Beiträge von Duccia Elva

    Am nächsten Tag würden sie Lando beerdigen. Elfleda wurde bei dem Gedanken daran allein schon schlecht. Es war eine Sache, zu wissen, dass ihr Mann tot war, aber eine andere, sich vor Augen zu führen, wirklich und wahrhaftig von ihm getrennt zu sein und ihn nie mehr zu sehen, solange sie lebte. Zum Glück – oder bedauerlicherweise – waren heute nur noch wenig Trauergäste gekommen, so dass Elfleda sich mehr ausruhen und sitzen konnte. Leider hatte sie so auch Gelegenheit, mehr nachzudenken, und die Gedanken waren weit schwerer zu verscheuchen. Sie hatte sich in die Vorratskammer bei der Küche zurückgezogen. Um die Vorräte zu prüfen, hatte sie gesagt. Alle wussten, es war eine Lüge, aber das war Elfleda egal. Sie hatte geweint, einfach nur einen Moment geweint, und sich dann die Tränen weggewischt. Als sie aus der Kammer getreten war, einen Schinken in der Hand fürs Abendessen, kam auch schon Albin und verkündete, dass der Fürst der Stadt gekommen war. Elfleda legte also den Schinken beiseite, wischte sich noch einmal sicherheitshalber über die Augen, strich das Kleid glatt und ging dann geradewegs hinüber ins Atrium.


    Sie hoffte, dass ihre Erscheinung einigermaßen fürstlich wäre. Ihr Bauch machte die Perfektion wohl unmöglich, aber sie wollte nicht gebrochen oder mitleidsbedürftig erscheinen. Sie hoffte, ihre Augen würden nichts mehr verraten von dem vergangenen Tränenfluss. Zum Glück quoll sie beim Weinen nicht auf wie manch andere Frau, aber man wusste ja nie, ob die Augen nicht gerötet waren. Sie atmete noch einmal durch und schritt dann ohne wie sonst üblich zu lächeln auf den Vinicier zu.
    “Salve, Legatus Vinicius. Es ist uns eine Ehre, dass du gekommen bist.“ Die römische Sprache fühlte sich noch immer fremd auf der Zunge an, aber immerhin beherrschte Elfleda diese nach all der Zeit nun fehlerfrei und auch aus ihrer Sicht akzentfrei.

    Sie würde ihn sehr vermissen? Was sollte sie ihm denn darauf antworten? Erwartete er, dass sie ihm unter Tränen ihr Herz ausschüttete? Elfleda sah den Römer kurz skeptisch an. Dass sie derselben Meinung wie ein gut gebauter Kelte aus Nord-Gallia war und den Römern manchmal keinen besonders scharfen Sinn unterstellte, bewahrheitete sich gerade für sie wieder. Immerhin kannte sie den Quintilier nicht. Und wenn sie schon ihrer Sippe nichts sagte, warum sollte sie einem Fremden gestehen, wie sehr sie ihren Mann vermisste und welche Ängste sie litt?
    Sie überging die Frage und winkte auch die nächste ab. “Wenn es nötig werden sollte, werde ich mich setzen. Ich bin kräftig, mach dir keine Sorgen.“ Wenngleich sie das sichere Gefühl hatte, bei dieser zweiten Schwangerschaft noch mehr aufgegangen zu sein als bei der ersten. Manchmal fragte sie sich, ob das in ihrem Bauch nicht doch ein Fohlen werden würde. Reinpassen würde es bald in ihren Bauch. Sie atmete einmal ruhig durch und legte ihre freie Hand auf die runde Kugel vor sich. Lange würde es wirklich nicht mehr dauern.


    Der Vorschlag des Quintiliers war nett gemeint, aber was sollte Elfleda davon haben, eine fremde Frau, die noch nicht einmal ihre Sprache sprach, um sich zu haben? Marga hatte schon so viele Kinder entbunden, da brauchte sie nicht wirklich Hilfe. Und wenn sie die traurige Nachricht an ihren Vater schickte, konnte sie dem Boten auch auftragen, Smilla zu fragen, ob sie herkommen konnte. Sowas machte man unter Verwandten, nicht mit Fremden.
    “Dein Angebot ist sehr ehrenvoll, aber unnötig. Lando ist ein großer Verlust, ohne Frage, aber die Duccier sind stark.“ Elfleda brauchte niemanden, der ihr beistand. Schon gar nicht jemand fremdes. Aber sie wollte nicht unhöflich erscheinen, also setzte sie noch etwas hinzu. “Deine Frau wird sicher schnell viele Leute in der Stadt kennen lernen. Vielleicht ergibt sich auch einmal die Möglichkeit eines Besuches? Aber Hilfe benötige ich von ihr nicht.“ Was war das denn für ein Bild, wenn Elfleda Hilfe brauchen würde? Sie hatte schon eine gesunde Tochter und eine Geburt überstanden, sie hatte den Haushalt – mit Margas Hilfe freilich – im Griff und war nun wohl die mächtigste Frau in Mogontiacum. Wenn sie ein hilfloses Mäuschen wäre, das wäre eine Katastrophe.


    Valerian wollte Marsus noch sein Mitgefühl ausdrücken und Elfleda nickte nur kurz. Rübergehen würde er ja allein schaffen, ebenso wie sich vorzustellen. “Gut, dann tu das“ pflichtete sie ihm freundlich bei und sah sich schon kurz um. Es gab noch so viele, mit denen sie sprechen musste. So viel, was getan werden musste. Und dabei wussten es noch nicht einmal alle.

