Beiträge von Duccia Elva

    Es war Elfleda einfach unbegreiflich, wie man so leben konnte. Ihr Heim war ihr Leben, sie kannte es gar nicht anders. Man hegte und pflegte das Haus und die Felder drumherum, hielt alles in Schuss und versuchte, immer neue Verbesserungen anzubringen. In einem Haus lebten drei, vier, manchmal sogar fünf Generationen beisammen. Und schon allein, um zu überleben, musste man mit den gegebenen Ressourcen haushalten.
    Und hier war es so anders. Die Römer hatten so viel, was sie eigentlich gar nicht brauchten. Sie waren so unvorstellbar reich! Es war dekadent! Und anstatt, dass sie mit ihrem Reichtum noch mehr auf ihre Umgebung achteten, verschwendeten sie ihn einfach! Jeder gab seinen Wohlstand nur für sich aus, wie es der Germanin schien, und der Rest war ihm herzlich egal. Nun, auch Elfleda war kein barmherziger Samariter, der Brot an alles und jeden verteilte, aber diese Art des Egoismus, den sie langsam erkannte, der war ihr einfach unbegreiflich. Auch nach Landos Erklärung.


    Sie kamen zu dem Fluss und Lando führte sie auf einen Steg. Er erklärte weiter, wie der Hafen funktionierte, aber Elfleda hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihr Blick war nach unten gewand, auf die kleinen Ritzen zwischen den genagelten Balken, wo das Wasser durchschien. Wie tief es wohl sein mochte? Hielt dieses Konstrukt denn auch wirklich sicher? Was, wenn die Dielen morsch waren? Oder wenn eine große Welle kam?
    Instinktiv kam sie näher zu Lando und ergriff seinen Arm, hakte sich eng an ihm ein. Nach seinen Erläuterungen machte sie nur sehr halblaut einmal “Hmhm“ und behielt weiter den Blick bei dem Wasser. Die Brücke, über die sie gefahren waren, um herzukommen, war schon unheimlich gewesen. Aber dieses Gebilde, das nur halb in den Fluss ragte, war noch viel, viel unheimlicher.
    Kurz sah sie einmal vom Wasser zu ihrem Mann und meinte, ein wenig Unverständnis in seinem Blick zu entdecken. Für ihn war ihr Verhalten sicher kindisch und albern, aber in diesem Moment hatte Elfleda wirklich etwas Angst. Da war es ihr egal, ob er sie für kindisch hielt.
    “Und dieses… Ding hier… ist wirklich sicher? Ich kann nämlich nicht schwimmen“, erklärte sie halbherzig ihre Reaktion und schaute wieder auf den Fluss, der groß und breit dahinfloss.

    Ich hab jetzt zwar Photoshop, aber ich denke mal, wird sich in dem Punkt nicht groß unterscheiden.


    Du erstellst einfach ein Textfeld (Photoshop macht das automatisch auf neuer Ebene, wenn man auf das schicke Text-T gedrückt hat und dann einen Rahmen zieht, in dem man schreiben möchte), stellst Schriftgröße und Schriftart ein, die du haben willst, daneben evtl noch Schriftfarbe, und schreibst einfach, was da stehen soll. Evtl Schriftgröße oder Feldgröße anpassen.
    Das ganze dann wie beschrieben als gif speichern und fertig ist die Unterschrift.

    Elfleda mühte sich, bei seinem ersten Satz nicht zu schmunzeln. Er wirkte dabei so ernst und nachdenklich, und dennoch schien er ihr seltsam. Römer kannte sie schon ihr ganzes Leben lang. Die Mattiaker waren ihnen nicht erst vor wenigen Jahren begegnet, immerhin waren sie fast so etwas wie Nachbarn. Und sie waren auch schon so lange Zeit Verbündete, dass sie es eigentlich gar nicht anders kannte. Natürlich sah man sie eher selten. Wozu sollten sie auch ins Land der Mattiaker kommen? Die paar Händler, die sich dorthin verirrten, waren selten lange da, und die meisten von ihnen waren noch nicht einmal Römer, sondern Germanen von jenseits der Grenze oder aber Kelten.
    Dennoch hatte der Satz etwas befremdliches, und Elfleda musste sich erst in Erinnerung rufen, dass Landos Volk nicht immer diese Nähe zum Imperium gehabt hatte. Er hatte ihr ja erzählt, dass er eigentlich noch nicht einmal Amisvarier war, sondern Cherusker. Vermutlich hatten deren Gebiete, die weiter nordöstlich lagen, weniger Kontakt mit den Römern gehabt. Und wenn sie Lando so ansah, schien auch er für einen Moment sehr weit von all dem hier weg zu sein.


    Sie gingen weiter und Lando erzählte weiter. Gebannt lauschte sie seinen Ausführungen, so sehr, dass sie beinahe in einen Haufen Dung getreten wäre. Aber nur beinahe. Missmutig schaute sie auf den Dreck, als sie daran großzügig vorbeiging, und folgte Lando Richtung Hafen.
    Elfleda, die fernab jeden größeren Gewässers aufgewachsen war und noch nicht einmal schwimmen konnte, hatte in ihrem Leben noch nie einen Hafen gesehen, geschweige denn, dass sie seinen Nutzen gekannt hätte. Sie wusste zwar, dass Schiffe auf dem Rhein auch Waren brachten, oder dass man im Fluss fischen konnte, allerdings hatte sie keinerlei Vorstellung von den Mengen und Größenverhältnissen des Ganzen.
    Daher blickte sie doch immer skeptischer auf die immer unsachgemäßer zusammengebauten Wohnungen und hörte Lando mit immer fragenderer Miene zu.
    “Warum baut die Stadt diese Wohnungen dann hier, wenn sie immer überschwemmt werden? Wäre es da nicht besser, etwas weiter vom Fluss weg zu bauen? Dann muss man die Sachen, die mit den Schiffen kommen, halt etwas weiter transportieren?“
    Immerhin stand der Kornspeicher ihres Dorfes auch nicht direkt neben dem Feld, nur weil dann die Wege besonders kurz wären. In ihrem Dorf wurden die Dinge meistens gebaut, um möglichst lange, am besten für immer, zu halten und ihren Zweck zu erfüllen. Natürlich gab es immer wieder Neuerungen, und die Bauweise aus Holz gebot von sich auch schon einige regelmäßig auszuführenden Arbeiten. Aber im Großen und Ganzen blieb das meiste immer gleich.
    “Und warum kümmern sie sich nicht besser um ihre Stadt?“ Noch ein Dunghaufen, dem Elfleda auswich. Wieso ließen sie den hier liegen? Mussten sie keine Felder düngen, oder Felle gerben? Oder hatten sie tatsächlich so viele Rindviecher, dass sie gar nicht wussten, wohin mit den ganzen Ausscheidungen?
    “Wenn sie das immer liegen lassen, stinkt das doch.“ Abgesehen davon, dass Elfleda sowieso fand, dass diese Stadt hier ein ganz eigenes Flair „verströmte“. Viele Menschen auf begrenztem Raum roch eben anders als das weite Land mit seinen Feldern und Wäldern und dem Wind, der durch das Dorf pfiff.

