Aber sie helfen dem Körper auch bei Geschwüren und Entzündungen. Für eine Salbe solltest du sie allerdings vorher gut aufweichen, sonst bekommst du die nicht vernünftig klein.
    Und das hier schlussendlich sind Rizinuswurzeln. Der hilft bei Bauchschmerzen und Kopfschmerzen. Aber damit musst du vorsichtig dosieren, wenn du viel nimmst, wirkt er stark abführend. Wenn das natürlich dien Ziel bei der Behandlung ist, ist das gut, dafür kann man ihn auch hernehmen, genauso wie Feigen. Da hab ich aber keine da im Moment, aber du weißt vielleicht, wie die aussehen.“

    Und damit war ihr kleines „Hausarsenal“ für den Moment auch durchgearbeitet.

    Jetzt war Inhapy erst einmal baff. Der Mann hatte tatsächlich Verstand! Und er war der erste, der die Sache mit der Blutung richtig begriffen zu haben schien. Endlich mal jemand, der das ganze nicht als Krankheit ansah. Sie war einen Moment vor Freude sprachlos.
    “Du hast recht. Es ist etwas gutes und keine Krankheit. Aber Centaureum wäre besser, weil es alle Symptome bekämpft und nicht nur einzelne. Und glaub mir, da treten selten einzelne Symptome auf. Und wenn du gegen jedes Symptom einzeln vorgehen musst, musst du viel mischen, wo du es hier mit einer einzigen Pflanze lösen könntest. Und man sollte immer so wenig wie möglich und so viel wie nötig einsetzen. Mehr ist nicht immer besser. Aber bevor du gar nichts hast, nimmst du die billigeren Kräuter.“

    Inhapy schaute immer noch ein wenig missbilligend auf die Wachstafeln, aber sie gestattete es. Dass ihr Wissen so niedergeschrieben wurde, war neu für sie, und dass es auch noch ein Mann war, der es niederschrieb, so etwas wie ein kleines Wunder. Aber eines, das ihr etwas unbehaglich war.
    “Nun, wenn man weiß, woher etwas rührt, sollte man die Ursache bekämpfen und nicht nur das Symptom. Wenn dein Arm schmerzt, weil der Knochen gebrochen ist, solltest du ja auch besser den Arm schienen und nicht dich gegen die Schmerzen nur betäuben. Und wenn es etwas schwerwiegenderes ist, kann es sein, dass du die Symptome damit verdeckst und du dann später nicht mehr richtig diagnostizieren kannst.
    Und das ist das allerallerwichtigste. Bevor du etwas machst, musst du erst ganz sicher sein. Du hast als Heiler eine Verantwortung für deinen Patienten. Der vertraut dir, dass du weißt, was du tust, und du musst dir sicher sein. Deshalb musst du vorher gründlich erforschen, was der Grund der Krankheit ist. Niemals einfach etwas geben, immer gründlich untersuchen.“

    Das war erst einmal das wichtigste, was sie ihm klarmachen musste. Das war der bedeutendste Grundsatz aller ägyptischer Medizin. Den musste er verinnerlichen.
    “Aber bevor du gar nichts machen kannst, weil die richtige Medizin zu weit weg ist, du aber sicher bist, dass du weißt, woran es liegt, kannst du auch etwas anderes geben. Keiner deiner Patienten soll leiden, obwohl du ihm Schmerzen nehmen könntest.“

