Beiträge von Duccia Elva

    Der Gang zur Poststube war nicht unbedingt der leichteste. Früher hatte sie Lando etwaige Post einfach mit einem 'Mach mal' in die Hand gedrückt und mitgegeben. Wobei sie sehr selten irgendwohin geschrieben hatte, wo sie keinen Boten schicken musste. In ihrer Verwandtschaft galt das geschriebene Wort nicht so viel wie das gesprochene, ein guter Bote war Gold wert. Aber um nach Rom eine Botschaft zu schicken, kam sie wohl nicht ums Schreiben herum.


    Elfleda gab also den Brief persönlich ab und grüßte die ehemaligen Untergebenen ihres Ehemannes. Der ein oder andere sollte sie kennen, wenn nicht alle. Sie waren auch auf der Beerdigung gewesen.


    “Zieht das von der Wertkarte ab.“ Sie reichte den Brief hinüber und dachte dabei schon an etwas anderes. Sie musste unbedingt noch zu diesem Germanicer, der nun in der Stadt war. Jetzt, da Landulf die ersten Wochen überlebt hatte, konnte sie das ruhigen Gewissens in Angriff nehmen.



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    Titus Duccius Vala
    Casa Prudentia
    Roma | Italia


    Heilsa Alrik,


    danke für deinen Brief und deine Wünsche an mich. Doch möchte ich dich darauf hinweisen, dass ich deiner Führung nicht bedarf. Ich weiß sehr wohl, was nun wichtig ist und wie unsere Lage hier ist, und sei dir versichert, es ist in meinem eigenen Interesse, dass die Macht dieser Sippe hier erhalten bleibt. Und ich werde auch mein Möglichstes dazu beisteuern. Inzwischen habe ich auch selbst das Bürgerrecht, wenige Tage vor seinem Tod hat Lando es beim Legaten für mich gekauft. Nun heiße ich hier Duccia Elva für die Römer, damit sie sich nicht mehr die Zungen bei meinem Namen zu brechen brauchen.


    Ich habe in der Zwischenzeit einen Sohn geboren, Landulf. Für die Römer nennen wir ihn Tiberius Duccius Secundus, nach seinem Vater. Er ist gesund und kräftig und hat die ersten beiden Wochen seines Lebens überstanden. Ich bin zuversichtlich, dass er auch die ersten beiden Jahre überleben wird, wobei der Winter die erste größere Herausforderung sein wird. Doch hier in der Stadt ist dieser ja nicht ganz so hart wie östlich des Flusses.
    Naha ist mittlerweile fast vier Jahre alt und auch gesund. Sie schlägt sehr nach ihrem Vater, aber noch ist sie ja nicht im heiratsfähigen Alter und soll so wild sein, wie sie möchte.


    Witjon erfüllt die Rolle als Sippenführer nach besten Kräften und hält unsere Macht hier. Die Dinge, die er vergisst, regele ich oder erinnere ihn daran, sie zu regeln. Dennoch wäre ich dir dankbar, wenn du ihn von Rom aus unterstützen könntest. Soweit ich weiß, wünscht er, Ritter zu werden, wie Lando es war. Vielleicht kannst du bei deinen Verbündeten nachfragen, wie weit das nun gediehen ist. Die Römer legen auf solche Titel ja viel wert, und nach Landos Tod ist dieser Titel uns abhanden gekommen. Ebenso müsste überprüft werden, ob die Stellung als Hoflieferant der gesamten Sippe galt oder nur Lando. Sofern es in Rom da mehr Informationen zu holen gibt als hier in Mogontiacum, lass sie uns zukommen, damit wir die nötigen Schritte einleiten können.


    Noch etwas, das du tun könntest. Am Tag von Landulfs Geburt stand Sönke, Sohn von Hartwig, bei uns in der Tür. Er wollte Witjons Erlaubnis, zur Ala zu gehen. Auch wenn er unfrei ist, bin ich am überlegen, ob er uns nicht mehr nützen würde, wenn er Bürgerrecht hätte und zur Legion gehen würde. Dort steigt er schneller in wichtige Positionen auf, und er kann uns einen Kontakt zum neuen Kommandanten der Legion stellen. Er selbst kann sich das Bürgerrecht wohl nie leisten außer über den Dienst bei der Ala, so dass wir ihm dieses bezahlen müssten. Ich bin mir sicher, dass er sich mit Eid weiterhin an uns binden wird, doch höre ich gern deine Einschätzung, sollte ich etwas übersehen haben. Und vielleicht weißt du einen Weg, wie man das ganze für uns günstiger regeln könnte.


    Was macht dein Werdegang in Rom? Die Ausrufer der Zeitung haben verkündet, dass du gewählt worden bist und deine Mitbewerber wohl überflügelt hast. Wie geht es den sonstigen Freunden unserer Familie?


    Til Ars ok Frisar



    Er war wieder mit seinen Gedanken ganz wo anders, wie häufiger in letzter Zeit. Und wie immer schwankte Elfleda, ob sie ihn einfach lassen sollte und ihm seine grüblerische Melancholie ein wenig lassen sollte, oder ob sie ihn nicht doch draußen solange mit dem Kopf in das Regenfass tunken sollte, bis er sich wie ein Sippenführer benahm. Im Moment entschied sie sich für ersteres. Mit einem Säugling auf dem Arm tunkte es sich so schlecht.


    “Na, dann tritt den Duumviren in den Hintern, damit die das machen. Ich würde ja selber hingehen, aber wenn du hingehst, wirkt das besser nach außen.“ Wenn er so in Gedanken war, war er irgendwie langsamer als sonst. Elfleda erklärte zwar gerne den Herren in der Casa, was sie zu tun und zu lassen hatten, aber meistens machten diese dabei den Eindruck, dass man es ihnen eigentlich nicht sagen müsste. Was natürlich weder Marga noch sie davon abhielt, es ihnen dennoch zu sagen. Nur im Moment machte Witjon eher den Eindruck, als wär er in Gedanken ganz weit weg und mitnichten bei den Problemen der Sippe, wie sie am effektivsten die Macht in der Stadt erhalten oder besser, ausweiten konnten. Und dabei durfte man in Sachen Politik nicht eine Sekunde nachlassen. Wenn Elfleda eines von ihrem Onkel gelernt hatte, dann das: Wer sich ausruhte, war so gut wie tot. Denn alle anderen ruhten sich nicht aus und warteten nur auf einen Fehler. Und nach ihrem persönlichen Geschmack hatten sie nun schon viel zu lange gewartet und den anderen Familien Mogontiacums erlaubt, Pläne und Allianzen zu schmieden, an denen die Söhne Wolriks keinen Anteil hatten. “Aber es sollte bald geschehen.“