    Nachdem Elfleda verstanden hatte, dass deshalb niemand einschritt, weil es zum Brauchtum unter den Römern gehörte, hatte sie sich beruhigt und dem Brautzug angeschlossen. Allerdings konnte sie in das freudige Rufen der römischen Gäste nicht einfallen. Es war falsch! Egal, was die Römer auch sagen mochten, es war schlicht und ergreifend falsch! Eine Frau zu rauben war ein Verbrechen, punkt, aus, basta. Daran gab es nichts zu rütteln, auch wenn es unter den Römern wohl ein spaßiger Brauch war. So oft wurden Frauen im Reich wirklich gegen ihren Willen verschleppt – zwar dann nicht unbedingt, um ihren Entführer wirklich zu heiraten, sondern meist, um weiterverkauft zu werden – da sollte man keine Scherze darüber machen.
    Elfleda sah, dass es ihrem Mann auch nicht wirklich passte, was hier geschah, aber besser konnte sie nicht in ihm lesen. Sie hörte seine knappen Worte und nickte dazu. Ja, dieser Brauch musste wirklich nicht bei ihnen Einzug halten. Eine Ehe sollte nicht mit einem Verbrechen beginnen.
    Das einzige, was Elfleda zu der ganzen Sache einfiel, war ein Satz, der durch einen übergewichtigen Kelten der Menschheit noch lange in Erinnerung bleiben sollte. Ganz leise – denn immerhin wusste sie nicht, wer sie verstand und wer nicht – raunte sie ihrem Mann zu: “Die spinnen, die Römer!“

    Eine knappe Antwort und ein ein wenig missmutig dreinblickendes Gesicht bekam Elfleda als Antwort. Aber ihr Mann war eben nicht von der gefühlsbetonten Art. War sie eigentlich auch nicht, nur im Moment war es ihr wichtig gewesen, dass er wusste, was sie so fühlte. Doch so war er nun mal nicht.
    Allerdings war das für Elfleda weit weniger schlimm, als Lando vielleicht denken mochte. An den Luxus, etwas nur unter vier Augen zu besprechen, wo kein Blick einen verfolgte und niemand anderes einem zuhören könnte, musste sie sich zwar erst noch gewöhnen, aber sie verstand ihn da sehr gut. Also lächelte sie nur leicht zurück und hörte sich seine Erklärungen über das Geld an. Ganz leicht schüttelte sie dabei den Kopf. Für Münzen, die man erst wieder tauschen musste, jemanden umzubringen… diese Welt hier war schon seltsam.
    “Nun, ich kenne es nur ein bisschen. Aber du hast recht, ich kann mir wohl nicht vorstellen, was man damit alles machen kann. Wenn wir mal Münzen für irgendwas genommen haben, wenn wir Gäste aus dem Reich hatten, hat Rodewini die anschließend in eine Kiste gepackt, um sie irgendwann gegen Schmuck oder so etwas einzutauschen. Aber meistens lagen sie nur in der Kiste.“
    Wozu brauchte man die Dinger schon? Nun, einige Münzen waren ja recht hübsch, aber im Grunde konnte man sie nichtmal als Schmuck tragen. Elfleda hatte wirklich keine Ahnung, wie der Wert dieser Dinger wirklich war. Sie konnte sehr genau sagen, wie viel eine Ware im Verhältnis einer anderen wert war, was ein guter Tausch war, was ein schlechter. Aber Geld hatte sie noch nie besessen, geschweige denn ausgegeben.
    “Aber wenn es so eine böse Wirkung hat, warum benutzt man es dann so viel? Gut, für ein schönes Pferd oder etwas Schmuck oder auch viel weniger wird auch getötet und betrogen, aber… mir erschließt sich die Nützlichkeit nicht wirklich.“
    Sie zuckte leicht mit den Schultern. “Wäre es nicht besser, man würde solche Gefallen auch mit Eiden und anderen Gefallen vergelten? Oder trauen sie diesem Metall mehr als dem Wort eines Mannes?“
    In diesem Moment überlegte Elfleda, wie sie wohl verfahren würde. Auch wenn man für Münzen schnell andere Dinge eintauschen konnte, ihr wäre ein treuer Gefolgsmann doch lieber als der schnelle Gewinn. Sie würde niemanden beschämen, der ihr einen gefallen schuldete, indem sie sich diesen durch Münzen bezahlen ließ. Gegen etwas tauschen, das vielleicht, aber das Prinzip, bezahlt zu werden, kam ihr dabei irgendwie falsch vor.

    Offenbar nahm er ihr ihren kleinen Ausflug in die Politik nicht krumm. Stattdessen gingen sie endlich von diesem unheimlichen Gebilde weg und er antwortete auf ihre zugegebenermaßen etwas ungeschickt formulierte Frage. Ein wenig hatte sie es sich schon gedacht, dass er es wohl konnte und dass es wichtig war, aber nun hörte sie es ganz direkt und ohne Umschweife und versuchte, nicht zu skeptisch dreinzuschauen. Elfleda hasste es, wenn sie etwas nicht konnte und um Hilfe fragen musste. Und hierbei würde sie Hilfe brauchen, denn sie konnte diese ominöse Schrift wirklich nicht. Nichtmal ansatzweise.
    “Aber ich will es lernen. Wenn du sagst, dass es hier so wichtig ist, wäre es schon töricht, es nicht zu lernen.“
    Nun, das waren die rein vernünftigen Gründe, die dafür sprachen. Elfleda war per se sehr kopfgesteuert, aber eigentlich bewog sie doch eher ein emotionaler Grund.
    “Und außerdem möchte ich dir eine Hilfe sein als deine Frau, und nicht nur aus Politik an deiner Seite“, gestand sie also, wenn auch um einiges leiser als das vorher gesagte. So oft, wie sie ihm bisweilen nachts ihre Liebe zuflüsterte, sollte er sich sehr sicher sein, dass sie nicht aus Politikgründen gern seine Frau war, und sie war sich auch sicher, dass Lando sie wirklich als Frau haben wollte. Dennoch wollte sie, dass er stolz darauf war, sie zur Frau zu haben, und sich nicht gar am Ende noch für sie schämte.
    Elfleda war es nicht gewohnt, in der Gesellschaft einen unterlegenen Standpunkt einzunehmen. Wo sie herkam, gehörte sie zu denen, zu denen man aufblickte. Sie war da, wo alle immer sein wollten. Aber hier in dieser Stadt kam sie sich noch ein wenig vor wie das fünfte Rad am Wagen. Eigentlich konnte sie nichts, womit sie Lando ein wenig nützlich wäre. Das musste sich schnell ändern.