    All diese Geheimniskrämerei für eine Diskussion über die Schriften Platos? Über die Existenz oder Nichtexistenz von Hühnern? Und darüber hatte sich Penelope mit Ánthimos gestritten? Einen Moment musste sich Penelope beherrschen, um nicht lachen zu müssen. Wenn sie ihm das nachher erzählte, der würde sich kugeln vor lachen.
    Aber Penelope war zunächst einmal sehr beruhigt. Sie hatte sich im Geiste schon Verschwörungen ausgemalt, irgendwelche Geheimbünde oder verworrene Philosophien wie die der Christen. Aber das hier war nur eine harmlose, philosophische Diskussion, wie es bislang aussah. Dafür wäre die Geheimniskrämerei mit dem Zettel wirklich nicht nötig gewesen, und ebenso wenig die ermahnenden Worte im Rosengarten. Wer sollte sich schon davon in seinem Weltbild schwer erschüttert sehen? Das war eine Meinung, eine diskussionswürdige Meinung zwar, aber doch nur ein philosophischer Ansatz.
    Sichtlich entspannter saß Penelope nun da. Von Plato hatte sie nicht genug Ahnung, um wirklich mitdiskutieren zu können, und ihre eigene Meinung dazu war wohl nicht besonders relevant. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Sollten ruhig die anderen Männer und Frauen dazu etwas sagen, wenn sie sich mit der Materie auskannten. Sie lauschte einfach schweigend, vielleicht lernte sie ja noch etwas Interessantes für sich und ihre Musik.

    Jetzt war Inhapy einen Moment perplex. Diese Frage hatte ihr ja noch nie jemand gestellt! Warum sollte eine Schwangerschaft für eine Frau schlecht sein? Wobei die Art der Frage ja durchaus intelligent war.
    “Nun, wenn eine Frau schwanger ist, dann hat sie so etwas nicht. Sie und das Kind bilden bis zur Geburt eine Einheit, und ein Kind ist etwas reines. Warum sollte sie da schlechtes Blut haben?“
    Inhapy musste über die Frage lächeln. Sie hätte nie gedacht, dass ein Mann sie jemals so etwas fragen würde. Aber irgendwie war das ziemlich süß. Natürlich würde sie ihn nicht in die ganzen, weiblichen Mysterien einführen, das ging ihn als Mann auch gar nichts an. Aber so ein bisschen konnte er schon wissen, wenn er schon mal fragte und sich dafür interessierte.
    “Du siehst das sicher auch bei Penelope. Schwangere Frauen haben immer etwas Strahlendes an sich. Vor allem an den Augen kann man es sehen. Selbst, wenn sie müde sind, strahlen sie noch. Es sieht fast aus, als wären sie dauerhaft frisch verliebt. Nun, bei manchen stimmt das auch. Aber mit ein wenig Übung kann man so eine Schwangere auch erkennen, wenn noch kein Bauch zu sehen ist.“

    Owei, er war halt doch nur ein Mann. Inhapy überlegte kurz, wie sie ihm das beibringen konnte, ohne dass er vom Stuhl fiel. Sonderlich erfreut über dieses Wissen schien er nicht zu sein.
    “Im groben, Ja. Einmal im Monat reinigt sich der weibliche Körper und scheidet das schlechte Blut aus. Dazu zieht sich der Unterleib zusammen. Das schmerzt, mal mehr, mal weniger. Manche Frauen bekommen auch Fieber, andere Kopfschmerzen, wieder anderen zieht die Brust. Und schwangere Frauen haben das nicht, sonst würde das Kind mit hinausgedrückt werden. Das haben die Götter schon weise eingerichtet.“
    Soviel zum Crashkurs in weiblicher Physiologie.
    “Diese Pflanze lindert diese Krämpfe und die Spannungen im Körper. Sie entspannt, und nimmt dadurch den Schmerz von dem ganzen. Und sie senkt auch das Fieber, das dabei manchmal entstehen kann. Deshalb ist sie für Frauen sehr gut.“

    “Das muss man dann trinken. Den Knoblauch zerquetscht man dann, der ist ganz weich nach drei Stunden, und das nimmt man dreimal am Tag jeweils drei Löffel voll, und nach drei tagen ist jeder Husten verschwunden. Aber keine Sorge, ich bring dir noch ein paar richtige Rezepte bei, wenn du die Grundlagen kannst.“
    Inhapy sah sich an, auf was er zeigte. Es war der Blumentopf – natürlich, der war auch kaum zu übersehen. Und die zarte Pflanze darin war Inhapys größter Schatz.
    “Das hier ist das beste für Hebammen. Die Römer nennen die Pflanze Centaurium. Eigentlich mag sie es lieber kälter, als es hier ist, aber im Blumentopf wächst sie ganz gut. Die hilft bei Frauenbeschwerden im Unterleib und in der Brust. Schmeckt ziemlich bitter, lindert aber sehr gut Schmerzen und auch Fieber.
    Hm, wie das mit dem Mondblut funktioniert, das weißt du?“

    Bevor sie da von Fieber redete, musste sie wissen, wie viel Anthi von Frauen überhaupt verstand und was er da wusste und nicht wusste.