    Witjon bot ihr ein Bier an, und Elfleda winkte ab. Im Moment war sie damit beschäftigt, Landulf herumzuwippen und am Aufwachen zu hindern. “Trinken die Römer eigentlich auch Bier?“ Elfleda mochte Wein nicht besonders, davon bekam sie Kopfschmerzen. Aber sie würde ihn anstandslos trinken und sich nichts anmerken lassen, während der Besuch hier war. Doch das dünne Bier oder Met wären ihr allemal lieber. Aber wie ihr Besuch das sehen würde, hatte sie keine Ahnung. Vermutlich würden diese wie in ihrer Heimat gewohnt verdünnten Wein haben wollen, vielleicht noch mit Honig, damit er besonders süß war. Elfleda hatte davon nur wenig Ahnung und sie hoffte nur, Witjon hatte da einen dezenten Weg gefunden, die Vorlieben des Quintiliers und seiner Frau herauszufinden.


    Und dann dreht Witjon sich mit einem Mal um und sah sie etwas merkwürdig an. So dankbar. Und er sprach das Wort auch aus, wenngleich leise, und Elfleda war sich ziemlich sicher, dass er damit nicht ihre Anwesenheit am heutigen Abend meinte. Mitgefühl machte sich in ihr breit, und das erhabene Gefühl, wenn man Anerkennung auf persönlicher Ebene erhielt. Kurz wurden ihre Miene und ihr Blick weich, als sie Witjon ansah, aber nur einen Moment. Sie konnte sich Schwäche nicht erlauben. Wenn sie allein war, wenn ihre Kinder schliefen und im Bett lagen, dann konnte sie sich kurz einen Moment der schwäche erlauben und um Lando trauern und vor Verzweiflung weinen. Aber jedes Mal, wenn es sie überkam, dauerte es nur ein paar Augenblicke, ehe sie sich fing. Ihre Familie brauchte sie. Die Sippe brauchte sie. Da war kein Spielraum für Schwäche. Und so bekämpfte sie die eigene Melancholie auch in diesem Augenblick und sah kurz zum Tisch. “Dank mir, wenn der Abend vorbei ist und die beiden Römer noch ihre Köpfe auf den Schultern tragen.“

    Mit Kissen aufgerichtet? Witjon erhielt einen Blick, der geradezu vor Sarkasmus troff. Sie wollte einen Stuhl, aus Hartholz, und keine Kissen. Da schlief sie ja ein und erfreute alle Gäste mit wenig Geschnarche (wobei sie nicht schnarchte!). “Wenn alle liegen, dann liege ich auch. Auch wenn es furchtbar verweichlicht.“ Elfleda hatte zwar nicht so eine Abneigung gegen den Luxus der römischen Welt, wie Lando ihn immer zur Schau getragen hatte, aber man musste es mit der Bequemlichkeit nicht übertreiben. Überhaupt fühlte sie sich immernoch ganz unformig, und es würde noch eine Weile brauchen, bis ihr Bauch wieder so stramm und schlank war wie vor der Schwangerschaft. An ihre Hüften wollte sie nichtmal denken.


    Und dann fragte Witjon noch, ob es ein Problem mit Landulf gäbe. Bei den Göttern, klang sie so anhänglich und weinerlich? Das musste sie dringend abstellen. “Nein, natürlich nicht. Ida weiß schon, was sie tut. Ich wollte nur sichergehen, dass es keine Probleme gibt.“ Glattzüngig gelogen, aber besser als Schwäche zugeben. “Da fällt mir ein, du musst noch die Decuriones zusammentrommeln. Wir können uns nicht leisten, Landos Platz im Rat zu verlieren.“ Dass sie sich selbst auf diesem Platz sah, erwähnte sie nicht noch extra, und es unterstrich auch noch einmal, dass sie keine überfürsorgliche Mutter zu sein gedachte. Auch wenn sie großes Unbehagen spürte, ihren Sohn aus den Augen zu lassen, und sei es zu Ida und nur für ein paar Stunden.
    “Und natürlich bleib ich. Ich kann mich ja schlecht gleich wieder verabschieden, weil ich müde bin. Wenn du sie schon einlädst, werd ich auch mein bestes tun, dass sie sich wohl fühlen.“ Wobei sie noch keine Ahnung hatte, wie das bei Römern funktionierte mit ihrem Ernst und ihrem seltsamen Sinn für Humor.


    Landulf merkte, dass seine Mutter gerade etwas aufbrauste, und rührte sich ein wenig im Schlaf. Noch wachte er nicht richtig auf, aber er gab schon kleine Laute von sich und bewegte ein wenig die Ärmchen, was Elfleda gleich als Aufforderung nahm, leise vor sich hinzusummen und ihr Gesicht nur dem Sohn zuzuwenden in der vagen Hoffnung, er würde weiterschlafen.

    Landulf hatte die ersten Tage seines Lebens gut überstanden. Auch wenn er Elfleda gerade ziemlich viel Kraft kostete, er entwickelte sich gut. Seine Lungen waren kräftig – was sie alle zwei Stunden zu hören bekam, wenn er Hunger hatte – und auch sonst war er gesund. Kein Fieber, kein Husten, nichts von den Dingen, die einem Säugling gerne gefährlich wurden. Und Elfleda liebte ihn. Zumindest, wenn sie nicht gerade völlig fertig irgendwo lag und von jetzt auf gleich auch einschlief, weil sie einfach nur so unendlich müde war.
    Warum Witjon jetzt Gäste eingeladen hatte, wusste sie nicht. Noch dazu Römer. Elfleda hatte nichts (wirksames) gegen Römer, nur waren solche Empfänge meistens doch etwas steif. Römer durfte man nicht anfassen, Römer tranken nicht, höchstens Wein, Römer sangen nicht und Römer konnten kein Germanisch. Alles in allem Dinge, die es Elfleda nicht unbedingt einfacher machten, diesen Typus Mensch für sich zu gewinnen. Und erst recht nicht, wenn sie übermüdet war.