    Sie gingen weiter und kamen an eine für Elfledas Verständnis verdammt riesige Kreuzung. Hier trafen zwei Straßen aufeinander, an denen zwei Wagen mühelos aneinander vorbeifahren konnten, ohne dass ein Ochsengespann auch nur ein wenig ausweichen musste. Lando schritt unbeirrt über die Straße, und Elfleda kam rasch mit ihm, auch wenn sie sich schon allein beim Laufen auf diesem Weg irgendwie dekadent vorkam. Hier in der Stadt war irgendwie alles einfach größer, breiter und höher.
    Lando zeigte ihr ein Gebäude und erklärte, dass es auch seiner Sippe gehörte. Elfleda hatte von Gasthäusern schon gehört, aber noch nie eines betreten. Bislang war das auch nie nötig gewesen, hatten sie doch, wenn sie schon gereist war, bei befreundeten Sippen immer einen Platz am Feuer gefunden. Wer brauchte da Gasthäuser?
    Neugierig schaute sie zu dem Gebäude und ließ sich von Lando erklären, wie sie es bekommen hatten.
    “Ich würde sehr gerne. Ich war noch nie in einem Gasthaus, ich möchte es gern kennen lernen.“
    Lando kannte die anderen besser als sie, er würde schon Recht haben, wenn er meinte, es würde sie nicht stören. Da vertraute Elfleda auf seine Einschätzung, und ihre Neugierde war einfach wahnsinnig groß.
    “Dann ist das so ähnlich, wie wenn man einem Knecht ein Feld etwas außerhalb gibt, das er allein bewirtschaftet? Also, so ganz grob?“
    Nicht, dass sie damit ein Unfreiheitsverhältnis unterstellen wollte, aber so ein wenig verstand Elfleda das ganze. Das war etwas, das sie kannte. Die Felder im Osten gab ihr Vater auch an ein paar von ihrem Gesinde ab, damit sie es selbst bewirtschafteten. Dafür hatte er mit dem Land keinen Ärger, hatte einen Hof, der treu zu ihm stand und in einem harten Winter holte man die Leute mitsamt dem Vieh zurück und hatte etwas mehr Proviant als auf andere Weise. Ein wenig klang dieses Pachten für Elfleda nach diesem Prinzip, wenn auch hier Münzen getauscht wurden und nicht Schwüre und Vorräte.

    Die ersten Platten waren noch gut gefüllt mit Eiern, als sie plötzlich hinausgetragen wurden und welchen mit Fischen Platz machten. Elfleda schaute etwas skeptisch auf einige der Meerestiere, die sie nicht kannte. Es warne verschiedene Fische, Karpfen und Lachsforellen kannte sie, aber auch Muscheln und Krebse und komische Tiere, die nicht wirklich schmackhaft aussahen.
    Ihre Sippe lebte auf dem Land und ernährte sich von dem, was die Felder hergaben, von Wild und von dem Vieh, das sie hielten. Fisch gab es seltener, da bei ihnen kein Gewässer in unmittelbarer Nähe lag. Nur ab und an fischte mal jemand an den Bächen und Tümpeln, aber soviel, dass man es täglich essen würde, fing man dann doch nicht. Von daher war Fisch ein seltenes Gut und für Elfleda wertvoll. Auch wenn sie das Essen wegen der gräten an sich nicht so toll fand, aber über Luxus wollte man schließlich nicht jammern.
    Sie nahm sich eine Forelle und zerpflückte den Fisch vorsichtig mit den Fingern. Sie ließ sich Zeit dabei und bekam so den butterweich gegarten Fisch gut auseinander, ohne viele Gräten im Fleisch mitzunehmen. Dazu ließ sie sich von dem dünnen Bier nachschenken, schließlich wollte ein Fisch auch im Bauch noch gerne schwimmen, wie es so schön hieß, und etwas Brot. Das war schon eher nach ihrem Geschmack als die vielen Eier, auch wenn sie der Verschwendung der vollen Platten des ersten Ganges sehr skeptisch gegenüberstand. Sie hatte hier nicht einmal Schweine gesehen, die die Reste hätten fressen können.
    Auf die Idee, dass die Reste als Armenspeisung gedacht waren, kam Elfleda erst gar nicht. Dafür war ihr das Prinzip des Stadtwohnens mit der herrschenden Armut einzelner Personen einfach zu fremd.

    Eigentlich wollte Elfleda gerne noch viel mehr nachbohren. Wann schon hatte sie die Gelegenheit dazu, so offen ihre Fragen zu stellen und so ausführlich Antwort zu erhalten? Aber Arbjon schien sich schon ein wenig in die Ecke gedrängt zu fühlen, und Elfleda wollte nicht gleich in ihrer ersten Woche durch allzu zielstrebiges Verhalten noch auffallen. Also beschloss sie, es erst einmal gut sein zu lassen, auch wenn sie dazu noch viele Fragen gehabt hätte.
    “Ich habe ja nun Zeit, alles kennen zu lernen. Ich bin nur unheimlich neugierig“, meinte sie so charmant und mädchenhaft, wie es ging, und wurde dann auch gleich vom Auftragen des zweiten Ganges von allen weiteren Erklärungen erst einmal unterbrochen.

    Irgendwie herrschte Aufbruchstimmung, als der Abend hereinbrach, und vor allem die Römer schienen auf etwas zu warten. Dann fing Lando an, etwas sehr merkwürdiges zu sagen. Brautraub? Elfleda schaute sich bei dem Wort fast reflexartig skeptisch um. Wer könnte Callista denn auf ihrer eigenen Hochzeit rauben wollen, noch dazu, wo beide Sippen anwesend waren? Der Mann musste schon selten dämlich sein, wenn er dachte, hier dann lebend herauszukommen. Nur was Lando mit legitim in diesem Zusammenhang meinte, erschloss sich ihr ganz und gar nicht.
    Und plötzlich ging Witjon selber los und zog an Callista, die bei ihrer Familie stand und scheinbar auch nicht mitwollte. Elfleda war im ersten Moment so perplex, dass sie gar nicht wusste, was sie sagen sollte. Am liebsten würde sie ihren neuen Vetter anschreien! Was machte der Kerl denn da bloß? Selbst seine Mutter schien etwas aus der Fassung und sprach laut aus, was Elfi sich nur dachte.
    Aber das Erschreckendste an der ganzen Sache waren die Römer, die das ganze auch noch amüsant zu finden schienen. Sie sah unter den Gästen einige freudige Gesichter. Hatten die denn alle den Verstand verloren? Was freute sie so an der Tatsache, dass Witjon sich vollkommen ehrlos verhielt und seine eigene Braut – allein das schon ein Zeichen des Wahnsinns – entführen wollte, noch dazu auf der eigenen Hochzeit! Die paar Stunden, bis man ihn und seine Frau gebettet hätte, hätte er doch noch warten können?
    “Will ihn denn keiner von euch aufhalten?“ fragte sie etwas verständnislos die umstehenden Männer ihrer Sippe. Die konnten doch nicht zulassen, dass der junge Mann seine Ehre so sehr mit Füßen trat, dass er sich zu so etwas herabließ.