    “Ach, die Bücher im Museion, diese verstaubten Dinger. Frag lieber einen vernünftigen Arzt. Bis du so ein Buch gelesen hast, ist dein Patient schon an Altersschwäche gestorben.“
    Inhapy konnte sich für Bücher einfach nicht erwärmen. Aber das brauchte sie auch gar nicht, was sie brauchte, wusste sie alles.
    “Gut, nachdem nun die Grundlagen klar sind, kommen wir zu den Dingen hier. Jede Pflanze ist für etwas anderes gut. Manchmal muss man die Zutaten Mischen, weil man den einen oder den anderen Effekt davon haben möchte. Manche Dinge haben auch mehrere Effekte. Man muss alles immer so anwenden, dass es in sich stimmig ist. Und du musst die Ursachen bekämpfen, und nicht nur die Symptome.
    Dann fangen wir an. Die Zwiebel hier kennst du schon. Sie reinigt, vor allem das Blut. Wenn jemand also ein Problem mit dem Blut hat oder Reinigung braucht, nimmst du Zwiebel dafür.
    Im Gegensatz zu Knoblauch. Der ist gut für den Hals und die Lunge. Gegen Husten wirkt nichts so gut wie eine in Milch und Honig drei Stunden gekochte Knolle Knoblauch. Da verschwindet der Husten im Nu.
    Und was haben wir noch? Koriander. Schmeckt nicht nur gesund, ist gesund. Das grüne hilft dem Magen, die Beeren helfen bei Kopfschmerzen. Eine vielseitige Pflanze.

    Sie wartete, bis Anthi alles auch mal in Händen gehabt und daran gerochen hatte, sie selbst machte das beim Erklären, ehe sie es ihm jeweils weiter gab. Sie wollte, dass er eine Nähe zu den einzelnen teilen herstellte. Sie fand, man lernte immer besser, wenn man etwas zum Anfassen dabei hatte.

    “Das ist eine gute Frage. Die Antwort ist: Das lernst du nur aus Erfahrung. Je mehr Menschen du behandelt hast, je mehr du gesehen und erfahren hast, umso besser kannst du erkennen, ob etwas heilbar ist oder nicht. Aber du musst bereit sein, zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die du nicht heilen kannst. Menschen sterben, wenn die Götter es wollen, und wir Menschen müssen das akzeptieren. Selbst die Heiler. Und wer das nicht kann, sollte es nicht lernen, denn es wird ihn nur unglücklich machen. Im Kampf Gott gegen Mensch hat noch kein Mensch gewonnen, die Götter bekommen immer ihren Willen.“
    Inhapy sagte das mit einer gewissen Traurigkeit. Sie selber hielt sich nicht immer an diesen Grundsatz. Sie hatte schon vieles mögliche und auch unmögliche getan, um eine Frau zu retten bei einer schweren Geburt, und sie selbst akzeptierte nie, dass ein Patient sterben könnte. Aber sie wusste, dass es dann einfacher war, und dass es passieren konnte. Und sie wusste, dass sie nicht daran zerbrechen würde, wenn doch einmal eine Frau starb. Aber das musste jeder selbst wissen.
    “Wenn du unsicher bist, ist es nie eine Schande, jemand mit mehr Erfahrung um Hilfe zu bitten. Manche Dinge sieht man selbst nicht, obwohl sie offensichtlich sind. Manchmal sind vier Augen besser als zwei.
    Ich kann dir nur beibringen, was ich erfahren habe. Andere haben anderes schon gesehen. Sich zu unterhalten und auszutauschen hilft da manchmal.“