    Und so kam sie auch ins Kaminzimmer. Die Augenringe hatte sie mit ein paar Kräutern den Tag über noch gut wegbekommen, aber dennoch konnte man ihr ansehen, dass sie einfach müde war. Landulf trug sie mit sich herum. Gerade eben hatte sie ihn noch gestillt, wenn sie ihn jetzt ein wenig spazieren trug, schlief er gleich ein und sie hatten hoffentlich etwas Ruhe für das Essen.
    “Hey, Witjon“, begrüßte sie das Sippenoberhaupt mit gedämpfter Stimme. Ihr Blick fiel auf die Liegen und den Tisch. “Ich kann aber sitzen, oder?“
    Landulf machte einen kleinen Mucks, den man nicht wirklich als Quäken bezeichnen konnte, und Elfleda fing schon gewohnheitsmäßig an, leicht zu wippen. “Meinst du, ich kann Landulf wirklich bei Ida lassen?“ Elfleda gab ihn momentan zwar durchaus gerne her und ließ jemand anderen mit ihm herumlaufen und singen, so dass sie schlafen konnte. Aber sie hatte ihn gerne einfach in Sichtweite. “Wann kommen die Römer überhaupt?“

    Schon fast eingeschlafen bekam Elfleda nur am Rande mit, wie jemand hereinkam und sich zu ihr aufs Bett setzte. Marga hatte ihren Sohn schon auf den Arm genommen, und sie sah noch, dass die alte Frau dem Mann das Kind zeigte. Sie sah nur längeres, rotbraunes Haar und ein wenig Bart von der Seite und lächelte ganz leicht. “Ja, Lando...“, antwortete sie erschöpft auf die Frage. Ja, sie hatte ihrem Mann einen Sohn geboren. Einen lebenden, und einen toten. Aber nur der lebende zählte jetzt, nur der war wichtig.


    Auch Lanthilda hörte die Antwort und legte Elfleda einmal besorgt die Hand auf die Stirn. Sie fühlte, dass die Mattiakerin etwas warm war, aber nicht in besorgniserregendem Maße. Sie war nur müde und erschöpft und hatte wohl im Halbschlaf Witjon mit seinem verstorbenen Vetter verwechselt. Mitleidig schaute sie auf die jetzt schlafende junge Frau hinunter und packte noch die letzten blutigen Tücher und das eingewickelte blaue Bündel, um sie zu entfernen.
    Marga hingegen sah sowohl die schlafende Elfleda als auch Witjon etwas skeptisch an. “Da, nimm ihn mal“, verfrachtete sie den schlafenden Landulf einfach in Witjons Arme und gab ihm noch ein “Und lass ihn ja nicht fallen!“ mit dazu, ehe sie sich auch die Mattiakerin ansah. “Es waren Zwillinge“, klärte sie den neuen Anführer der Sippe knapp auf, während sie Elfleda befühlte und schließlich ein zufriedenes Grunzen hören ließ. Erst dann sah sie wieder zu Witjon und blickte ihn etwas auffordernd an. “Willst du jetzt hier sitzen bleiben oder den kleinen Kerl noch den anderen zeigen?“

    Noch eins. Die Worte hallten in Elfledas Geist wieder. Da kam noch eins. Noch ein Kind. Vielleicht noch ein Sohn. Vielleicht ein lebendiger Sohn. Vielleicht.
    Lanthilda stützte ihren Rücken und hielt ihre Hand. Marga hatte das tote Kind einfach auf den Boden gelegt. Später würden sie es den Göttern zurückgeben und vergraben, ohne dass es einen Namen oder ähnliches erhalten würde. Es war tot, wie so viele bei der Geburt, da gab es keine langen Trauerreden oder große Verbrennungszeremonien. Wenn die Götter ein Kind so früh holten, erhielten sie es. Trauer war unangebracht, wenngleich Elfleda wohl zwischen dem Keuchen und Pressen durchaus den Schmerz des Verlustes fühlte. Und sie presste, so gut sie noch konnte. Sie fühlte sich unendlich erschöpft, aber ihr Körper ließ noch keine Erholung zu, und die Hoffnung auf ein lebendiges Kind ließen sie wach bleiben und weiter kämpfen.
    Der Kopf kam, dann die Schultern, und schließlich war es geschafft, der Druck verschwunden und nur ein unbestimmtes Gefühl von Leere und Müdigkeit blieb. Aber noch traute Elfleda sich nicht, zurückzusinken. Sie musste es wissen, solange sie noch einigermaßen wach war. Lanthilda wollte sie zurückziehen und strich ihr eine schweißverklebte Strähne aus der Stirn, aber Elfleda wehrte sich gegen den sanften druck. “Was ist es?“ fragte sie erschöpft und noch keuchend, als auch schon ein erlösendes, kleines Quäken erschallte.
    Marga stand auf, ächzend und schimpfend, in ihren Händen ein klebriges Bündel. Die Nabelschnur stand grotesk vom Bauchnabel auf, die Beinchen zuckten, ebenso die Ärmchen. Sie wickelte das Kind in ein sauberes Tuch und wischte ihm die Reste der Geburtsflüssigkeiten aus dem Gesicht, ehe sie es Elfleda auf den Bauch legte. Instinktiv griff die Mattiakerin nach dem Kind, hielt ihm eine erschöpft zitternde Hand hin und lächelte, als die kleine Hand sich kräftig darum schloss und zupackte. Ein befreites, leises Lachen erklang, und sie ließ sich zurücksinken.
    “Es ist ein Sohn. Du hast einen Sohn geboren.“ Marga sah ein wenig grübelnd auf Elfleda herunter, deren befreites Lachen etwas lauter wurde. Ein Sohn. Sie hatte einen Sohn! Einen lebendigen Sohn!
    “Und wie hübsch er ist!“ warf Lanthilda ein und streichelte auch einmal über das Kindergesichtchen.
    “Er ist recht klein. Aber wohl normal für einen Zwilling“, warf Marga ein.
    Elfledas Lachen erstarb und sie besah sich ihren Sohn. Ja, er war etwas kleiner, als sie Naha in Erinnerung hatte, aber das mochte täuschen. Aber er hatte kräftige Lungen und einen starken Griff. “Er lebt.“ Mehr konnte Elfleda nicht sagen, mehr war gerade nicht wichtig. Er lebte, und sie würde alles in ihrer Macht stehende dafür tun, dass es so blieb.


