Die vom Thing heimkehrenden Reiter wurden freudig begrüßt. Auch wenn eine solche Zusammenkunft an und für sich friedlich ablaufen sollte, bestand natürlich immer ein Risiko, und nicht nur ein Stamm, der dort vertreten war, war den Mattiakern nicht unbedingt wohlgesonnen. So waren alle froh, als der Dux und sein Sohn wohlbehalten wieder im Dorf angekommen waren. Es wurde gegrüßt, die Pferde wurden untergebracht und von den Stallburschen versorgt und Rodewini machte sich nach kurzem Geplänkel dazu auf, mit seinem Bruder Sarwolf unter vier Augen zu sprechen.
Elfleda hatte so nur kurz die Möglichkeit, ihren Onkel wieder willkommen zu heißen, ehe dieser mit ihrem Vater sich zurückzog. Neugierig war sie ja schon, aber Rodewini würde ihr ihre Fragen nicht alle beantworten. Die Informationskette war nunmal nicht Rodewini - Elfleda, sondern eher Rodewini - Sarwolf - Smilla - Elfleda. Oder aber sie nahm die Abkürzung, wie sie es vorhatte.
Ihr junger Cousin Folcrat, der Sohn von Rodewini, war ja immerhin mit auf dem Thing gewesen. Und mit seinen vierzehn Jahren war er die perfekte Informationsquelle. Also kam Elfleda nach der Begrüßung freudig auf ihren jungen Verwandten, mit dem sie genauso eng wie mit ihrem verstorbenen Bruder oder ihren Halbgeschwistern aufgewachsen war, zu, und umarmte ihn erstmal herzlich.
“Du musst mir unbedingt alles erzählen!“ fing sie auch gleich schon mit strahlenden Augen an, als sie ihn wieder aus ihrer Umarmung losließ und einfach kurzerhand mit sich zog. Nicht, dass er noch auf die Idee kam, jetzt lieber was anderes machen zu wollen, als ihr ausführlich Bericht zu erstatten.
Natürlich konnte sie ihn nicht in irgendeine uneinsehbare Ecke ziehen. Zwar war er wie ein Bruder für sie, und sie glaubte nicht ernsthaft, dass es da irgendwelche Gerüchte geben könnte, aber auf fragende Blicke konnte sie gut und gerne verzichten. Es reichte ja auch, wenn sie sich etwas abseits in den Schatten des Langhauses setzten, gut sichtbar für alle vorbeikommenden und doch unsichtbar und vor allem unhörbar. So ungestört, wie man eben in einer verbundenen Gemeinschaft sein konnte.
Folcrat zog ein gequältes Gesicht, als Elfleda ihn so mit sich nahm. Natürlich konnte er sich nach der Reise etwas schöneres vorstellen, als seiner Cousine Neugier zu befriedigen. Viel lieber hätte er sich umgesehen, ob er nicht irgendwo etwas Essbares finden konnte. “Elfleda, muss das jetzt sein? Ich kann dir doch heut abend alles erzählen, die anderen werden ja sicher auch nach Neuigkeiten fragen. Vater wird sicher selber was sagen. Ich bin müde.“
Elfleda zog einfach an der Hand ihres Vetters, so dass dieser sich mit ihr hinsetzen musste, wenn er nicht etwas unsanft umfallen wollte. “Ich will es aber von dir hören, Folkrat. Komm schon, sei nicht so.“
“Hnäääh, lass mich erst was essen. Sonst erzähl ich noch was falsches, weil ich vor lauter Magenknurren meine eigenen Worte nicht hören kann.“
Elfleda verdrehte die Augen und blickte genervt drein. “Muss ich dich denn erst erpressen, damit du mit der Sprache rausrückst? So wie du rumdruckst, könnte man meinen, du weißt was wichtiges, was du nicht sagen sollst“
Kurz blickte der Sohn des Dux auf. Erwischt, dachte Elfleda berechnend. Jetzt würde sie ihn garantiert nicht weglassen, ehe er ihr alles berichtet hatte. Ihre Augen verengten sich nur eine kleine Spur, während sie ihren Vetter so taxierte.
“Womit willst du mich denn erpressen, Elfi?“ Folcrat machte sich gerade daran, wieder aufzustehen, als er dieses verschlagene Blitzen in den Augen seiner Cousine sah, das fast schon zornig hätte sein können.