    “Na, euch Männern muss man doch immer alles zweimal sagen, weil ihr euch nur die Hälfte merkt von dem, was man euch sagt. Hatte ich nicht gemeint, zuhören sei wichtiger als aufschreiben?“
    Den kleinen Seitenhieb konnte sich Inhapy angesichts der Wachstafeln nicht verkneifen. Sie erkannte ja sehr wohl die Sinnhaftigkeit, etwas aufzuschreiben, aber sie sah Lesen und Schreiben nicht als Notwendigkeit an, sondern eher als Luxus. Und Hebamme war ein harter Job, der wenig mit Luxus gemein hatte. Aber Ànthimos war ja Grieche und ein Mann, und hatte daher schon zwei Merkmale in Inhapys Weltanschauung erfüllt, weswegen sie nicht von ihm erwartete, alles gleich zu verstehen und so zu sehen wie sie. Wenn sie natürlich auch Recht hatte und die Wahrheit kannte!
    “Aber freut mich, dass du dir das mit dem Essen gemerkt hast. Dann wollen wir gleich mal weiter machen.
    Bevor ich weiß, welche Methode die richtige ist, muss ich erst einmal herausbekommen, was bei dem Patienten nicht stimmt und was nicht im Gleichgewicht ist. Es gibt Dinge, die muss ich nur behandeln. Kratzer, Schnitte, Durchfall, Übelkeit. Das ist nicht schwer, da gibt es einfache Mittel für einfache Probleme. Dann gibt es Dinge, die muss ich bekämpfen. Augenentzündungen, Fieber, Blutunreinheiten, Pest, Würmer… Die sind schon schwerer, und auch manchmal schwerer zu finden. Und du musst dir immer sicher sein, was du tust, denn sonst kann es sein, dass du die Leiden noch verschlimmerst, anstatt sie besser zu machen. Und dann gibt es Dinge, die du nicht bekämpfen und nicht behandeln kannst. Frauen haben manchmal eine verhärtete Brust, oder auch Männer haben manchmal Geschwüre. Oder eine Krankheit, die du nicht fassen kannst. Das sind dann strafen der Götter, dagegen kannst du nichts machen. Da kannst du nur die Schmerzen lindern und beten. Das liegt nicht in der Hand eines Heilers, und das musst du dann auch erkennen können.“

    Inhapy beobachtete bei ihren Worten Ánthimos’ Gesicht. Wenn er zimperlich war, war Heiler sicher nichts für ihn. Sie hatte schon so manchen harten Mann blass werden sehen, wenn er eine eitrige und blutige Wunde öffnen sollte, damit der Eiter ablaufen konnte. Als Heiler musste man auch dann ruhig bleiben, wenn der Patient von den Göttern gestraft war, nach Pestilenz stank und schwärende Blasen hatte. Und sie musste wissen, ob er auch einen Patienten sterben lassen könnte, denn auch das gehörte manchmal dazu. Wenn man das nicht konnte, sollte man es lieber bleiben lassen.

    Inhapy hatte zwar nicht wirklich eingeplant, dass Ánthimos heute kommen würde, aber dennoch hatte sie für seinen Unterricht ein wenig vorgesorgt. Er würde dasselbe erzählt bekommen wie ihre Tochter Hatnofer, die Hebamme werden würde, und daher hatte Inhapy schon ein wenig Erfahrung mit dem Lehren. Deshalb ging sie gleich zu ihrem Kräutergarten im Fenster herüber und holte ein paar Dinge herüber, damit es anschaulicher war. Immerhin war Ánthimos ein Mann, da war etwas veranschaulichungsmaterial vielleicht gar nicht schlecht. Und da er Grieche und kein Ägypter war, musste Inhapy ihn erst einmal über ein paar Grundlegende Dinge aufklären. Den Kopf in ihren Kochsachen vergraben begann sie also, Anthi aufzuklären.
    “Also, da du Grieche bist, fang ich vielleicht besser ganz am Anfang an. Bei euch sind eure Götter immer für sich stark und einzigartig und gewaltige Mächte, jede für sich allein. Einige sind verheiratet, einige haben Nachkommen. Wenige haben Nachkommen mit ihren Ehefrauen, soviel weiß ich schon.
    Bei Ägyptischen Göttern ist das anders. Fast jede männliche Gottheit hat eine weibliche Gottheit, die ihm zur Seite steht. Zur Seite, nicht untergeordnet. Denn in der Zahl zwei steckt große Macht, und nur ein Mann oder nur eine Frau sind nicht vollkommen. Auch die Götter nicht. Erst, wenn das männliche und das weibliche Prinzip aufeinandertreffen und sich harmonisch vereinen, entsteht perfekte Eintracht und etwas Vollkommenes.“