    Der Name sagte Elfleda nichts. Nicht einmal der Gensname sagte ihr so wirklich etwas, denn mit den in Mogontiacum verbliebenen Quintiliern hatte sie nie Kontakt gehabt. Auch wenn die Stadt gemessen an römischen Verhältnissen klein war, nach germanischen Maßstäben war sie riesig. Als er aber Eburnus erwähnte, klingelte etwas. Das war doch Arbjons römischer Name?
    “Wegen dem Kind meinst du?“ fragte sie kurz nach, als er meinte, es müsse schwer für sie sein. Es war schwer für sie, schwerer als sie je zugeben würde. Aber nach außen hin gab sie nicht vor, es wäre für sie schwerer als für irgendjemanden anderes. “Wenn es den Göttern gefällt, wird es gesund zur Welt kommen.“ Und wenn sie Gnade haben, wird es ein Sohn sein. Aber das sagte sie nicht.
    “Mein Name ist Duccia Elva“, stellte sie sich noch kurz vor und entlastete ein wenig ihren Rücken, indem sie ihre Hand dort einstützte. Es waren nur noch wenige Wochen bis zur Geburt, und gerade stehen ging einfach nicht immer. Sie sah sich kurz nach Witjon um, der gerade ebenfalls Mitleidsbekundungen entgegen nahm und sich als neuer Führer der Gens bislang ganz wacker schlug. “Dort drüben steht“ Wie hieß er bei den Römern? “Duccius Marsus, der Bruder von Eburnus. Er ist nun neues Oberhaupt der Sippe. Wenn du willst, kannst du zu ihm hinüber gehen. Wenn du mehr besprechen willst, ist es in drei Tagen besser.“ In zwei Tagen würde die Beerdigung sein, und davor würde wohl keiner Zeit für ausführliche Gespräche haben, es sei denn, es war wirklich wichtig. Elfleda hoffte einfach, dass in dem Fall der Römer hier sich schon zu Wort melden würde und selbiges sagen.
    Sie wandte sich wieder dem Mann zu. "Bleibe hier und erweise meinem Mann die Ehre, solange du willst." Warum auch sollte sie ihn rauswerfen? Was konnte er schon mehr stören als die ganzen anderen Leute, die heute und wohl auch morgen kommen würden?

    Der Tag war doch anstrengender geworden, als Elfleda geglaubt hatte. Zwischendurch hatte es keine andere Möglichkeit gegeben, als dass sie sich unter einem kleinen Vorwand entshculdigt hatte und erst einmal in die Küche gegangen war, um sich hinzusetzen und ihre Beine zu entlasten. Aber spätestens eine Stunde danach musste sie immer wieder zurück, um weiterhin Stärke zu zeigen und die Kondolenzbekundungen entgegen zu nehmen.
    Wenigstens das war nun am Nachmittag leichter geworden. Da so viele Menschen kamen, hatte Elfleda schlicht nicht die Zeit, sich auszumalen, wer ihren Mann nun wie gekannt hatte und wer davon ihn wirklich gemocht hatte und wer nur kam, um sicherzugehen, dass es stimmte. Da war es leichter, sich hart zu geben, und sie musste sich nicht beherrschen, ihre Tränen zurückzuhalten. Es gab schlicht keinen Grund, weshalb sie so emotional reagieren sollte. Sie hätte zwar auf Befehl loszuheulen vermocht, allerdings brachte ihr das nun keinen Vorteil.


    Gerade kam sie auch wieder von so einer kleinen Notlüge aus dem hinteren Teil der Casa und sah sich kurz um. Ein paar Nachbarn hatten sich eingefunden und drückten ihr auch sofort ihr Beileid aus, das Elfleda mit schuldig traurigem Blick, aber sonst nur mit einem Nicken entgegen nahm. Mit den Nachbarn waren sie eigentlich gut ausgekommen, denen glaubte sie ihre Worte sogar. Weiter hinten sah sie noch einen von Landos Vertragspartnern im Gespräch mit einem anderen, und sie war schon überlegt, hinzugehen und sich zwischen beide zu drängen. Sollten sie doch anderswo Geschäfte machen, elende Krähen! Aber da sah sie jemanden, den sie nicht kannte. So überhaupt und absolut gar nicht. Zwar vergaß sie schonmal den ein oder anderen Namen über die Zeit, aber Gesichter eigentlich nicht. Und dieses Gesicht da kannte sie nicht. Und da der Mann Römer war, hätte sie ihn sich sogar noch eher gemerkt, wenn er schonmal hier gewesen wäre.
    Sie zog kurz skeptisch eine Augenbraue hoch und bewegte sich dann – dank ihres Bauches etwas schwerfällig – in Richtung des ihr unbekannten Römers. Sie beobachtete ihn beim gehen, sah, wie er mit Lando sprach. Er sah doch ein wenig betroffen aus. Keine Häme war zu erkennen, keine kaum verhohlene Freude. Eher gefasste Ernüchterung. Wer war das? Sie kannte ihn definitiv nicht. So aus der Nähe konnte sie sein Gesicht sehr gut sehen, und sie kannte ihn wirklich nicht.
    “Du kanntest meinen Mann?“ fragte sie mit freundlicher Tonlage, aber einem Blick, der eine Antwort verlangte. Ihre Wortwahl hätte vielleicht höflicher sein können, aber heute konnte Elfleda es sich herausnehmen, jeden anzusprechen, wie sie es wollte. Letztendlich würde man alles auf die Trauer schieben.