    “Fünf… Tausend?“ wiederholte sie die Zahl etwas atemlos und schaute noch weiter zu dem Steinkoloss. Elfleda hatte noch nie so viele Bewaffnete auf einmal gesehen.
    Bei dem Krieg, den Lando erwähnte, war ein Teil der Streitmacht, die die Mattiaker aufgestellt hatten, bei Ihnen am Dorf vorbeigekommen. Das waren 600 Schwertträger gewesen, dazu 200 Berittene und etwa 1000 Speerträger und Bogenschützen, und sie hatte damals schon gedacht, welch gewaltiges Heer da doch über die Lande marschierte. Doch Fünftausend waren noch einmal deutlich mehr. Vor allem, wenn das wirklich alles Schwertträger sein sollten. Rom musste wirklich verdammt reich sein, wenn es sich so ein Heer leisten konnte. Und dann sagte Lando, das hier wäre nur ein sechstel der Truppen am Rhenus, und alle Truppen hier zusammen nur ein Drittel der gesamten Truppen! Wie groß war Rom, dass es so viele Männer erübrigen konnte? Noch dazu, wo diese nicht einmal heiraten und Kinder zeugen durften?!
    Elfleda war mehr als nur dankbar für seinen Halt und die Gesten, die er ihr schenkte. Diese Welt war ihr fremder, als sie angenommen hatte, und das würde wohl noch eine ganze Weile so bleiben. Da war sie sehr froh, dass ihr Mann schützend bei ihr war, so dass sie sich langsam an diese erschreckende Macht gewöhnen konnte.
    Sie atmete noch einmal tief durch und straffte sich dann ein wenig. Ihr Mann sollte ja nicht am Ende noch denken, er hätte sich ein ängstliches Huhn ins Haus geholt, das mit dem Leben hier nicht zurechtkam. Sie würde sich damit arrangieren, irgendwie. Und mit seiner Hilfe war sie zuversichtlich, es auch zu schaffen, auch wenn ihr die Vorstellung, was wohl noch alles kommen würde, ihr ein mulmiges Gefühl bescherte.


    “Natürlich konnten sie die Stämme nicht besiegen. Wenn sie etwas vereint, dann der Angriff eines mächtigen Feindes, und Rom ist zweifelsfrei mächtig. Die Männer verteidigen dann ihre Familien und ihre Höfe, und dann hat jeder Gegner allen Grund, sie zu fürchten. Die Liebe zu den Ihren gibt ihnen Kraft.
    Aber dennoch war Modorok verrückt, wenn er wirklich glaubte, diese Kraft in einen Angriff umwandeln zu können. Selbst wenn er gesiegt hätte, hätten sich die Stämme doch nur über die Beute wieder zerstritten. Das ist ihre größte Schwäche, dass sie sich nicht einigen können. Nicht einmal die, die gegen Rom sprechen, sind sich untereinander einig. Die Mattiaker haben gut daran getan, sich die Römer früh zu Freunden zu machen. Wir leben nach unseren Sitten auf unserem Land unter unseren Fürsten und profitieren doch von ihrer Stärke.“

    Und just in diesem Redeschwall fiel Elfleda auf, wie politisch sie sich gerade gab und vor allem, dass sie immer noch redete, als wäre sie bei ihrer Sippe. Ein wenig drehte sie sich in Landos Armen, um ihn entschuldigend anzuschauen.
    “Verzeih, ich habe wohl zu lange den Ausführungen meines Onkels gelauscht. Ich fürchte, das hat etwas abgefärbt.“
    Sie gab ihm noch einen entschuldigenden Kuss auf die Wange, auch wenn der Bart dabei verdammt kitzelte, und beschloss, das Thema vielleicht lieber sein zu lassen. Das war vielleicht kein Gespräch für die Straße hier. Vielleicht sollte sie auf das andere Thema zurückkommen, was er vorhin angesprochen hatte.
    “Da fällt mir ein, du kannst lesen, oder? Also, die römischen Zeichen? Ich kann weder die noch die Runen. Rodewini kann die der Römer, und für die Runen hatten wir unseren Goden. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob der das wirklich konnte, das ist schon manchmal ein sehr… godischer Mann.“
    Was soviel hieß wie, dass er alt war und sich in Rätseln auszudrücken pflegte, wenn er nicht gerade wie die anderen Männer einen über den Durst getrunken hatte oder irgendwo in der Umgebung unterwegs war. Aber er konnte die Zeichen der Götter deuten und hatte meistens einen guten rat bei der Hand, was wollte man mehr von einem Goden?
    “Einmal waren römische Unterhändler bei uns zu Gast für mehrere Tage. Das war kurz vor dem Krieg mit Modorok, ich war noch ziemlich jung. Da hat mir einer gezeigt, wie mein Name geschrieben wurde. Das kann ich glaube ich noch, aber ich weiß es nicht. Braucht man das denn hier viel, diese Zeichen?“
    Bei allem, was sie bislang von den Römern mitbekommen hatte, gab es etwas, das sie aufgeschrieben hatten. Von daher war es vermutlich wichtig für sie, aber ob Elfleda das auch brauchte, war eine andere Frage.

    Zwar kannte Elfleda Münzgeld schon, immerhin waren in ihrem Dorf regelmäßig fahrende Händler. Allerdings konnte sie sich gar nicht vorstellen, dass man mehr von diesen Münzen bekommen sollte, wenn man sich nicht selbst versorgte. Andererseits war es auch wieder logisch, brachte man sich doch so selbst in Abhängigkeit des ganzen Systems. Allerdings hatte sie noch Zweifel an dessen Überlegenheit. Wobei sie einige Punkte, die er ansprach, kannte.
    “Ja, Rodewini erzählte sowas ähnliches. Du bist doch an unseren Nordfeldern vorbeigeritten, als du um mich geworben hast? Im Winter sieht man davon nicht so viel, aber da haben wir ganz schön viel umgestellt. Bewässerungsgräben gelegt, und noch ein paar Dinge. Rodewini war vor einigen Jahren fast ein Jahr hier im Reich, wusstest du das? Er meinte, wir könnten hier vieles lernen, was unser Überleben sichern würde.“
    Er hatte noch einiges mehr gesagt, aber Elfleda würde das hier nun nicht brühwarm weitertratschen. Außerdem war es nicht so wichtig, denn die Quintessenz davon war ohnehin nur, dass Rom allem, was die Stämme aufbringen konnten, im Moment weit überlegen war und man gut daran tat, ein Freund des Reiches zu sein.