    Offenbar hatte sie alles gefunden, was sie gesucht hatte, denn sie drehte sich wieder zu Ánthimos um.
    “Und dieses Prinzip, von dem Zusammenspiel von männlichem und weiblichen Kräften, durchzieht ganz Ägypten. Deshalb sind unsere Frauen ihren Männern auch nicht untergeordnet, sondern gleichgestellt. Und es findet sich auch in unserer Medizin. Denn eine Krankheit entsteht dann, wenn es ein Ungleichgewicht im Körper gibt. Wenn wir etwas schlechtes gegessen haben, werden wir krank. Und wenn wir daher den Körper mit dem richtigen Essen behandeln, wird er wieder gesund. Soweit alles klar?“

    Penelope setzte sich in einen der bereitgestellten Korbsessel, den direkt neben Ánthimos. Sie konnte ihm an den Augen ablesen, dass er sie am liebsten auf dem Schoß wahrscheinlich gehabt hätte, und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Sie setzte sich und wunderte sich dabei ein wenig über Marcus Achilleos, der lieber einen harten Stuhl haben wollte als eine Kline oder einen Sessel. Ein wenig seltsam war Anthis Freund ja schon, und es gab wohl einen Grund, warum Inhapy ihn „den Verrückten“ nannte, aber Pelo wollte nicht vorschnell sein. Vielleicht hatten ihn die Jahre in der Fremde einfach die Zivilisation ein wenig vergessen lassen und er musste sich erst wieder reinfinden. Und er war ihr trotz allem noch um einiges lieber als der Rhomäer, der in Rüstung und mit Schwert hier aufgetaucht war. Vor dem hatte sie immer noch ein klein wenig Angst, obwohl er sonst ja ganz ruhig war und sie auch höflich begrüßt hatte.
    Ein wenig unsicher saß Penelope in ihrem Sessel. Die letzten drei tage war ihr ab und zu mal ein wenig übel geworden, vor allem, wenn sie essen roch. Inhapy hatte sie gewarnt, dass das passieren konnte, aber Penelope hatte das ganze ein wenig unterschätzt. Aber übergeben musste sie sich bislang wenigstens noch nicht, nur das flaue Gefühl im Magen war nervenaufreibend. Sie hoffte, dass sie beim Essen davon verschont bleiben würde, sie aß ja so schon wie ein Spatz und wollte die Gastgeberin nicht beleidigen.
    Auf Ánthimos’ Worte lächelte sie nur stumm ganz leicht. Natürlich verstand sie auch genug Latein, um sich in der Sprache zu verständigen, aber griechisch wäre ihr lieber gewesen. Doch das musste hier niemand wissen, immerhin war sie zu Gast. Und wer wusste schon, ob alle Rhomäer vernünftig Koine sprachen?

    Einen Augenblick überlegte Penelope, wie sie ihn sonst nennen sollte. Mit Vornamen konnte sie ihn kaum ansprechen, sein voller Name war doch ein wenig lang vielleicht, und „werter Keryke“ klang irgendwie seltsam. Aber vielleicht umschiffte sie das einfach geschickt, und ließ die anrede weg, so es ging? Ja, das war wohl praktikabel.
    Sie ging mit den anderen Menschen mit zu dem kleinen Pavillon und blieb davor etwas stehen. Ein klein wenig hatte sie ein mulmiges Gefühl, aber nun war sie bereits zu weit, um einen Rückzieher zu machen.
    Die anderen Menschen gingen bereits hinein und entledigten sich ihrer Umhänge, setzten sich auf die Steintreppen. Penelope betrat mit als letzte den Raum uns suchte sich einen Platz nahe der Tür. Umhang hatte sie keinen, also gab es auch nichts, was sie ablegen müsste. Sie setzte sich auf den kühlen Stein und schaute sich die anderen Mithörer an. Sie glaubte nicht, dass sie irgendeinen davon kannte. Aber sie war schon beruhigt, dass sie nicht die einzige Frau in dieser Runde war.
    Erwartungsvoll schaute sie zu Nikolaos hinüber. Dieser Ort, das Treffen, die Umstände, das alles gab der Sache doch einen sehr mysteriösen Hauch, und sie war nun wirklich gespannt auf das, was er mitzuteilen hatte.