    So blass und geschockt wie jeder andere hier im Haus kam Maecenas ins Atrium. Elfleda sah zu ihm auf, und einen winzigen Moment spielte ein trauriges Lächeln um ihre Züge. Es hätte ihr klar sein müssen, dass er es war, der als erstes kam. Sie erinnerte sich noch daran, wie Lando sie einander vorgestellt hatte. Der einzige Römer, der es mit einem Germanen beim Biertrinken aufnehmen konnte, und der einzige mit genug Nerven, Lando zu ertragen. Es war auf ihrer Hochzeit gewesen, und Elfleda hatte kaum fünf Worte Latein beherrscht, um vernünftig antworten zu können. Bei dem Gedanken an die Szene wollten wieder Tränen aufsteigen, aber sie kämpfte sie nieder.
    Gefasst schaute sie zu, wie Maecenas an die Bahre trat, in eigenen Gedanken versunken. Sie sah den Schmerz in seinem Gesicht, auch wenn er ihn zurückzuhalten versuchte. Diesen Ausdruck würde sie heute wohl noch öfter sehen. Davor fürchtete sie sich beinahe. Die selbstzufriedenen Gesichter all jener, die nur aus Scheinheiligkeit kommen würden, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich tot war, das süffisante Grinsen um den Mundwinkel der Konkurrenten, das Glänzen in den Augen derer, die dachten, die Sippe Wolfriks sei nun endgültig am Boden, das konnte sie ertragen. Dem konnte sie mit Zorn und Hass und Wut entgegen wirken. Da konnte sie kalt und hart reagieren, da konnte sie spielen und sich nicht davon berühren lassen. Aber der echte Schmerz, diese Traurigkeit, das war schwerer zu ertragen. Da gab es Erinnerungen, da gab es Mitleid. Nichts war für Elfleda schwerer zu ertragen als Mitleid. Mitleid hieß, man war schwach, und der andere sah die Schwäche. Nein, Elfleda wollte kein Mitleid. Und dennoch würde sie es wohl bekommen.


    Sie schwieg, während Maecenas sich stumm verabschiedete und legte sich nur zwischendurch beruhigend die Hand auf den Bauch. Seit gestern kam das Kind nicht wirklich zur Ruhe. Es fühlte, dass etwas mit der mütterlichen Gemütsverfassung nicht in Ordnung war, und reagierte darauf mit übermäßig viel Bewegung. Es raubte auch das letzte bisschen Kraft, das sich die Mattiakerin gerne bewahren wollte. Aber sie konnte ncihts dagegen unternehmen.
    Maecenas schließlich kam zu ihnen beiden herum, den Blick stumm zu Boden gerichtet. Als er aufblickte und sagte, dass es ihm leid täte, hätte ein Teil von Elfleda ihn am liebsten umarmt. Ihn einfach in die Arme geschlossen und geweint, geweint bis keine Tränen mehr da waren, bis der ganze Schmerz hinweggespült war, bis sie selbst weggespült war. Sie schluckte kurz und war sich ihrer Stimme nicht sicher. “Er ist nun in Valhall. Er hätte nicht gewollt, dass wir darüber in Trauer versinken.“ Kurz griff sie nach Maecenas Arm in einer verbundenen Geste. Nur ganz leicht, um ihre Dankbarkeit auszudrücken. Der Purgitier war einer der wenigen, denen Elfleda gänzlich seine Trauer glaubte. “Er hat in dir immer einen Freund gesehen. Und du wirst immer hier im Haus willkommen sein.“ Auch wenn sie nur leise sprach, merkte Elfleda, wie ihre Stimme zu brechen drohte, und wie Tränen ihr in die Augen stiegen. Sie ließ Maecenas wieder los, schaute kurz zu Witjon, um Kraft zu sammeln und sich zu fassen. Keiner sollte sie heute offen weinen sehen. Sie woltle Stärke zeigen, damit niemand auf die Idee käme, die Sippe sei geschwächt. Denn das hätte ihr Mann auf keinen Fall gewollt.

    Seitdem sie aus dem Wald zurückgekehrt waren hatte Elfleda nicht mehr geweint. All ihre Traurigkeit war zu einer Ruhe geworden, die ebenso schweigsam war wie die ihres Mannes. Sie hatte auch kaum etwas gesagt, und wenn doch, war es leise gewesen und nicht so stark und nachdrücklich wie sonst.
    Sie hatten Lando gewaschen und gesäubert, bis kein Blut mehr aus der Wunde gesickert war. Danach hatten sie ihn in seine besten Kleider gesteckt und aufgebahrt. Die ganze Zeit war Elfleda bei ihm gewesen. Als der Abend hereingebrochen war, hatte sie noch immer schweigend neben ihm gestanden. Selbst, als ihre Beine schwer vom Wasser waren und der Schmerz darin sich selbst betäubte, war sie einfach nur an seiner Seite gestanden und hatte zu ihm herunter geschaut.
    Irgendwann in der Nacht war Marga zu ihr gekommen, hatte sie aus ihrer Trance hochgeschreckt und sie gezwungen, sich hinzulegen. Sie konnte dort nicht stehen bleiben, und sie konnte sich auch nicht zu ihrem Mann dazulegen. Allerdings war es sehr schwer, sich zu bewegen, nachdem sie so lange gestanden hatte, und schließlich hatte auch Lanthilda helfen müssen, damit Elfleda mit den schweren Beinen überhaupt die Treppe in ihr Zimmer hochkam. Erst dort, als sie allein war – Naha schlief bei Ida zusammen mit deren Kindern und auch Audaod – war sie noch einmal zusammengebrochen und hatte so lange geheult und geschluchzt, bis sie schließlich vor Erschöpfung dabei eingeschlafen war.