“Ach, ich könnte zum Beispiel erwähnen, wohin der Honigkuchen plötzlich verschwunden war, als dieser suebische Händler bei uns Gast war. Und die Würfel, die du unter deinem Kopfkissen versteckst, interessieren deine Mutter sicher auch. Oh, oder das Versteck im hohlen Baum unten am Bach…“
Ein Vorteil, wenn man eine Frau war, war, dass man manchmal sehr viel sah und hörte, während man eigentlich etwas anderes machte. Noch dazu, wenn man wie Elfleda mit einer gesunden Portion Neugier und nicht allzu großer Abneigung gegen Intrigen gesegnet war. Und so blieb auch ihr Cousin erstmal sitzen und schaute beleidigt zu seiner Base.
“Das merk ich mir“, drohte er leicht beleidigt.
“Gut, dann muss ich das ja nicht wiederholen, wenn ich das nächste Mal mich mit dir kurz unterhalten möchte und du mit der Sprache nicht rausrückst.“
Als Antwort darauf streckte Folcrat ihr die Zunge heraus, was sie mit ebenso beleidigt wirkendem Gesichtsausdruck wie dem seinen erwiderte. Sie ließ ihm die Zeit, sich damit abzufinden, dass er ihr ja doch erzählen musste, was sie wissen wollte. Sie liebte ihren Vetter ja wie einen Bruder, aber welche Schwester hatte noch nie den Bruder erpresst?
“Naa gut, dann erzähl ich dir eben von dem Thing. Wird dich eh langweilen, ich hab mich schrecklich gelangweilt. Die haben sich nur gezankt und gegenseitig die Schuld an dem Aufstand zugeschoben. Du weißt schon, wegen der schlechten Ernte damals. Die einen sagen, die Römer beuten die Germanen aus, die anderen sagen, wenn ihr aufhören würdet, mit den Schwertern zu rasseln und eure Felder bestellen würdet, gäb es auch keinen Hunger. Ich denke, Vater hat das schon ganz richtig gemacht, sich mit den Römern zu arrangieren, und das hat er auch gesagt. Mehr war da nicht.“
Elfleda lauschte sehr genau. Das konnte nicht alles gewesen sein. Wahrscheinlich hatte Folcrat nicht richtig zugehört, denn dieser Streit ging schon seit Jahren, wenn nicht schon seit Generationen, so. Immer stritt der eine mit dem anderen, ob man sich besser auf diese oder eben jene Seite stellen sollte. Da hätte ihr Cousin vorhin nicht so geguckt.
“Du willst mir doch echt nicht sagen, dass das alles war, worüber gesprochen wurde?“
“Boah, neee, natürlich nicht. Ging auch noch um nen Tempel in der einen Grenzstadt der Römer, und um die Hochzeit von Reik mit dem Mädel von Brandolfs Stamm. Aber das weißt du ja schon.“
Ja, das wusste Elfleda allerdings. Diese Ida war vierzehn. VIERZEHN. Und sie war mit ihren ACHTZEHN immer noch nicht verheiratet. Wie Rodewini ihr das nur antun konnte? Wie ihr Vater ihr das nur antun konnte! Das war doch wirklich zum Haare raufen.
“Und das war alles? Du verschweigst mir doch was!“
Jetzt schaute Folcrat so unschuldig und verwirrt, dass sie ihm beinahe glauben könnte.
“Was sollt ich dir da verschweigen? Die Reise war lang, mir tut der Hintern vom reiten weh und ich hab soviel Hunger, dass ich mir schon überlegt habe, das Pferd kurzerhand zu braten. Also, kann ich jetzt endlich was zu essen holen, oder hältst du mich hier fest, bis ich wie ein wilder Wolf über dich herfalle?“
Elfleda durchbohrte ihn mit ihrem Blick. Er wusste was. Er wusste irgendwas. Das sah sie ihm förmlich an der Nasenspitze an. Und entweder wollte oder sollte er ihr nichts davon sagen. Aber das würde sie schon noch rausfinden.
“Oh, Folci, wir wollen doch nicht, dass du noch dünner wirst, hast jetzt schon kaum Fleisch auf den Knochen.“ Sie zwickte ihn leicht in die Rippen, woraufhin er mit einem Hüpfer kurz von ihr wegrobbte. Fürs erste war es genug, wenn sie noch mehr bohrte, würden sie streiten. Aber wenn sie bis heute Abend von Rodewini oder ihrem Vater Sarwolf noch nichts Weiterführendes gehört hätte, würde sie ihren Vetter aber ganz gehörig noch auszuquetschen wissen.