    Er erforschte ihre Seele mit seinem Blick, so zumindest kam es Penelope vor. Ruhig erwiderte sie seinen Blick, ohne Anzeichen von Angst. Das hier war wie ein Auftritt, sagte sie sich, und da hatte sie die Kontrolle. Angst nützte nichts, wenn man spielen wollte, Furcht machte die Hände zittrig und die Stimme kratzig. Und ein Künstler, der sich wie eine Maus versteckte, konnte nie mit Lorbeer rechnen. Also versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen von den Sorgen, der Unsicherheit und dem Zweifel, der tief in ihr nagte.
    Sie konnte gehen, wann immer sie wollte, das war gut. Und es wäre keine Verschwörung gegen die Polis, auch das war gut. Ihre Ehre war nicht in Gefahr, auch das war gut. Zwar wusste sie noch immer nicht, worum es ging, aber so waren schon mal die größten Ängste ausgeräumt. Und zur Not hatte sie immer noch das Messer und eine wirklich kräftige Stimme, wenn sie wollte.
    “Nungut, Gymnasiarchos, dann werde ich mich euch vorerst anschließen und hören, was du zu lehren hast.“
    Mehr wollte sie jetzt nicht sagen. Wenn es ihr wirklich zuviel werden würde, würde sie gehen. Aber ihre Neugierde war nun doch geweckt, worum es eigentlich ging.

    Erhaben und ruhig stand Penelope da, ganz, wie ihr Großvater es sie gelehrt hatte. In diesen Momenten war sie mehr als froh über die harte Schule, durch die er sie als Kind bereits geschickt hatte. Ein Künstler war bei seinen Auftritten nun mal nicht zögerlich und schüchtern, sondern erhaben wie Apollo selbst, und führte sein Instrument stets beherrscht und mit ruhiger Hand. Diese Lektionen hatte sie tausendfach gehört, und auch, wenn Harmonia noch sicher in ihren Räumlichkeiten lag, hatte sie dennoch ihre gerade und aufrechte Haltung, ganz wie bei einem Auftritt.
    Ruhig hörte sie sich alles an, was der Gymnasiarchos mitzuteilen hatte. Bei seinen ersten Worten war sie leicht verunsichert. Auch wenn er beteuerte, dass dies hier keine Orgie war, war die Art, wie er das betonte und vom Rausch sprach doch ein wenig unheimlich. Ganz so, als wisse er ziemlich genau, wovon er da sprach, und wolle sie doch ein wenig neugierig darauf machen. So zumindest kam es ihr vor. Doch sie ließ sich nichts anmerken.
    Der Teil danach verwirrte sie allerdings fast noch mehr. Sie würden also in eine Halle gehen? Das war allerdings schlecht für Anthis Plan zu ihrer Rettung, sollte diese notwendig werden. Und Penelope hatte auch keine Ahnung, ob sie Nikolaos da so blind vertrauen konnte oder nicht. Er sagte immerhin nichts, was darauf schließen ließ, was er vorhatte. Ihre Neugierde war natürlich groß, aber ihre Vorsicht war ebenfalls geweckt. So stand sie ein paar Momente einfach schweigend da und ließ sich das gesagte durch den Kopf gehen, ehe sie antwortete.