    Der nächste Morgen war gekommen. Wenngleich sie länger geschlafen hatte, als sie wollte und das Bett sich ganz schrecklich leer anfühlte. Im ersten Moment des Aufwachens hatte sie auf Landos Seite mit ihrem Arm gelangt, und ihr war erst wieder zu Bewusstsein gekommen, was geschehen war, als sie nur das kalte Laken berührte und nicht seinen warmen Körper, an den sie sich sonst gerne im Halbschlaf noch ein wenig gekuschelt hatte.
    Ihre Beine schmerzten noch immer, aber Elfleda überging es einfach, als sie sich anzog. Ihre Kleidertruhe gab vieles her für so einige Anlässe, aber nur sehr weniges für Trauer. Sie kleidete sich also dem Umstand angemessen und wusch sich die getrockneten Tränen gründlich aus dem Gesicht, ehe sie nach unten ging. Bevor sie um die letzte Ecke ging, holte sie noch einmal tief Luft und wappnete sich für den Anblick, der sich ihr gleich bieten musste. Dennoch durchfuhr sie ein Schmerz, als sie Lando da liegen sah. Sie schluckte kurz und ging dann so würdevoll es in ihrem hochschwangeren Zustand möglich war zu Witjon und ihrem toten Mann hinüber.
    “Du bist früh auf“, begrüßte sie ihn nur knapp und leise und stellte sich dann neben ihn. Zärtlich streichelte sie einmal über Landos Bart und seinen Arm. Nicht zum ersten Mal schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ob sie nicht einfach mit ihm gehen sollte. Es gab immer wieder Frauen, die das machten. Es war nichts verwerfliches daran, im Gegenteil.
    Aber Elfleda war jung. Sie war gerade einmal 20 Jahre alt. Und sie war schwanger. Und sie hatte eine kleine Tochter. Und ihr Onkel brauchte sie am Leben, ebenso wie ihr Kind. Jetzt, da die Duccier geschwächt waren, musste sie umso stärker sein und versuchen, so gut die Macht zu erhalten, wie es ging. Und sie musste Landos Erbe nach seinen Wünschen verteilen. Sie konnte sich nicht einfach zu ihm legen und die Welt um sie herum ins Chaos fallen lassen. Denn auch, wenn Witjon sich mühte, den Platz auszufüllen, und man ihm das auch ansah: Elfleda glaubte nicht, dass er das ganz alleine schultern konnte. Es war eine verdammt große Lücke, die auszufüllen war. Er brauchte sie, auch wenn er das vielleicht nicht sah und sie da wohl auch nicht um Hilfe bitten würde.


    Elfleda hörte die Tür, und wie Albin jemanden hereinbat. Sie schluckte noch einmal und riss ihren fast zärtlichen Blick von Lando los. Es würden heute sicher viele kommen, die kondolieren wollten. Wenngleich Elfleda nicht gedacht hätte, dass so bald schon jemand kommen würde.

    Von den Geschehnissen um sie herum bekam Elfleda kaum etwas mit. Sie sah zwar den Mörder ihres Mannes ins Gras sinken, konnte dabei aber noch nicht einmal Genugtuung empfinden. Sie bekam mit, wie auch Eila zu Lando kam, ihn umarmte und weinte. In diesem einen Moment war für Elfleda aller Streit und alle Konkurrenz vergessen. Während Eila sich über ihren toten Bruder beugte, ließ Elfleda ihren Kopf gegen deren Schulter sinken, hielt sich auch an ihr fest und suchte Trost im gemeinsamen Schmerz.
    Sie bekam auch nicht mit, wie Witjon entschied. Sie hörte nur das Weinen der tidicischen Frauen, als er sie mit barschen Worten wegjagte und ebenfalls zu ihnen kam. Wäre er näher bei ihr gewesen, Elfleda hätte sich auch an ihn gelehnt und weiter geweint. Ihre Tränen schienen kein Ende nehmen zu wollen. Normalerweise weinte sie nie. Immer hatte sie die nötige Beherrschung, keine Schwäche zu zeigen, immer unterdrückte sie notfalls ihre Gefühle, um ihre Ziele besser erreichen zu können. Aber im Moment war sie weit von jeder Art der Selbstbeherrschung entfernt. Sie hielt sich nur den Bauch, wo das Kind gegen die plötzlichen Krämpfe des Mutterleibs wehrte und heftig trat, hielt Lando, der trotz allen Flehens tot blieb, und wollte sich am liebsten zu ihm legen.


    Sie wusste nicht, wie lange sie dort saß. Irgendwann half ihr jemand auf und brachte sie zum Wagen. Sie bemerkte noch, wie wackelig ihre Schritte waren, und wie sie es nicht ertrug, auch nur auf Armlänge von ihrem Mann getrennt zu sein. Landos Leichnam wurde auf die Wagenfläche gehoben, und Elfleda kletterte hinterher. Wieder bettete sie seinen Kopf ganz sachte in ihrem Schoß. Ihre Tränen waren versiegt, sie hatte keine mehr übrig, die sie noch hätte weinen können. Sie fühlte sich schwer und leer, und ihre Lungen schmerzten heftig. Und auch dem Kind ging es gerade nicht sehr gut, es kam in ihrem Bauch einfach nicht zur Ruhe. Dennoch beklagte sich Elfleda nicht darüber, wie es ihr ging. Sie schluchzte nur immer wieder leise und streichelte ihrem Mann vorsichtig durch die Haare.
    Erst, als der Wagen sich holperig in Bewegung setzte, zurück zum Haus, kamen Elfledas Gedanken wieder im hier und jetzt an. Ihr wurde ganz schlecht, weil es so schnell ging, dass sie über die Zukunft nachdenken konnte. Aber ihr fielen die Dinge ein, die sie nun tun mussten, sobald Lando aufgebahrt war. Sie beugte sich zu ihm herunter und gab ihm noch einmal einen sanften Kuss auf die Lippen, fuhr dann damit fort, ihm die Haare zu streicheln. Sie würde Alrik und Arbjon schreiben müssen, oder Witjon dazu bringen, dass er es möglichst rasch tat. Und sie würden den Nachbarn Bescheid sagen müssen. Und Landos Freunden. So viele, denen sie es sagen sollten. Kurz schüttelte es Elfleda, als sie auf diese Erkenntnis einen tieferen Atemzug nahm. Eine Hand legte sich auf ihren Bauch. Bitte, Götter... Frigg... lasst es ein Sohn sein... und lasst ihn stark sein.... Elfleda bat die Götter sehr selten um etwas, und auch diesmal tat sie es nur stumm. Aber so sehr es schmerzte, überhaupt darüber nachzudenken: Sie brauchte einen Sohn von Lando. Jetzt noch mehr als zuvor.

    Mir kommt irgendwie alles doof vor, was ich hier schreiben will.