    Die Nachgeburt kam weniger schmerzhaft und nachdem Marga sie geprüft hatte und festgestellt hatte, dass nciths zurückgeblieben war, konnten sie das Bett richten. Elfleda musste kurz mit zittrigen Beinen aufstehen und auf einen nahen Stuhl, wo sie ihren Sohn dann das erste Mal stillte. Noch während des Trinkens schlief er ein und wurde von ihr noch einmal sanft wach gemacht. Auch sie wollte schlafen, aber die erste Milch war wichtig. Er musste sie behalten, oder sein Tod war so gut wie gewiss. Elfleda wusste das.
    Während Marga und Lanthilda die Laken entfernten und einen Teil des Strohs der Matratze austauschen, blickte Elfleda auch immer wieder auf den toten Säugling. Seine Nabelschnur lag eng an seinem Körper an und war um seinen Hals gewickelt. Und er sah furchtbar blau aus. Sie versuchte, sich auf ihren lebenden Sohn zu konzentrieren und gar nicht weiter darüber nachzudenken, was geschehen war. Viel wichtiger war, dass ihr Sohn die ersten Tage überstand. Und dann die ersten Jahre. Und dann die Kindheit. Es gab so viele Gelegenheiten, jung zu sterben, da sollte sie sich um diese eine keine Gedanken machen.


    Marga und Lanthilda waren schließlich fertig und halfen Elfleda, die auf dem Stuhl schon halb eingenickt war, wieder ins Bett. Nur zu willig ließ sich Elfleda darin nieder, das Kind neben sich. Sanft und halb im Einschlafen begriffen streichelte sie über das schlafende, kleine Gesichtchen, das dem Vater wie die meisten Neugeborenen, so man es interpretieren wollte, so ähnlich sah.
    “Hast du einen Namen?“ fragte Lanthilda treuherzig.
    “Landulf... Landulf, Sohn des Lando....“, murmelte Elfleda. Und wenig später war sie auch schon eingeschlafen, während Lanthilda und Marga alle restlichen Spuren der Geburt, inklusive des toten Kindes, beseitigten. Ganz vorsichtig nahm Marga danach das kleine Kind, um es nun auch den anderen vorzustellen.

    Als Eila kam, blickte Elfleda kurz auf. Das Verhältnis zwischen ihnen beiden hatte sich irgendwie geändert, auch wenn Elfleda der Sache noch lange nicht traute. Ihrer Meinung nach veränderte absolut nichts einen Menschen, in den Tiefen seines Herzens war der Mensch, wie er war, und Veränderungen am äußeren Verhalten waren nur darauf zurückzuführen, dass irgendwas in ihnen erkannt hatte, dass diese neue Veränderung nützlicher wäre als das, was bisher passierte. Aber gut, wenn Eila zu der Erkenntnis gekommen war, dass es mehr brachte, mit Elfleda befreundet zu sein und diesen Streit einzustellen – der nach Landos Tod ohnehin etwas nutzlos geworden war – würde die Mattiakerin sie nicht davon abhalten. Erst recht nicht, wenn sie gerade von einer Wehe erfasst wilde Flüche von sich gab und im Grunde ganz froh war, dass Naha den Raum verlassen würde.


    Witjon stand noch in der Tür, als Naha sich an ihm vorbeiquetschte und mit Eila den Raum auch schon wieder verließ. Seine Worte entlockten ihr ein schiefes Grinsen. Viel Glück. Das klang so, als wolle sie sich nackt einer heranstürmenden Horde bis an die Zähne bewaffneter Chauken entgegenstellen. Ganz so waghalsig war es nun hoffentlich nicht, dieses Kind auf die Welt zu bringen. “Schloich di“, scheuchte sie ihn nur in ihrem Heimatdialekt aus der Tür, etwas leidlich wegen der Wehe, die gerade abklang. Männer aber auch! Soviel Feingefühl wie ein Flusskiesel, aber wenn man mal einen harten Kerl brauchte, dann jammerten sie!
    Eine neue Wehe kam, diesmal noch heftiger als die vorangegangenen, und Elfleda legte sich seitlich aufs Bett und fing an, sie wegzuhecheln wie ein Hund. Verdammt, so schmerzhaft hatte sie das ganze gar nicht mehr in Erinnerung gehabt.


    Als schließlich nur noch Marga und Lanthilda bei ihr war, ging die eigentliche Arbeit los. Sie konnte nun nicht mehr aufstehen und mithelfen, so gern sie das auch getan hätte. Sie hasste es, wenn sie sich nutzlos und schwach vorkam, aber die Wehen kamen immer häufiger und schmerzvoller, gefolgt von üblen Schimpftiraden über die Ungerechtigkeit der Welt und warum Männer zum Ausgleich nicht irgendwelche Backsteine ihrem Darmtrakt entreißen müssten, um es wenigstens ein wenig auszugleichen. Dass sie dabei so laut war, dass sie selbst unten im Garten unvorsichtige Besucher ins Stocken brachte, ahnte sie nicht. Und wenn, wäre es ihr just in diesem Moment egal gewesen.


    Irgend etwas war anders an dieser Geburt als bei der letzten. Es dauerte eine ganze Weile, bis Elfleda merkte, was anders war. Das Kind schien sich nicht im Geringsten zu senken. Die Wehen wurden heftiger und auch kürzer, aber dieser befreiende Druck, wenn das Kind in Richtung Mutterkanal rutschte, der schien und schien sich nicht einstellen zu wollen. Elfleda wurde unruhiger, verpackte ihre Angst allerdings in einer gehörigen Portion Wut. Jammern nützte jetzt ja auch nichts, auch wenn sie auch schon am Verhalten von Marga und Lanthilda merkte, dass die auf ähnliche Gedanken schon gekommen waren.
    Der Mittag ging vorüber, aber noch immer lag Elfleda seitlich auf dem Bett, jede neue Wehe weghechelnd und schimpfend, bis ihr die Worte ausgingen und sie neue erfinden musste. Irgendwann war es so weit, und die Fruchtblase war geplatzt und ergoss ihren Inhalt klebrig und schleimig über die Schenkel der Mattiakerin und die Tücher, auf denen sie lag.
    “Jetzt komm aber auch endlich!“ befahl Elfleda ihrem ungeborenen Spross, der sich nicht und nicht senken wollte. Nur leider hatte sie bei diesem Kind wohl wenig Autorität, denn es ließ sich auch weiterhin Zeit.