    Sie schlenderten weiter, und Lando warnte sie vor. Sie schenkte ihm einen leicht neckischen Blick, als er die Festung ankündigte. So gewaltig konnte sie ja kaum sein. Und selbst wenn, sie war die Tochter von Sarwolf aus dem edlen Stamm der Mattiaker. Sie würde vor einem Gebäude nicht schreiend davonlaufen.


    Doch als sie um besagte Ecke kamen, war sie sich mit einem Mal nicht mehr ganz so sicher. Unwillkürlich trat sie einen Schritt rücklings und fand sich in den Armen ihres Mannes wieder, der sie beschützend hielt. Ihre Hände wanderten auf seine, die ihren Bauch umschlossen, und er konnte wohl das leichte Zittern in ihren fühlen.
    Das Gebäude war gewaltig. Ein riesiger Haufen Stein, eine befestigte Mauer. Ihr Dorf hatte auch einen Wall, aber der war aus Holzpalisaden. Das hier war Stein, übermannshoch, dick, abweisend. Um das obere Ende zu sehen, musste sie gegen die sonne blicken, und so sah sie immer wieder das Aufblitzen eines Eisenhelmes oder eines Speeres. Sie konnte Stimmen von drinnen hören, ein paar gebrüllte Befehle, die sie nicht wirklich verstand.
    Elfleda zog sich noch ein Stückchen in Landos Arme zurück und starrte dieses Ungetüm einen Moment einfach an. Im ersten Moment registrierte sie nicht einmal wirklich, was Lando darüber sagte. Sie schaute nur erschreckt zu dem Tor, wo sich wie aus dem Maul einer Bestie ganze Scharen zu ergießen schienen, die in den Bauch hinein oder aus diesem herauszukommen schienen. Beeindruckend war nicht das Wort, das Elfleda gewählt hätte, um es zu beschreiben. Beängstigend traf es fiel eher.
    “100 Schwerter…“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Lando. Erst als sie die Bewegung seines Kopfes an ihrem spürte und merkte, dass sie laut gedacht hatte, nahm sie sich zusammen und sammelte sich.
    “Auf einen Ruf von meinem Vater erheben sich einhundert Schwerter. Ich hielt das immer für eine gewaltige Zahl. Aber da drin sind weit mehr als hundert Schwertträger, oder?“
    Ein Schwert hatte den Wert eines Hofes, also hieß 100 Schwerter nicht mehr und nicht weniger, als über 100 Höfe verfügen zu können. Die ganzen Leichtbewaffneten noch nicht einmal mitgerechnet. Eine gewaltige Menge, wenn auch durch den relativen Reichtum ihrer eigenen Sippe relativiert. Allein aus ihrem eigenen Dorf kam knapp die Hälfte besagter Bewaffneter. Aber dennoch eine beachtliche Menge.
    Und hier in diesem steinernen Monstrum wurde diese Zahl zu einem Nichts ohne Bedeutung, und ein wenig zog das Elfleda den Boden weg. Sie hatte sich immer sicher gefühlt, weil niemand es wagen würde, sie zu beleidigen, aus Angst vor den Konsequenzen. Aber das hier war um einiges größer. Bislang war sie ein großer Fisch in einem kleinen See gewesen, und nun hatte Rodewini sie direkt ins offene Meer geworfen.
    Elfleda hielt sich noch ein wenig mehr an Landos Händen fest und ließ sich von seiner Gegenwart beruhigen, bis sie sich weit genug gesammelt hatte. Der Schrecken war noch immer groß, aber das Gefühl, dass ihr die Beine umknicken würden, das hatte sie unter Kontrolle.
    So langsam verstand sie die Reden ihres Onkels, warum ein Krieg der Stämme gegen die Römer zum Scheitern verurteilt war.

    “Dann sollte ich dich heute Nacht vielleicht einmal durchschlafen lassen. Alte Männer brauchen ja ihren Schlaf“, meinte Elfleda nur neckisch zurück und schloss sich Lando auf dem Spaziergang an. Gerne hätte sie sich bei ihm eingehakt, aber er schritt ziemlich zügig voran und bot ihr auch nicht den Arm. Sie war sich etwas unschlüssig, ob das hier vielleicht unangebracht war. Immerhin waren die Römer etwas eigen, wenn es um Körperkontakt ging, soviel hatte sie schon gelernt.


    Also begnügte sie sich erst einmal damit, neben ihm herzugehen und seinen Erklärungen zu folgen. Sie betrachtete das angedeutete Haus und bedachte es mit einem mehr als skeptischen Blick. Mehrere Stockwerke hatte es, und es war aus Ziegeln und Steinen erbaut. Jetzt war Elfleda zwar schon einige Tage hier, allerdings war das doch noch immer ein sehr fremder Anblick. Und dass dort freiwillig viele Menschen lebten und dafür auch noch Geld zahlten, das war eine seltsame Erkenntnis.
    “Aber wenn sie so wenig dafür bekommen, den ganzen Tag dasselbe zu machen, warum machen sie nichts anderes? Wenn sie gesund und kräftig sind, wären sie doch selbst als Knecht auf einem Hof besser dran.“
    Elfleda sah die Vorteile dieses Lebens nicht. Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als sie sich vorstellte, sie würde in dem steinernen Ungetüm dort wohnen. Das Haus, das ihrer neuen Sippe gehörte, war ihr ja schon stellenweise unheimlich. Auch wenn sie es nicht zugab und versuchte, zu verbergen. Aber das dort drüben war fast wie ein Käfig für Menschen.
    Diese Art von Armut, von der Lando sprach, kannte Elfleda nicht. Natürlich kannte sie Hunger und Entbehrung, kannte die Verzweiflung, wenn man nicht wusste, wie man den Winter überstehen sollte. Sie kannte die ganze Härte, mit der die Natur den Menschen bedenken konnte, und die Grauen von Blutvergießen und Fehden, wenn man um geliebte Menschen bangte und hoffte, sie würden zurückkehren. Aber diese Art von Armut, von der Lando sprach, dass es einzelnen Personen in der Gemeinschaft eines Dorfes so arm erging, dass sie nichts zu essen hatten und so wohnten, die kannte sie nicht. Natürlich gab es auch in ihrem Dorf Standesunterschiede, die auch teilweise deutlich gelebt wurden. Aber wenn ein Mann nicht mehr für sich und die Seinen sorgen konnte, hätte man sich einem Adeligen dann verpflichtet, die ganze Sippe hätte es mit einem getragen. Aber das hier war wieder etwas, das einzelne Menschen nur betraf und vielleicht die Eltern und Kinder. Die römische Familie war viel kleiner und direkter als die germanische Sippe.
    An einer Kreuzung blieb Lando schließlich auch stehen und wartete auf sie, dass sie zu ihm richtig aufschloss. Elfleda stellte sich dicht zu ihm. Die Stadt ängstigte sie, auch wenn sie es zu verbergen suchte, und so suchte sie Schutz und Nähe bei einem Vertrauten. Zuhause war sie nie allein gewesen, auch wenn ein Mann eindeutig etwas anderes war als ein Geschwister oder eine Base.