    Ich wollte mich bei dir für das wundervolle Spiel bedanken, die vielen tollen Anregungen, die Diskussionen... überhaupt alles. Du warst der beste SimOn-Ehemann, den ich mir für Elfleda hätte wünschen können, und es war mir eine Ehre, mit dir zu schreiben. (Gott, das klingt auch schon wieder so doof)


    Also nur kurz: Merci

    Ungläubig sah Elfleda, wie ein junger Mann aus der anderen Sippe sein Schwert hob und sich über den am Boden liegenden Pudens stellte. Ihr Mund ging auf, als sie sah, wie dieser auf Lando einzuhämmern begann, ihm sein Sax beiseite schlug und ihn zurückdrängte. Als würde die Zeit träge wie Honig dahintropfen sah sie, wie ihr Mann etwas sagte, und dann, wie der junge Kerl mit seinem Schwert zustach. Wie Lando einknickte und fiel.
    Erst jetzt löste sich aus ihrer Kehle ein Schrei, der kaum mehr menschlich zu nennen war. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein. Das durfte einfach nicht geschehen. Ihre Füße bewegten sich, ohne das sie es mitbekam. Sie rannte, trotz ihres Zustandes, über die Wiese, zu ihrem Mann, der blutend im Gras lag. Es war ihr egal, wer zusah. Es war ihr egal, was irgendjemand denken mochte. Es war ihr gleichgültig, ob sie stark und ruhig alles ertragen wollte, unbarmherzige Kälte ausstrahlen wollte, Unverletzbarkeit demonstrieren wollte. Es war ihr alles gleichgültig.
    Direkt vor seinem Mörder fiel Elfleda neben Lando auf die Knie, und sie wusste selbst nicht so recht, ob sie eingeknickt war oder es so beabsichtigt war. Sie heulte, dass die Tränen ihr die Sicht nahmen. So laut, dass es über die ganze Lichtung schallte, klang ihr Wehklagen, als sie ihren toten Mann vorsichtig herumdrehte und seinen Kopf an ihrem Schoß bettete. Sie beugte sich zu ihm herunter, so sehr ihr Bauch das zuließ. Sie fühlte noch einmal nach seinem Puls, auch wenn sie bereits wusste, dass da keiner mehr war. Und als sie auch hier keinen ertastete, sackte auch das letzte bisschen von Elfledas sonst so stolzer Gestalt in sich zusammen und schluchzte nur noch bei ihrem toten Mann, den sie festhielt, als wolle sie ihn beschützen.
    ““Ich liebe dich... du bist mein Leben... ich liebe dich...“ heulte sie nur immer wieder und wieder und bekam dabei gar nicht mit, wie Pudens um seine Familie flehte, und auch nicht, wie Witjon darüber entschied. Es war ihr auch gleichgültig im Moment. Ob sie lebten oder starben war ihr vollkommen gleichgültig. Ihr war großer Schmerz und noch größeres Unrecht widerfahren, und noch ließ das keinen Wunsch an Rache zu. In einigen Momenten, wenn die Trauer weggefegt werden würde vom Zorn, sähe das wohl anders aus. Doch noch war Elfleda nicht fähig, an irgendetwas anderes zu denken als daran, wie sehr sie ihren Mann liebte und dass sie es ihm viel zu selten gesagt hatte.

    Nachdem Phelan ihr vom Wagen geholfen hatte, hatte sich Elfleda zu den anderen gestellt. Irgendwie hatte sie gehofft, Lando würde wenigstens nochmal zu ihr sehen, nur ein kleines Lächeln mit ihr tauschen oder irgendwas, um ihr Mut zu machen. Aber er beachtete sie gar nicht. Ein klein wenig fühlte sie sich zurückgesetzt, aber auf der anderen Seite konnte sie es ihm nicht vergelten. Er musste sich jetzt konzentrieren, da war vermutlich wenig Platz für Gedanken an Weib und Kind. Und Elfleda wollte ihn unterstützen, und es ihm nicht noch schwerer machen.


    Als der Kampf begann, war sie so angespannt wie die meisten. Nur Roderik fing an zu singen und zu saufen und erntete dafür von Elfleda kurz einen missmutigen Blick. Sie hatte im Moment mehr Angst als jemals in ihrem Leben. Zumindest, dass sie sich daran erinnern könnte. Zumindest hatte sie nie so unmittelbare Angst um jemanden gehabt, den sie liebte. Wenn die Männer aus ihrem Dorf Krieg geführt hatten, war natürlich auch dort immer die Angst gewesen, dass einige nicht zurückkehren würden. Aber da war sie sicher im Dorf gewesen und weit weg vom Tod. Jetzt hier war sie dazu verdammt, notfalls zuzusehen, wie Lando starb. Und das war mehr Anspannung, als sie ertragen wollte. Und doch musste sie hier ausharren, musste stark sein und es mit ansehen.
    Elfleda legte ihre Hand auf den Bauch, als das Kind die Unruhe der Mutter fühlte und sich zu regen begann. Ihre Augen folgten Lando über das Feld, jedem Schlag, jedem Gegenschlag, und bei jedem zweiten zuckte sie leicht zusammen. Gerne hätte sie nach irgendjemandes Hand gegriffen und sie einfach nur gehalten, sich selbst so Sicherheit gegeben, aber sie unterließ es. Wessen Hand sollte sie schon nehmen? Eila war die einzige Frau hier außer ihr, und bei dieser konnte es Elfleda nicht. Nicht, weil sie eifersüchtig auf Eila war ob ihrer Stellung bei Lando, sondern weil sie glaubte, diese würde sie eher verspotten als ihre Angst zu teilen. Abgesehen davon wollte Elfleda nicht schwach erscheinen.


    Und dann geschah es, das Wunder, auf das Elfleda gehofft hatte. Der Tudicius fiel und verlor seine Waffe. Mit dem Schild robbte er rücklings zu den Seinen, und Lando folgte ihm. Ja, selbst Witjon folgte ihm, indem er sich aus der Gruppe löste und vorwärts schritt, den Mann zum aufgeben aufforderte. Lando hatte gewonnen, das war unbestreitbar. Und doch konnte Elfleda noch nicht erleichtert aufatmen und die Anspannung von ihr abfallen lassen. Irgendwas war merkwürdig. Warum gab er nicht auf? Es war ein Ehrverlust, aber er blieb am Leben. Warum gab er nicht auf? “Gib schon auf, Mann. Und lass meinen Mann wieder zurückkommen...“ Elfleda murmelte nur leise. Die Angst wollte einfach nicht weichen und krampfte sich wie eine Faust um ihren Magen. Was war sie froh, wenn Lando gleich wieder zurück sein würde.