    Der Nachmittag war schon weit vorangeschritten, als die Wehen nun so stark kamen, das Elfleda das Bedürfnis zu Pressen verspürte. In ihrem Rücken saß Lanthilda und stützte sie, Marga war inzwischen auf den Boden gekniet und sah immer wieder nach, ob sie sich denn auch weit genug geöffnet hatte. Auch wenn Elfleda nach wie vor das Gefühl hatte, das Kind sitze noch viel zu hoch, sie brauchte nicht erst Margas Hinweis, dass sie pressen konnte, um selbiges zu tun. Auch wenn sie glaubte, nach dem ganzen Tag jetzt nicht mehr die Kraft zu haben, sie hatte sie und presste, gab dabei nur ein langgezogenes “Hrnnnnnnggggg“ von sich und hielt den Atem an, bis es nicht mehr ging und sie Luft holen musste.
    “Einmal noch“ hörte sie, ob von Marga oder Lanthilda wusste sie selber nicht so genau zu eruieren, und sie strengte sich noch einmal an. Der schlimmste Druck ebbte ab, auch wenn das befreite Gefühl wie nach Nahas Geburt seltsamerweise ausblieb, und Elfleda sackte schweißgebadet einfach zurück in Lanthildas Arme.
    Erst nach ein paar Atemzügen, in denen sie einfach nur damit beschäftigt war, sich zu erholen, merkte sie, dass etwas fehlte. Irgendwas stimmte nicht, und es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, was genau es war. Es war so still im Raum. Niemand sagte was. Und da war auch kein Geschrei. Nichts. Es war einfach nur still.
    “Marga?“ fragte Elfleda und wollte sich aufrichten, aber Lanthilda hielt sie zurück. Deren Gesicht war kreideweiß. “Marga, was ist? Warum schreit es nicht?“ Und nun kam Elfleda doch halb hoch und sah nur das blaue etwas in den Händen der älteren Frau, das so leblos und reglos dalag und keinen Mucks machte. Nicht einmal ein Zucken, gar nichts.
    Der Schock tilgte für den Moment gnädigerweise allen Schmerz. Dennoch realisierte Elfleda mit verblüffender Klarheit, dass das ihr Kind war, das da tot war. Sie sah sogar, dass es ein Junge gewesen wäre. Und sie bemerkte, dass sie weinte, auch wenn sie gar nichts dazu tat. Erst dann ließ sie sich zurückfallen und der Schmerz kam zurück, zusammen mit der Erkenntnis, dass sie Landos Sohn verloren hatte. Sie schluchzte einmal, als es einfach zuviel wurde, und wollte sich wegdrehen, als sie erneut eine Wehe verspürte, die zu stark für eine normale Nachwehe war. Das Schluchzen wurde zu einem Keuchen, als sie sich auf den Bauch fasste, der sich nun doch endlich gesenkt zu haben schien. “Irgendwas stimmt nicht“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als sie auch schon wieder nach Lanthildas Hand griff und anfing, zu pressen.

    Ein Glück, er lamentierte nicht weiter rum, sondern machte sich daran, wirklich aufzuräumen. Nunja, was Männer unter Aufräumen eben so verstanden. Aber er bewegte sich und auch, wenn er noch ächzte, er tat, was er sollte. Elfleda atmete einmal tief durch und gab ihren Gedanken einen Moment, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie durfte nur nicht zu sehr darüber nachdenken, das war auch schon der ganze Trick. Es gab genug zu tun, was ihre ungeteilte Aufmerksamkeit forderte, da brachte es rein gar nichts, sich mit Dingen zu befassen, die sie ohnehin nicht abändern konnte.


    Sie sah also noch eine Weile Witjon beim Aufräumen zu, auch wenn sie ihn gar nicht so wirklich wahrnahm, und als sie im Kopf geordnet hatte, was denn heute sonst noch anstand – außer die duccischen Männer durch die Gegend zu scheuchen, damit die taten, was sie sollten – verließ sie dann auch das Kaminzimmer wieder und überließ das neue Oberhaupt der Söhne Wolfriks seinem Tun.

    Die Wehe verklang wieder und Elfleda saß noch ein wenig da und lauschte in ihren Körper hinein. Irgendwas passte da einfach nicht, und sie wusste nicht zu sagen, was es war. Aber sie hatte das Gefühl, als würde das Kind sich gar nicht richtig senken, wenngleich die Wehen schon so regelmäßig kamen, dass es das eigentlich müsste. Aber irgendwas passte einfach nicht.
    “Mach dir keine Sorgen, Schatz. Das verstehst du, wenn du älter bist.“ Ein herrliches Argument, um kindliche Fragen abzuwürgen. Elfleda mühte sich zwar meistens, geduldig zu sein und zu antworten, aber das hier war nun doch ein wenig zu kompliziert, um es so einem kleinen Stöpke zu erklären. Sie würde es sowieso nicht verstehen. Außerdem war es an der Zeit, dass sie den Raum verließ. Wenn die Fruchtblase platzte wollte Elfleda nicht unbedingt noch erklären müssen, was da gerade passierte. “Aber Naha, du solltest jetzt zu Ida gehen. Das hier ist eine Erwachsenen-Sache.“
    Gut, das stimmte nicht ganz. Spätestens, wenn Naha 8 oder 10 wurde, würde sie bei Geburten mithelfen müssen, soviel stand fest. Elfleda würde nicht zulassen, dass diese in eine Ehe ging ohne zu wissen, was denn passierte. Aber mit ihren nicht ganz 3 Jahren war es dazu noch zu früh, sie wollte ihr nicht endlose Albträume bescheren.