    “Die Römer teilen alle Arbeiten in spezielle Dinge auf, oder?“ Elfleda erinnerte sich an das Gespräch, dass sie und Lando auf ihrer Verlobungsfeier schon geführt hatten. Auch damals hatte er etwas ähnliches erklärt. “Aber wenn sie gar nicht zu einer Sippe gehören und ihre Familien nicht so zusammenhalten, wie versorgen sie sich dann alle ausreichend?“
    Auch wenn das Land der Römer groß war, Elfleda konnte sich nicht vorstellen, dass es alle ernährte, wenn jeder Mann nicht für sich selber sorgen konnte, sondern nur spezielle Dinge machte und von den Bauern dann kaufte.

    Festes Schuhwerk anzuziehen war kein Problem für Elfleda. Sie hatte nur zwei Paar Schuhe. Lederschuhe für den Sommer, wenn es heiß war, und fellgefütterte Stiefel für den Winter. Da es nun schon langsam sommerlich wurde, hatten also die leichteren Schuhe sehr schnell gewonnen. Nur der Rest an Kleidung dauerte dann doch einen Moment, Elfleda wollte ja nicht irgendwie einfach auf die Straße gehen. Hier würde sie fortan leben, hier würden ihre Kinder aufwachsen, da wollte sie sich der Stadt schon dementsprechend präsentieren, ohne übertrieben zu sein. Und das hieß, sich kurz umzuziehen.
    Also dauerte es gefühlte zehn Minuten, bis sie schließlich mit einem Kleid aus blauem Stoff, fein geflochtenem Haar und einem recht einfachen Silberreif um den Hals als Schmuck vor die Tür trat. Und erstmal ein wenig verwirrt zu ihrem Gatten herunterblickte, der sich hingesetzt hatte.
    “Können wir los?“ fragte sie ihn mit einem freudigen Lächeln im Gesicht. Vielleicht brauchte er ja noch einen Moment bei was auch immer er da machte.

    Aufmerksam verfolgte Elfleda Arbjons Erklärung und verstand nicht, was daran nun wirklich großartig unterschiedlich sein sollte. Schließlich konnten auch im freien Germanien Menschen mehr werden als das, was ihre Väter waren. Nicht erst ein Kunningaz hatte sich scheinbar aus dem nichts erhoben, und immer wieder erlangte ein Unfreier seine Freiheit. Und isoliert lebten ihre Sippen ja auch nicht. Man stelle sich allein die Inzucht vor, wenn das so wäre. Man hatte natürlich Kontakt zu anderen Sippen. Was daran hier im römischen Riech nun großartig anders war, verstand Elfleda nicht gleich. Nur dann wurde Arbjons Erklärung etwas genauer, und so langsam begann es Elfleda zu dämmern, was anders sein könnte.
    Auch Arbjon schaute nun Lando an, und als dieser von seinem Wachtelei aufblickte, stutzte ihr Mann kurz und machte einen Witz über die Friesen, der gar nichts mit dem eben gesprochenen zu tun gehabt hatte und Elfleda etwas ratlos zurückließ. Nach der ersten Sekunde, in der der einzige Gedanke ein verblüfftes Aha war, lächelte sie ihm dann etwas schief zu. Ein wenig lustig war der Witz ja durchaus gewesen.


    Doch dann wandte sie sich ziemlich schnell dem etwas hilflosen Arbjon zu. Elfleda wollte das jetzt wissen, es interessierte sie wirklich. Sie wusste zwar einiges durch ihren Vater und ihren Onkel, aber das römische Rechtssystem fiel da nun mal nicht drunter. Allerdings wäre es besser, das kennen zu lernen, vor allem, wenn sie hier länger leben würde. Je eher sie mögliche Stolperfallen kannte, umso eher konnte sie sich damit arrangieren. Und nochmal bekam sie Arbjon wohl nicht in eine solche Lage, dass er ihr antworten musste und sich nicht rausreden konnte. Chancen musste man nutzen, wenn sie sich ergaben.
    “Heißt das, dass die Römer einen Fürsten von Adel ebenso hängen würden wie einen gemeinen Viehdieb?“
    Das war so ziemlich das eindringlichste Bild, was ihr einfiel. Es kam zwar reichlich selten vor, dass ein Mann von Adel wirklich zum Tode verurteilt wurde, allerdings hatte er Anrecht darauf, entsprechend seinem Stand geköpft zu werden und nicht hingerichtet wie ein unfreier Geächteter. Man mochte vielleicht argumentieren, dass Tod gleich Tod sei, doch für Elfleda machte das schon einen ganz gewaltigen Unterschied.
    “Und innerhalb einer Sippe ist es dann auch anders?“ Arbjon hatte das zwar nicht gesagt, aber Elfleda las es zwischen den Zeilen heraus. “Sie halten nicht so zusammen, wie es bei uns brauch ist? Ihre Fürsten kümmern sich nicht so um die, die ihnen folgen?“
    Was musste das für eine trostlose Einsamkeit sein, in der die Römer aufwuchsen.