    Nicht ein wenig feilschen? Elfleda sah kurz zu Lando, tat es dann aber einfach ab. Wenn er nicht darüber verhandeln wollte, war dem eben so. Sie selbst hätte es versucht, aber andererseits warum das ganze unnötig in die Länge ziehen?
    Der Legat setzte sich und bot auch Lando einen Platz an. Es schien wohl nun alles geklärt zu sein, so dass sie fortfahren konnten. Und da fragte er auch schon nach dem neuen, dem römischen Namen. Elfleda fand es zwar immernoch albern, dass sie für das römische Bürgerrecht einen anderen Namen brauchte. Sie war ja immernoch sie, und sie würde auch weiterhin sie bleiben, nur eben mit einem neuen Stück Papier ausgestattet, das den Römern so ungemein wichtig war. Und das ihr ein paar Rechte und auch Rechtssicherheiten diesseits des Rhenus bescheren würde. Und Sicherheit war ja nun das, was Elfleda sich in ihrer Ehe gewünscht hatte.


    “Duccia Elva“ beantwortete Elfleda die Frage nach dem neuen Namen also. Dabei blickte sie noch einmal kurz zu Lando. Sie hätte theoretisch vielleicht auch einen anderen Gensnamen wählen können, aber warum sollte sie das tun? Nach germanischem Recht gehörte sie zur Sippe ihres Mannes nun dazu, war fester Bestandteil davon mit allen Rechten und Pflichten. Wenngleich die Germanen eine so absolute Gewalt wie in einer Manus-Ehe nicht kannten, da die Frau immer und stets Rechte hatte und nicht in dem Sinne Besitz ihres Mannes war, so ging das Verständnis der Ehe doch sehr in die Richtung. Ihr Mann hatte die Gewalt über ihre Munt erworben, sie war in seine Hände übergegangen. Warum also nicht auch für die Römer nach außen hin dies sichtbar machen, indem sie den römischen Namen seiner Familie annahm?

    5000 Sesterzen? Elfleda horchte einmal kurz auf und warf Lando einen Blick zu. Sie wusste, dass das viel Geld war, wenngleich sie sich noch immer schwer tat, alles in Werte, die in ihrer Heimat etwas galten, umzurechnen. Aber sie war nicht wirklich geschockt, und es machte ihr auch absolut nichts aus, hier anwesend zu sein, während über den Wert ihres Bürgerrechtes verhandelt wurde.
    Im Gegenteil, Elfleda sah das ganze von einer ganz anderen Seite. Wo die römische Rechtssprechung einen ganzen Katalog unterschiedlicher Strafen hatte, war die germanische Rechtsprechung in den meisten Fällen sehr einfach. Die Strafe richtete sich nach dem Wert dessen, an dem das Vergehen verübt worden war. Und war das eine Frau, so richtete sich die Höhe der Strafe nach der Höhe des Muntschatzes, der durch ihre Hochzeit erworben worden war – oder dem Wert des Mannes, je nachdem, was höher war. So war ihr derzeitiger Wert – vier Pferde, vier Bolzen Saatgut, fünf Lederhäute vom Rind, zwei Lagen Grobkeramik, eine Lage Feinkeramik und eine halbe Glasware, dazu einen Kelch aus illyrischem Silber, zwei Barren Eisen und zwei Ballen gut gewebten Stoffes, sie hatte es nicht vergessen – schon gewaltig. Wenn da nun noch 5000 Sesterzen oben drauf kamen, war das zwar auf der einen Seite immer noch ein Haufen Geld, der verloren ging. Aber auf der anderen Seite war es eben eine Investition in ihren persönlichen Wert, und jeder Germane sollte es sich folglich fünfmal überlegen, ihr auch nur ein Haar zu krümmen. So einen Schatz konnten sich wohl die wenigsten leisten, auch nicht Teile davon.


    Sie legte nur eine Hand kurz auf ihren Bauch, da das Kind sich entschieden hatte, im Moment rumturnen zu wollen, und lauschte dem weiteren Gespräch möglichst unauffällig und schweigend. Wenn sie eines über römische Frauen gelernt hatte, dann dass deren höchste Tugend wohl war, dekorativ in der Gegend herumzustehen und möglichst wenig die Männer zu stören. Und wenn so ein in ihren Augen albernes Verhalten dafür sorgen würde, dass das hier schneller und einfacher vonstatten ging, würde sie für den Moment schweigen und sich nicht einmischen.

    Wäre Elfleda nicht lange genug von ihrem Onkel geschult worden, sie hätte wohl gegrinst bei dieser langen Begrüßung. Doch so blieb ihr Lächeln freundlich. “Ich danke dir“, meinte sie nur leicht und wartete dann, dass ihr ein Platz angeboten wurde. Was es aber nicht wurde. Stattdessen kam ihr Mann gleich auf den Punkt, ohne groß drumherum zu reden.


    Auch wenn es vielleicht nicht gänzlich korrekt war, Elfleda nahm sich in ihrem Stadium der Schwangerschaft heraus, selbst Entscheidungen zu treffen. Und so lächelte sie dem Legaten noch einmal freundlich zu und setzte sich dann – langsam das Gewicht ausbalancierend – ungefragt auf den nächsten Stuhl im Raum. Die Männer konnten ja stehen bleiben, wenn sie wollten. Sie selbst wollte ihre Knöchel gerne entlasten, und welcher Mann konnte einer Schwangeren das schon abschlagen?
    “Verzeih, Legat, aber Sitzen ist momentan angenehmer als Stehen“, entschuldigte sie sich charmant und wartete dann einfach darauf, was er zu der Anfrage bezüglich des Bürgerrechts zu sagen hatte. Vielleicht hatte er ja auch Fragen an sie? Vielleicht aber brauchte sie nur wieder einen dieser Papierscheine, auf die die Römer so unheimlich viel wert legten.