    Natürlich hatte die Erklärung nicht gereicht. Wär ja auch zu schön gewesen, wenn sie das hätte. Elfleda stieß einmal schnaubend den Atem aus und konzentrierte sich kurz auf die Signale ihres Körpers, aber die Wehe war wohl vorbei und sie hatte einen Augenblick Verschnaufpause. Wortwörtlich.
    Sie setzte sich kurz aufs Bett, als sie Witjon in der Tür bemerkte und ihn kurz fragend ansah. Naha bemerkte ihn auch und krabbelte gleich auf die andere Seite des Bettes. Natürlich hatte Elfleda schon bemerkt, dass Naha sich in Witjons Gegenwart seltsam benahm. Fast, als hätte sie Angst vor ihm. Und der giftige Blick, den sie ihm zuwarf, der war schon fast unübersehbar, selbst wenn ihr mütterlicher Instinkt ihr nicht schon gesagt hätte, dass etwas im Busch war. Nur was es war, da hatte Elfleda keine Ahnung. Witjon konnte Naha gar nichts getan haben, selbst wenn er der Typ Mann wäre, der zu kleinen Kindern grob gewesen wäre. Was er aber sowieso nicht war. Aber irgendwas hatte Naha, und Elfledas einzige Theorie bestand darin, dass die Kleine es schwer nahm, dass Witjon nun der Führer der Sippe war, weil sie ihren Vater vermisste. Aber das würde sich geben.
    “Wie es hineingekommen ist?“ fragte Elfleda noch einmal nach und wandte ihre Aufmerksamkeit der Tochter zu. Sie hatte eigentlich nicht vor, ihr Kind weltfremd aufwachsen zu lassen und ihr irgendwelche Märchen von Störchen und Bienchen und Blümchen zu erzählen. Aber die Wahrheit würde sie sowieso noch nicht verstehen, und ein bisschen unschuldige Kindheit sollte sie ja doch haben. “Hast du schonmal bei Ragins Hunden zugeschaut, wenn einer auf den anderen springt?“ Gut, die Hunde waren hauptsächlich außerhalb, aber Naha war ja auch nicht nur im Haus hier. “Oder bei den Katzen?“ Immerhin hatten sie hier am Haus ein paar von den Tieren wegen der Mäuse, auch wenn die von den schmusigen Samtpfoten, die man später als Haustier bezeichnen würde, weit entfernt waren. Wehe dem, der eine anfassen wollte, der konnte sich gleich von Teilen seiner Haut verabschieden. “So ähnlich funktioniert das bei Menschen auch.“
    Und da kam auch schon die nächste Wehe, und Elfleda krallte sich in ihre Decke und machte ihrem Schmerz lauthals Luft, gefolgt von einigen neueren Flüchen über die Ungerechtigkeit der Welt und besonders der Männer.

    Auch wenn Elfleda nicht laut geworden war, zeigten ihre Worte wohl doch eine gewisse Wirkung. Witjon entschuldigte sich wie ein kleiner Junge, der von seiner Mutter bei einer Dummheit erwischt worden war, zog sich an und schlurfte auch gehorsam zu seinen Schuhen, um diese aufzuheben. Auch wenn er dabei stöhnte wie ein im Sterben liegender Esel und sich erstmal an der Wand festklammern musste. Zu seinem eigenen Besten behielt er aber weiteren Mageninhalt in sich und verzichtete darauf, die Zerstörung des Kaminzimmers zu komplettieren.
    Sie wartete, stützte wieder ihre Hände in ihr Kreuz und entlastete so ihren Rücken, und sah ihm dabei zu, wie er sich sammelte. Sie hatte eigentlich nicht vor, hier stehen zu bleiben, bis er fertig aufgeräumt hatte, aber sie wollte durchaus noch sichergehen, dass er denn damit anfing und es nicht wieder vergaß. Sie sah also streng zu, wie er herumschlurfte, als er zu ihr kam und zu einer Erklärung ansetzen wollte. Ihre Augenbrauen hoben sich leicht, als er auch schon wieder verstummte und zu Boden sah.
    Sie starrte ihn einfach einen Moment an. Wollte sie wirklich eine Erklärung oder eine Entschuldigung? Es war jetzt ganz leicht, eine solche aus ihm herauszupressen. Sie musste einfach nur mit 'ja?' antworten, und er stand unter Zugzwang. Aber wollte sie wirklich hören, warum er sich so idiotisch benahm, gerade jetzt? Sie schüttelte den Kopf, als müsse sie diese unausgesprochene Frage für sich selbst beantworten, und sah ihn einfach an.
    “Ich kann mich nicht um noch mehr Kinder kümmern, Witjon“, meinte sie nur, aber ihre Stimme hatte nicht die Kraft, wirklich giftig dabei zu klingen. Es war mehr eine stumme Resignation, beinahe Verzweiflung, die sie aber nicht zuließ. Irgendjemand musste hier ja den Überblick behalten und retten, was zu retten war. Und wenn sie selbst dabei niemanden hatte, bei dem sie selbst sich etwas fallen lassen konnte, dann war dem eben so. Aber es gab wichtigeres als die eigene Gemütsverfassung. Sie war Mutter, sie konnte sich sowas einfach nicht leisten.

    Naha war eindeutig Landos Tochter. Nicht nur, dass das erste, an das sie beim Aufwachen dachte, Essen war. (Gut, bei Lando war es mitunter auch das zweite gewesen, an dass er gedacht hatte.) Nein, sie hatte auch das perfekte Timing ihres Vaters. So kam sie gerade wieder und stellte völlig unschuldig ihre kindliche Frage, als Elfleda von einer besonders heftigen Wehe erfasst wurde und sich, da sie gerade stand, an dem einzigen Stuhl im Raum festkrallte und ein paar sehr farbenfrohe Flüche loswurde. Und dabei versuchte sie, einigermaßen darauf zu achten, dass Naha das nicht alles hörte. Manche Fragen, die daraufhin folgten, waren nämlich alles andere als einfach zu beantworten.
    Die Wehe ebbte ab, und auch Marga war eingetroffen und wohl bereit für die Geburt. Allerdings ging das doch nicht ganz so schnell, ein wenig dauerte es schon, bis die Presswehen einsetzten und das Kind endlich heraustreiben würden. Solange wollte Elfleda sich wenigstens noch nützlich machen und bei den Vorbereitungen helfen.


    Aber erst einmal galt es, die Frage ihrer Kleinen zu beantworten. “Auf demselben Weg, wie es in meinen Bauch gekommen ist, Schatz. Nur ist es jetzt ein wenig größer.“ Auch wenn Elfleda gerade der Schweiß etwas auf der Stirn stand, sie klang ganz entspannt und ruhig. Fast, als hätte sie nicht gerade eben erst alle Männer verdammt, die nur ihren Spaß hatten, während die Frau zu leiden hatte. Eine kurze Welle der Trauer erfasste sie, als sie daran dachte, wie gern sie Lando diese Dinge jetzt an den Kopf geworfen hätte, aber zum Glück war dafür im Moment eigentlich gar keine Zeit.
    “Aber das dauert noch, Naha. So eine Geburt braucht viel Zeit.“ Und auch wenn Elfleda wusste, dass die Erklärung ihrer Tochter wohl nicht reichen würde, hatte sie die vage Hoffnung, dass es ihr schlicht zu langweilig sein würde, hier zu warten, und sie gleich zu Ida begeben würde.