    Skeptisch blickte Elfleda zwischen Phelan und Arbjon hin und her.
    “Ihr wollt mich aufziehen, oder?“ fragte sie schließlich etwas unsicher. Doch entweder waren die beiden im Veralbern wirklich gut, oder sie meinten es tatsächlich ernst. Da war keine Spur von Belustigung über sie in ihren Augen erkennbar.
    Aber das konnte doch nicht sein, was sie erzählten! Wie vermessen war denn bitte das? Man konnte doch nicht über einen freien Menschen einfach so richten?
    “Und warum zahlen sie nicht einfach das Wehrgeld? Und was machen ihre Adeligen? Lassen die das einfach so geschehen?“
    Elfleda war sich sicher, dass Rodewini schon einen verdammt guten Grund gebraucht hätte, indem er ein Urteil über einen seiner Untergebenen einfach so von einem Fremden hätte sprechen lassen. Adel hieß ja nicht nur, dass man es geschafft hatte, dass andere einem folgten und zu einem aufblickten, sondern auch, dass man eben jene Untergebenen schützen musste. Wenn es etwas gab, was kleinere Sippen, die einem Gefolgschaft leisteten, nicht selbst regeln konnten, dann war der Adel dazu da, gerechte Urteile zu fällen und gegebenenfalls zu verhandeln. Aber im Grunde bestimmte sich ohnehin alles über das Wehrgeld. Und wenn das gezahlt wurde, war man zufrieden. Manche Feinheiten galt es nur zu regeln, wenn das Geld nicht gezahlt werden konnte oder sich gar einer weigerte. Doch Phelan sah ihr nicht aus wie einer, der sich drücken würde, und ihre neue Sippe war nach allem, was sie bislang gesehen hatte, wirklich verdammt wohlhabend, so dass Wehrgeld auch kein Problem sein sollte.
    Nun, Arbjon hatte das sicherlich auch im Scherz vorhin gesagt, aber dennoch musste ja etwas dran sein, sonst wäre es ja auch kein Scherz. Und Elfleda verstand es wirklich nicht, wie das funktionieren sollte.
    “Oder sind diese Richter aus dem Adel ihrer Sippen?“


    Lando neben ihr hatte auch angefangen zu Essen. Nun bekam auch er diesen verständnislos fragenden Blick, der fast schon ein Hilferuf war. Elfleda kam sich im Moment vor, als hätte sie bislang irgendwo in einem Erdloch fernab der Menschenwelt gewohnt, so wenig wie sie scheinbar über ihre neue Welt wusste. Ein ganz klein wenig bekam sie bei diesem Gespräch Heimweh. Dort verstand sie wenigstens alles, was geschah und was gesprochen wurde, und es gab keine seltsamen Gerichte, die freie Männer bestraften fürs Trinken.

    Also kannte sie das Wort doch richtig, oder zumindest fast. Allerdings verstand sie nicht ganz, was Arbjon damit sagen wollte und schaute dementsprechend verwirrt drein.
    “Gerichte? Was für Gerichte? Für was?“
    Elfleda war in einer Welt aufgewachsen, in denen es wirkliche Gerichte nicht gab. Natürlich war Germania kein rechtsfreier Raum, aber Verbrechen innerhalb der Sippe regelte die Sippe, und zwischen zwei Sippen verhandelten dann die Anführer der Sippen miteinander. Und bei noch größeren Streitigkeiten gab es ein Thing. Aber so etwas wie ein Gericht, dass ein einzelner Mensch über Recht und Unrecht bei Leuten urteilte, die er nichtmal kannte, das kannte Elfleda nicht. Zumindest nicht, wenn es sich um einen freien Mann handelte, und Phelan war ja einer. Ebenso wie das Strafmaß, wurde in ihrer Welt doch selbst Totschlag mit Bezahlung eines Wehrgeldes abgegolten – oder eben Blutrache, aber das war noch einmal ein anderes Thema. Aber das ein Mensch einen anderen richtete, vor allem bei so etwas profanem wie betrunken zu sein, das kannte sie nicht.
    “Betrinken sich Römer denn nicht manchmal? Oder sind das so schlimme Raufbolde, dass man sie zur Sicherheit dann gleich einsperren muss?“
    Der Zusammenhang erschloss sich Elfleda nun wirklich nicht.

    “Auf jeden Fall müssen das riesige Viecher sein.“ Elfleda hatte ein Bild vor Augen von einem gewaltig großen Adler, wie es ihn in manchen Geschichten gab. Einige Riesen sollten sich ja in Adler verwandeln können, auch wenn das wohl Märchen waren. Aber angesichts dieser Eier mochte man gerne daran glauben.


    Sie selbst nahm sich mehr Brot, dazu etwas Bier. Auch wenn das nicht so kräftig war wie der Met und nicht so edel wie der Wein, davon konnte sie gut trinken, ohne betrunken zu werden. Außerdem wollte sie nicht so viel von dem unbekannten Essen verspeisen. Wenn man schon den dekadenten Luxus einmal hatte, beim Essen wählerisch zu sein, konnte man das ja auch mal ausnutzen. Es gab genug Zeiten, wo man es nicht ausnutzen konnte.
    “Was ist das, Arbjon, diese Castra? Eine Trinkhalle?“ Sie hatte gedacht, das Wort bedeutete sowas wie Heerlager, aber so sicher war ihr Latein noch nicht. Und Elfleda verstand nicht, warum man Phelan dorthin hätte bringen sollen, wenn er viel getrunken hatte? Er würde sich schon nicht bis zur Besinnungslosigkeit saufen, soviel Verstand traute sie jedem Mann zu. Was also sollte er dort?
    Auf die Idee, dass bei den Römern anders mit betrunkenen umgegangen wurde als bei ihnen zuhause, kam Elfleda gleich gar nicht. Bei ihr im Dorf kannten sich alle, die meisten ihr Leben lang. Warum also sollte man da dritte einschalten, wenn zwei ein Wetttrinken veranstalteten? Selbst, wenn sie sich im Suff stritten, hielt man sie einfach auseinander, wenn es zu arg wurde, um an nächsten Tag vertrug man sich wieder. Und passierte sowas auf einem Thing, zahlte man zur Not etwas Wehrgeld, und die Sache war aus der Welt.

    “Ach, Arbjon, das ist aber traurig. Ich hatte gehofft, du würdest noch etwas bleiben. Da hab ich dich kaum kennengelernt, und schon verlässt du uns wieder“, meinte Elfleda ehrlich betrübt. Natürlich nicht zu sehr, noch immer lächelte sie leicht, aber sie hätte ihren neuen Vetter gern noch ein wenig kennengelernt. Doch nun reiste er schon ab. Anders als bei Silko tat ihr das richtig leid.