    Und da kam auch schon die Frage vom Vinicier. Was man von ihnen erwartete? Soweit Elfleda wusste, war das Geld, und zwar nicht zu knapp. Aber Lando würde das schon regeln und für sie sprechen. Immerhin hatte er eben jenes Recht, ihre Munt, bei der Hochzeit erworben.

    Elfleda gefiel das Vorhaben von Lando nicht so ganz. Oder, eigentlich gefiel es ihr schon, nur fand sie den Zeitpunkt hierfür verdächtig, was ihr wiederum nicht gefallen wollte. So betrat sie mit gemischten Gefühlen das Officium des römischen Fürsten von Mogontiacum.
    “Salve, Vinicius Hungaricus.“ Seit ihrer letzten Begenung war Elfledas Latein bedeutend besser geworden, so dass ihr der fremdländische Name leicht über die Lippen ging, begleitet von einem, wie sie hoffte, charmanten Lächeln.

    Der Wagen holperte und rollte über den unebenen Boden. Elfleda hasste es, nicht vorne bei Lando reiten zu können, aber ihre Schwangerschaft ließ das einfach nicht zu. Sie konnte reiten, aber mit dem großen Bauch war das eben gefährlich für Mutter und Kind und der Wagen sicherer. So blieb ihr nichts, als von hier zu Lando hinüber zu schauen.
    Ich sollte da vorne sein. Bei ihm. An seiner Seite. Es ärgerte sie maßlos, dass sie es nicht sein konnte, wenn es auch nur für den Weg war. Aber nicht seine Schwester sollte neben ihm reiten, sondern seine Frau! Ach, es war einfach zum Haare raufen.


    Elfleda wusste, dass das nicht der eigentliche Grund war, warum sie so unruhig war und sich über diese Kleinigkeit so aufregte. Und auch nicht der Grund, warum sie heute Nacht nicht geschlafen hatte, sondern nur wach neben Lando gelegen hatte. Ihn sanft im Schlaf gestreichelt hatte. Ihn am Morgen nochmal ins Bett zurückgezogen und lang geküsst hatte.
    Sie hatte Angst. Ganz schnöde, einfache, tiefgehende Angst. Lando war nicht gesund, der Husten war noch immer nicht verklungen. Er hatte zwar trainiert, aber Elfleda war nicht verträumt genug, um die Realität auszublenden. Sie sah mit ihren Augen, nicht mit ihrem Herzen. Und ihre Augen sagten ihr, dass es gefährlich war. Dass Lando verlieren könnte, wenngleich er diese Möglichkeit immer beiseite gewischt hatte. Dass sie als Witwe heute heimkehren könnte. Und das machte ihr unsäglich viel Angst.
    Aber sie saß auf dem Wagen, ruhig und gelassen wie ein Fels. Sie würde sich nicht von dieser Angst beherrschen lassen. Der Feind sollte keine Genugtuung darin haben, zu sehen, wie ängstlich sie war. Sie war Mattiakerin. Sie war gemacht aus Stein und Eis, wenn es sein musste. Und heute musste es sein.


    Der Wagen hielt an und Elfleda ließ sich herunterhelfen. Mit dem dicken Babybauch war das nicht mehr so einfach alles. Vor allem hatte sie das Gefühl, viel mehr zugelegt zu haben als bei ihrer ersten Schwangerschaft, obwohl sie nicht mehr aß und auch im Gesicht nicht zugenommen hatte. Sie stützte kurz ihre Hand im Rücken ab, um diesen zu entlasten, und ging dann ein paar Schritte vor zu ihrem Mann hin. Sie zwang sich zu einem angedeuteten, aufmunternden Lächeln, aber auch das konnte nicht über die Unruhe in ihren Augen hinwegtäuschen. Gern hätte sie ihn jetzt an sich gezogen, ihm nochmal alles gesagt, was in ihrem Herzen war. Ihn gefragt, ob es wirklich sein musste, was er hier vorhatte. Aber das hätte nach Abschied geklungen, und danach, als würde sie nicht annehmen, dass er es überlebte. Also schwieg sie und blickte einmal über die grotesk schöne Landschaft, die sich vor ihr entfaltete.

    So schön der Moment der Zweisamkeit auch war, der Morgen kam. Und mit ihm auch das Tagewerk, das erledigt werden musste. Und das erste davon hieß Frühstück – worauf Elfleda schon regelrecht Heißhunger hatte. Sie versuchte zwar, nicht so viel und vor allem nicht so durcheinander zu essen. Sie hatte das Gefühl, dieses Mal viel mehr aus allen Nähten zu platzen als bei ihrer ersten Geburt. Aber es gab eben Momente, da hatte sie einfach das dringende Bedürfnis nach in Essig eingelegten Rüben und Honigbrot. Wie jetzt zum Beispiel, weshalb sie sich mit einem kleinen Kuss in Richtung Küche verabschiedete.


    Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass Lando ihr nachkam und nochmal zurück in seine Arme zog. Seine Hände lagen wieder auf ihrem Bauch, seine Nase war irgendwo in ihrem Haar, und er flüsterte ihr unmissverständlich seine Vorstellung eines perfekten Tagesanfangs ins Ohr. Ganz leicht entspannte sich Elfleda und lehnte sich in seinen Armen zurück. Eigentlich hatte sie Hunger. Eigentlich hatte er Husten. Eigentlich war ihr Bauch schon so groß, dass sie nicht mehr sollten. Eigentlich war heute Callistas Beerdigung. Wie gesagt, eigentlich.
    Ihre Hände legten sich auf seine, und als müsse sie darüber nachdenken, tippelte sie mit ihren Fingern auf seinen Handrücken herum. “Du weißt ja, wenn das Kind sich bewegt, soll die Liebe ruhen...“, meinte sie mit diesem bestimmten Unterton in der Stimme, der schon anzeigte, dass gleich noch ein 'Aber' folgen würde. Sie neigte leicht den Kopf, so dass sie ihn ansehen konnte. “Aber ich könnte ja heute eine Ausnahme machen, wenn du so lieb nachfragst...“
    Nach dem ganzen Stress in den letzten Tagen und den vielen trüben Gedanken war ein wenig Zweisamkeit sicher nicht die schlechteste Art, in einen Tag zu starten. Und gerade war Elfleda nicht danach, ihn anzukeifen und zurückzuweisen. Das konnte sie beim nächsten Mal noch machen, wenn sie selber gerade nicht in so einer liebesbedürftigen Stimmung war.

    Noch immer war es Elfleda ein wenig suspekt, wie Phelan diese Gratwanderung zwischen germanischen und römischen Ritualen meisterte. Einiges von dem, was er tat, war ihr beinahe zuwider, anderes wiederum war sehr vertraut und damit wohlgefällig. So auch dieses Opfer hier. Den Göttern an einem Fluss zu opfern, damit dieser nicht alles überschwemmte, erschien ihr logisch und richtig. Diese seltsame, strikte Abfolge, in der er das Opfer dann ausführte, und dieses künstliche Nachfragen wiederum, das erschien ihr wiederum abwegig und sie beobachtete skeptisch das Ableben des Bockes.


    Schließlich war es vollbracht, und eigentlich könnten sie wieder nach Hause gehen. Eigentlich. Uneigentlich aber entwickelte sich die Situation etwas anders. Elfleda wusste natürlich, dass es hier in der Stadt zwischen einigen Sippen Spannungen gab. Nun, es gab immer Spannungen zwischen verschiedenen Sippen. Nur dass die in Elfledas Welt normalerweise weiter auseinander wohnten als hier. Im Grunde war so eine Stadt so etwas wie ein andauerndes Thing, wo viele verschiedene Interessengruppen beständig aufeinander trafen. So zumindest war auch nach der langen Zeit hier in der Stadt Elfledas Meinung.
    Und eben eine solche Spannung baute sich nun weiter beständig auf. Elfleda kannte den Krawallmacher nicht persönlich. Allerdings hatte sie durchaus von ihm und seiner Sippe gehört. Sie waren den Kindern Wolfriks nicht wohlgesonnen, wenn sie es euphemistisch ausdrücken wollte. Man konnte auch sagen, beide Seiten hassten einander mit tiefer Verachtung auf den Lippen. Kein Wunder also, dass Herge diese Gelegenheit hier nutzt, um sich unbeliebt zu machen.


    Lando löste sich von Elfleda, und diese blieb eisern wie ein Eichenbaum stehen. Fiel ihr nicht im Traum ein, zurückzuweichen und sich in Sicherheit zu begeben. Nicht jetzt und nicht hier. Sollten ruhig alle sehen, dass sie sich gut geschützt fühlte von der Sippe ihres Mannes und es nicht für nötig befand, den Rückzug anzutreten. Wenngleich der Teil von ihr, der sich des Kindes in ihr sehr bewusst war, das für keine so gute Idee hielt.


    Und dann verplapperte sich Herge. Er war das mit dem Handelshaus gewesen? Er hatte es angezündet? Kurz sah Elfleda sich nun doch nach den anderen Männern in der Sippe um, während Lando sich schon bedrohlich aufbaute. Jetzt lag Kampf in der Luft, denn sollte es wahr sein, gab es darauf nur eine passende Antwort. Und ein furchtbar mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit.

    Seine Zärtlichkeiten taten gut. Elfleda schloss einen Moment die Augen und genoss das kitzelnde Gefühl von seinen Barthaaren auf ihrer Haut. Sie fragte sich allen Ernstes, warum die römischen Frauen verlangten, ihre Männer müssen sich rasieren. Das piekte und kratzte doch nur andauernd, wenn es nachwuchs.
    Sie beiden standen also einige Momente einfach nur da, genossen die Zweisamkeit und das Gefühl des Lebens, das sie beide bald in die Welt setzen würden. Schon verblüffend, wie nah Leben und Tod doch immer beieinander lagen. Und Callista war der groteske Beweis dafür, war sie doch gestorben, als sie Leben zur Welt gebracht hatte.


    Zu ihren Plänen mit der Medizin sagte Lando nichts. Nicht, dass er da eine Chance gehabt hätte, zu widersprechen, aber dennoch nahm Elfleda es als Hinweis, dass sie da nicht weiter nachbohren musste. Sie wollte ja nur, dass er wieder gesund wurde und sich erholte. Immerhin hatte sie vor, mit ihm noch sehr alt zu werden.
    Und auch zu Rodewini sagte er nichts, sondern überging das ganze einfach mit einer anderen Frage. Aber noch war es ja nicht akut. Wenn ihr Kind in ein paar Monaten auf der Welt war und Witjon getrauert hatte, dann konnte sie ihrem Mann damit auf die Nerven gehen. Jetzt war es nur eine Gedankenspielerei und mehr nicht. Kein Grund, die traute Verbundenheit zu stören.
    “Bei Sonnenuntergang bringen wir sie wohl zum Gräberfeld der Römer. Und wenn es nacht wird, wird sie verbrannt.“ Elfleda gefielen die Römischen Bräuche immernoch nicht so recht. Sie waren zwar ähnlich den germanischen, aber nunmal nicht gleich. Sieben Tage eine Leiche unbestattet liegen zu lassen wäre ihr nie eingefallen.
    “Du hast also Zeit für deine Händler. Den ganzen Tag werden die schon nicht streiten wollen, oder?“ Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. So langsam wurde es wirklich Morgen, und bald würde die Hektik losgehen. Aber noch war es so herrlich friedlich hier, dass Elfleda gar nicht daran denken wollte.