    Es dauerte eine Weile, bis der Herr sich entschieden hatte, ihrer Bitte folge zu leisten und sich vom Boden zu erheben. Elfleda hatte wenig Mitleid mit ihm. Wer saufen konnte, der konnte auch aufstehen, so einfach war das. Vor allem, wenn er meinte, sich gerade jetzt dermaßen einen hinter die Binde kippen zu müssen, wo er doch eigentlich eine Sippe führen sollte und alles daran setzen sollte, die momentane Macht zu erhalten. Aber nein, der Herr ging lieber den ganzen Abend feiern. FEIERN! Allein deshalb hatte er in ihren Augen kein Mitleid verdient. Ja, das Leben ging weiter, ja, Lando war ehrenhaft und ruhmreich gestorben. Dennoch war ihr nicht im geringsten nach feiern, also hatte er gefälligst auch nicht zu feiern! Himmelwodandonarswetteraberauch! Dass Kerle nur so begriffsstutzig sein mussten! Und gefühlskalt obendrein! Nicht das geringste Feingefühl!
    Elfleda stand also nur da und sah zu, wie Witjon sich aufrappelte. Als ihm dabei seine Hose bis in die Kniekehlen rutschte, verdrehte sie etwas entnervt die Augen. Dass er sich, anstatt sich anzuziehen, erstmal kratzte, machte da auch schon keinen großen Unterschied mehr. “Also, wenn du mich beeindrucken willst, musst du dich aber noch ein bisschen mehr ins Zeug legen“, meinte sie nur trocken. Mit seiner Nacktheit an sich hatte sie keine Probleme, auch wenn der Anstand verlangte, dass er sich endlich anzog.
    Ihr Blick folgte dem seinen nach seinen Schuhen, und sie wartete einen Augenblick, bis sie realisierte, dass er sich wohl nicht bewegen würde sondern vorhatte, weiter hier herumzustehen und dümmlich zu grinsen. Ein leichtes Grollen wie von fernem Gewitter war zu hören, nur, dass es von Elfleda ausging und nicht von draußen hereinkam. In einem letzten Versuch, sich zu beherrschen, atmete sie noch einmal durch und fasste sich mit ihrer linken an den Kopf, rieb sich die Schläfen. “Gedenkst du sie auch anzuziehen oder wenigstens aufzuheben?“ Und wehe, er sagte jetzt nein!

    Wie ein Nichtschwimmer im See ruderte Witjon hektisch herum, stieß dabei gegen den Tisch und den Sessel, und blieb schließlich hektisch herumschauend halbaufgerichtet liegen. Er wischte sich das Blumenwasser aus dem Gesicht und blinzelte gegen das ohnehin spärliche Licht der Morgensonne durch den Raum, ohne Elfleda zu sehen. Die stand nur über ihm und wartete, dass er in ihre Richtung kniepelte, so dass er wenigstens die Chance hatte, in ihr geradezu überfreundlich lächelndes Gesicht zu schauen.
    “Guten Morgen, Witjon Evaxson. Geruhsame Nacht auf dem Fußboden gehabt?“ Ihre Stimme trällerte geradezu durch das Kaminzimmer. Allerdings war das weniger aus Fröhlichkeit oder gar Freundlichkeit, sondern vielmehr, da Elfleda ganz genau wusste, dass gerade die hohen Stimmlagen bei einem Kater ganz besonders fies im Kopf klingelten.
    Sie ging leicht um ihn herum und ruckte trotz ihres Babybauches den Sessel beiseite, so dass er mehr Platz – und weniger Halt – zum Aufstehen hatte. Denn dass er jetzt aufstehen würde, das stand für sie außer Frage. “Nun, so als neuer Hausherr mag es dir vielleicht entgangen sein, aber Betten sind im allgemeinen bequemer. Und du solltest beten, dass Sveija den Fleck nicht sieht, den dein Zusammenstoß mit der Vase auf dem Fußboden hinterlassen hat. Oder die Scherben. Am besten, du fegst sie gleich auf.“
    Jetzt stand sie wieder vor ihm, die Hände zur Entlastung ihres Rückens ins Kreuz gestemmt, und sah auf Witjon runter. Jedes noch so kleine Gefühl des Mitleids wurde dabei sorgfältigst unterdrückt.

    Die letzten Tage waren besonders schlimm gewesen. Elfleda hatte das Gefühl, jeden Moment zu platzen. Wie immer waren die letzten Wochen einer Schwangerschaft die härtesten, da das Gewicht des Kindes ständig auf die Blase drückte und jegliche Anstrengung dreimal so schwer fiel. Was Elfledas Laune, die seit dem Tod ihres Mannes mit eisig noch euphemistisch beschrieben wäre, nochmal verschlechterte. Und dann kamen auch noch die Vorwehen dazu, jeden Tag ein wenig Ziehen hier, ein wenig Drücken da, aber nie so wirklich dieser Drang und Schmerz, der die Geburt letztendlich einleitete.


    Es war warm dieser Tage, und Elfleda lag wach in ihrem Bett. Neben ihr schlief Naha ruhig und selig, und gedankenverloren streichelte Elfleda ihrer Tochter durch das rote Haar. Noch war es dunkel draußen, aber die Sonne ging dieser Tage früh auf. Die ersten Vögel fingen schon ganz zaghaft an, in den Bäumen zu zirpen, während der Himmel sich langsam aber sicher bleigrau verfärbte. Aber sicher waren es noch zwei oder drei Stunden, bis das Haus letztendlich wirklich erwachen würde.
    Elfleda lag einfach auf dem Rücken und konnte nicht mehr schlafen. So vieles ging ihr im Kopf herum. Sie hatte einen Boten in ihr Heimatdorf geschickt, zu Rodewini, und ihm ausrichten lassen, dass Lando tot war. Sie konnte sich die Reaktion ihres Onkels vorstellen, der alles andere als erbaut sein würde. Vermutlich würde er sie bitten, zu ihrer Sippe zurückzukehren. Sie hatte auch darüber nachgedacht. Lange, und viel. In ihrem Dorf war sie die unangefochtene Königin, und Rodewini würde sie sicher recht rasch wieder verheiraten. Ihr Vater würde sich um sie kümmern wie noch nie zuvor in seinem Leben – und er war so schon ein guter Vater gewesen.
    Und dennoch, ihr Platz war jetzt hier. Hier waren ihre Kinder sicherer als rechts des Flusses. Hier hatten sie einen Platz in der römischen Gesellschaft, und Elfleda machte sich darüber keine Illusionen: Momentan war diese weit mächtiger als alles, was die germanischen Stämme aufzubieten hatten. Vor allem mit ihrer Struktur und Ordnung konnten weder Chauken noch Chatten noch Cherusker noch sonstwer mithalten. Und hier hatten ihre Kinder die Chance auf Bildung. Selbst wenn Elfleda nach wie vor nicht alles verstand, wie die römische Faszination für das geschriebene Wort, sie erkannte die Möglichkeiten. Ihre Kinder konnten in beiden Welten zu großen Persönlichkeiten heranwachsen. Aber dafür musste sie hier bleiben.
    Der andere Grund war gänzlich monetärer Natur. Sie war die reichste Frau der Stadt, Witwe des ehemals mächtigsten Mannes. Sie musste nur dafür sorgen, dass dies auch so blieb, und die Macht, die sie hier dadurch hatte, war nicht zu vergleichen mit der, die sie hätte, wenn Rodewini sie an irgendeinen Stammesfürsten verheiratete.