    Marga hatte etwas Liebstöckel da und Elfleda nahm dankbar das Blatt entgegen, auch wenn die alte Frau etwas verbissen schaute, als sie es ihr brachte. Sie nahm es in den Mund und kaute langsam darauf herum, bis der scharfwürzige Geschmack ihren ganzen Gaumen auszufüllen schien, ehe sie es herunterschluckte. Es dauerte auch nicht lange, und ihr Magen beruhigte sich ein wenig, wenn auch nicht vollständig. Doch genug, dass sie nun vernünftig essen konnte.
    Oda war auch gekommen und hatte Platz genommen, und Elfleda lächelte der Freundin kurz zu. Den Blick, mit dem Oda sie gemustert hatte, beließ sie erstmal unkommentiert. Vielleicht war sie ein wenig blass um die Nasenspitze gewesen, immerhin war ihr wirklich übel gewesen. War bestimmt das andere Essen, und ihr Körper musste sich erst an alles gewöhnen. In Zeiten, wo im Mehl mehr als reines Roggenkorn zu finden war, schmeckte selbst das Brot von Jahr zu Jahr und von Dorf zu Dorf immer anders.
    An eine andere Erklärung für ihr kleines Unwohlsein wollte Elfleda noch nicht denken. Am Ende redete sie sich noch was ein, und sie wollte weder sich noch anderen falsche Hoffnungen machen. Daher nahm sie erstmal die gewöhnlichere Erklärung als wahre an und nahm sich nun endlich auch ein wenig Brot und ein Glas Milch.

    Dass sie im Garten essen wollten, hatte Elfleda zunächst gefreut. Doch als sie dann in den Garten gingen, klammerte sie sich unmerklich etwas an Lando fest. Natürlich nur in einem Maße, dass man es von außen nicht sehen konnte. Sie war kein kleines Kind, das sich fürchtend zusammenkauerte, sie war die Tochter eines Rich und die Nichte von Rodewini, der den Ruhm seiner Sippe sicher in die Geschichte einbrennen würde, wenn er genug Zeit hatte. Sie hatte nach außen hin keine Angst. Nur Lando durfte spüren – und das doch etwas deutlicher – wie unheimlich ihr dieser sogenannte Garten war und dass sie sich bei weitem nicht so selbstsicher im Moment fühlte, wie sie sich gab. Allerdings ging sie ohne mit der Wimper zu zucken bis zu dem Tisch und ließ sich auf einem dekadent bequemen Stuhl nieder, mit Polster. Nun, natürlich hatte sie schon auf gepolsterten Stühlen gesessen, so „unzivilisiert“ wie viele dachten waren die Germanen natürlich nicht. Aber in dem Maße hatte sie das sicher noch nicht gehabt.


    Und dann kam das Essen. Eier, große Eier, kleine Eier, gebraten, gekocht, gesotten, aber Hauptsache Eier. Elfleda sah ein wenig irritiert darauf. Davon würde nachher die halbe Hochzeitsgesellschaft sicher ganz schrecklich Sodbrennen haben. Elfleda beschloss aus eben diesem Grund nur wenig zu essen oder sich mehr an das dazugereichte Brot zu halten. Eigentlich hasste sie ja Verschwendung, aber es nützte ja nichts, wenn ihr dann nachher schlecht wäre.
    “Ich glaube, du hast die Eier vergessen, Alrik. Und beachte die Eier!“, meinte sie scherzend und zeigte auf die Silberplatten. Einige von diesen Eiern waren ihr unbekannt. Natürlich kannte sie Singvogeleier und auch Enteneier und Gänseeier, aber einige Eier hatten seltsam gefärbte Schalen oder waren riesig groß. Elfleda hielt sich an das, was sie identifizieren konnte und nahm sich ein Entenei.

    Endlich wurde dieses komische Tuch der armen Braut vom Kopf genommen, so dass sie auch sehen konnte, wem sie da treue und liebe schwor. Elfleda hatte bei den getauschten Gelübden nicht alles verstanden, und sie war viel zu stolz, um sich auch nur ein nichtgewusstes Wort nachzufragen. Aber das war auch gar nicht nötig, die Stimmlage und die Blicke der Brautleute sagten eigentlich alles. Schön, dass es nicht nur eine reine Zweckehe mit einer hinterher unglücklichen Braut war, sondern Callista sich offensichtlich wirklich freute, Witjon zu heiraten und in die Sippe zu kommen. Es gab nichts schrecklicheres wie ein junges Mädchen, das nach der Hochzeit drei Tage in einer Ecke saß und vor Heimweh heulte und jedes Mal zitterte, wenn sein Mann es küsste. Vor drei Jahren hatte Hagen, der Schmied, geheiratet, und seine junge Braut hatte ewig nur gezittert und geweint, bis die Frauen sie soweit hatten, dass sie sich am Dorfleben vernünftig beteiligte. Und Elfleda hatte sicher keine Lust, sich nun schon um sowas Gedanken zu machen. Da war es ihr so in jeder Beziehung tausendmal lieber.


    Nachdem die Schwüre getauscht, der Schleier vom Gesicht und offenbar dieser Teil der zwar recht ähnlichen, aber doch irgendwie anderen Zeremonie vorbei war, konnte man gratulieren. Elfleda reihte sich mit ihrem Mann ein und wartete, dass sie an der Reihe waren. Zunächst waren da noch die Verwandten der Braut, die gratulierten, ehe sie da waren.
    Lando wirkte ein wenig verloren, wie er den beiden gratulierte. Sie sah kurz zu ihm seitlich hoch und lächelte ihn etwas belustigt an. Wenn sie unter sich waren, war er nicht so auf den Mund gefallen. Aber vielleicht war das auch nur wegen der etwas anderen Umgebung und Gesellschaft hier. Sie hingegen entschloss sich zu einer weitaus herzlicheren Begrüßung in der Familie.
    “Callista“, sie hatte sich von Witjon nach ihrer Hochzeit noch erklären lassen, wie man den Namen richtig aussprach, so dass er nun schon weitaus besser als bei ihrer eigenen Hochzeit ihr über die Lippen kam. Sie ergriff die Hände ihrer neuen Verwandten und drückte sie leicht, ehe sie sich vorbeugte. “Lass dich küssen wie eine Schwester.“ Ganz leicht gab Elfleda der Braut einen Kuss auf die Wange. Allerdings wirklich nur leicht, denn sie hatte gesehen, dass die Braut sich mit dieser Farbe, die man Kosmetik nannte, angemalt hatte, und sie wollte da nichts verwischen oder gar an sich haben. Also viel es etwas weniger herzlich als beabsichtigt, aber immer noch deutlich herzlicher als wohl bei den meisten, vor allem römischen Gratulanten aus.
    “Und du, Witjon“ hierbei wechselte sie wieder ins germanische, einfach, weil sie in dieser Sprache sicherer war und Callista es ja ohnehin lernen würde. “Ein wirklich schöner Schwur, und eine schöne Zeremonie. Ich wünsche euch, dass euch alles Glück der Welt zuteil werden möge und ihr ein langes und erfülltes Leben miteinander habt. Ich freu mich für euch.“
    Sie wollte das Brautpaar nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, also ließ sie Witjons Hand, die sie zuletzt ergriffen hatte, nach einem kurzen Drücken wieder los und hakte sich bei ihrem Mann wieder ein, an den sie sich unbewusst und leicht anlehnte.