    “Werter Gymnasiarchos. Ich muss zugeben, deine Worte verwirren mich, weiß ich doch noch immer nichts über den Zweck meines Hierseins. Du sagst, deine Absichten sind nicht die eines Rausches, wie es dem Dionysos wohl geziemt, und das glaube ich dir. Hätte ich solches angenommen, wäre ich hier auch gar nicht erst erschienen.
    Und doch weiß ich nicht, was du bezweckst. Und wie kann ich eine solche Entscheidung treffen, ohne zu wissen, worum es überhaupt geht? Wie du weißt, liegen mir vier Dinge am Herzen. Die Götter, die Polis, meine Familie und meine Ehre. Versicherst du mir, dass nichts, was in dieser Halle geschieht, einem dieser Teile Schaden bringen wird? Und gibst du mir dein Wort als Ehrenmann?“

    Das war viel gewagt, das wusste Penelope, und sie versuchte, ruhig zu wirken. Innerlich war sie aufgeregt und nervös, ob sie nicht zuviel gesetzt hatte mit ihren Worten. Aber sie konnte nicht einfach irgendwohin mitgehen, ohne wenigstens zu wissen, ob sie dort in Sicherheit war und auch wieder gehen könnte, wenn es nötig wäre. Und sie würde sich an keiner Verschwörung gegen die Polis beteiligen, soviel musste Nikolaos klar sein.

    Auch, wenn Penelope das Messer nach wie vor für keine gute Idee hielt, hatte sie es wie versprochen mit sich mitgenommen und so unter ihrem Chiton versteckt, dass man es nicht sah, sie aber dennoch schnell hinkommen würde, sollte es nötig sein. Sie hoffte aber, es wäre gar nicht erst von Nöten.
    Penelope sah die Versammlung, die sich im Schutz der Hecken bildete, und blieb vorsichtig in der Nähe stehen. Sie hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, und wollte sich nicht mitten in einen Haufen fremder Menschen stellen. Sie hielt sich schön am Rand, versuchte, nicht schüchtern zu wirken, und beobachtete das Ganze mit stillem Interesse. Sie war gespannt, was diese Einladung wohl zu bedeuten hatte, und warum der Gymnasiarchos sie auf so seltsame Art und Weise ausgesprochen hatte. Sie schaute sich ein wenig um, ob sie ihn überhaupt entdecken konnte, sah ihn aber nicht.

    Na, das klang schon wieder anders als das vorhin. So, wie er jetzt klang, wollte er nur auf das Schlimmste vorbereitet sein und eben kein Risiko eingehen, auch wenn es nur sehr unwahrscheinlich war. So konnte Penelope sich darauf einlassen. Wenn ihr die Idee mit dem Messer auch nicht gefiel. Wer ein Messer trug, sollte damit umzugehen wissen, oder es besser nicht bei sich haben. Sonst konnte eine schlimme Situation zu einer katastrophalen Situation werden. Aber da wollte sie nicht mit ihm streiten.
    “Gut, dann machen wir es so, wie du gesagt hast. Und wenn es mir seltsam oder merkwürdig vorkommt, geh ich einfach.“
    Sie kuschelte sich noch ein wenig enger wieder an ihn. So einen lieben Mann hatte sie eigentlich gar nicht verdient. Und doch war sie so unendlich froh, dass sie ihn hatte.

    Irgendwie gefiel Penelope das ganze nicht so richtig. Wenn er es für so gefährlich hielt, sollte sie vielleicht wirklich besser gar nicht erst hingehen. So, wie Ànthimos plante, konnte einem ja Angst und bange werden.
    “Meinst du wirklich, dass es so gefährlich sein könnte? Ich möchte mich nicht unbedingt in Gefahr begeben, weißt du. Wenn das wirklich eine Verschwörung sein sollte, sollten wir uns vielleicht am besten einfach heraushalten?“
    Da sprach ihre Erfahrung aus Rhakotis einfach aus ihr. Wer nichts sah und nichts wusste, bei dem gab es auch keinen Grund, ihn zum Schweigen zu bringen. Und immerhin hatte Penelope mit ihrem Körper nun mehr Verantwortung als nur für sich selbst. Da konnte sie doch nicht einfach sich in eine so gefährliche Situation bringen, oder?
    “Ich meine, ich glaube nicht, dass es dort so gefährlich sein könnte, aber wenn du das meinst, da vertrau ich dir.“