    Sie lag da und streichelte ihrer schlafenden Tochter durchs Haar, lauschte dem gleichmäßigen Atem. Mit ihren drei Jahren war sie nun schon alt genug, dass dieser nicht einfach mehr aussetzte wie manchmal bei Säuglingen. Dennoch war die Angst nie so ganz weg, dass etwas geschah. Vermutlich würde die auch nie ganz weg gehen, selbst wenn sie zehn war und damit wirklich aus der größten Gefahr heraus. Wahrscheinlich würde sich Elfleda selbst dann noch um sie sorgen, wenn sie einmal vierzig Jahre alt werden sollte – sofern sie selbst so alt werden würde.
    Ihre Gedanken schweiften ohne Sinn hierhin und dahin, während sie einfach auf dem Rücken lag. Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere auch in den letzten Wochen. Das Ziehen setzte wieder ein, wie die letzten drei Tage schon. Sie spannte ihren Körper leicht an, um Naha nicht zu wecken, und wollte es einfach wie sonst auch wieder abwarten. Nach nun so vielen Vorwehen glaubte sie schon fast nicht mehr daran, dass es etwas anderes sein konnte. Doch diesmal blieb das Ziehen, verstärkte sich, verhärtete sich. Elfleda kam mit ihrem Oberkörper hoch, als sich ihre Eingeweide immer weiter verkrampften. Naha rutschte von ihr herunter und sah sie verschlafen an.
    Es dauerte einen Moment des Hechelns und Atmens, bis der Schmerz wieder weg war und Elfleda sich zurücksinken ließ. Sie nahm Nahe wieder in den Arm und küsste ihr Kind auf die Stirn. “Heut kommt dein Geschwisterchen, Naha. Aber es dauert noch ein wenig. Aber du kannst dann Marga und Lanthilda Bescheid geben. Willst du das machen?“

    Auch wenn Elfleda nachts aufwachte und den Lärm hörte, blieb sie in ihrem Bett liegen, die Arme leicht um Naha geschlungen. Sie hatte gelauscht, ob noch etwas passieren würde, ob Albin den Poltergeist zur Rede stellen würde oder ob der Lärm von etwas wirklich gefährlichem herrührte, aber nach einigen Momenten war er verklungen und es geschah auch nichts weiter, so dass die Mattiakerin wieder einschlief. Mit ihrem dicken Bauch würde sie nachts nicht durchs Haus stapfen, am besten noch mit einem Teppichklopfer bewaffnet, und Kobolde jagen. Und da weiter nichts passierte, schlief sie nach etwa einer Stunde auch wieder ein.


    Am nächsten Morgen erwachte sie wie immer, weil Naha sie geweckt hatte. Das Kind war besser als jeder Hahn, denn während man das Federvieh noch ignorieren konnte, schaffte man das bei kleinen Kindern nur schwerlich. So also stand sie sehr früh auf, wusch das Kind und sich und machte sich dann daran, herunterzugehen und einen neuen Tag zu überstehen. Seit Landos Tag schien ihr das von Morgen zu Morgen schwerer zu werden, denn jeden Tag erwachte sie kurz mit dem Gefühl, ihn noch bei sich zu haben, ehe die Erkenntnis zuschlug, dass das nicht wahr war. Und jeden Morgen schien es ihr, als sterbe auch sie ein Stückchen mehr. Und es wurde nicht besser, wie alle sagten. Es wurde nur immer trostloser und verzweifelter.


    Sie ging die Treppe hinunter und gelangte schließlich ins Kaminzimmer. Eine zerbrochene Vase lag auf dem Boden, dazwischen Blumen. Der Rest vom Blumenwasser hatte auf den Holzdielen einen schicken Fleck hinterlassen. In einer anderen Ecke lagen zwei dreckige Stiefel wild übereinander geworfen. Elfleda umging den Scherbenhaufen und schritt weiter ins Kaminzimmer, wo noch immer lautes Schnarchen den Täter preisgab. Barfuß, etwas angetrocknete Galle im Mundwinkel, mit nur halb zugebundener Hose, lag er auf dem Teppich zwischen Sessel und Tisch und hielt sich am Fußboden fest, um nicht runterzufallen. Elfleda stand über ihm wie eine Walkyre, die über einem Schlachtfeld kreiste und auf die ersten Gefallenen wartete. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Lag der Kerl hier im Suff auf dem Fußboden!
    Elfleda hatte schon häufig besoffene Männer auf diversen Fußböden liegen sehen, das war es nicht. Männer waren manchmal einfach so. Aber musste er das ausgerechnet jetzt machen? Sie ging ein wenig im Raum entlang und suchte eine andere Blumenvase. Sie entfernte vorsichtig das Grünzeug und legte es auf den Tisch, ehe sie mit einer Schwungvollen Bewegung das Wasser über dem Schlafenden entleerte, damit dieser aufwachte. Das war das erste, was sie gelernt hatte: Man durfte mit betrunkenen Männern keine Gnade haben, sonst waren sie jeden Tag besoffen. Und das konnte Elfleda gerade nicht gebrauchen. Sie konnte sich nicht um ein Kind, eine Schwangerschaft und einen Trunkenbold kümmern.

    Es war erschreckend, wie schnell die Flammen sich ausbreiteten. Kaum hatte Elfleda ihre Fackel in den Reisig gestoßen, züngelten gelbrote Flämmchen empor, leckten an den Zweigen und Ästen, fraßen sich den Scheiterhaufen entlang. Ein erst zaghaftes Knistern wurde bald zu leisem Knallen, dann zu hungrigem Heulen und schließlich dem lauten Tosen eines Sturmes, als die Flammen hoch schossen und gierig alles verschlangen, was ihnen dargebracht worden war.
    Sie War zurückgetreten, an Witjons Seite, und sah nur stumm den Flammen bei ihrem Werk zu. Allzu bald schon hatten sie Lando erreicht, und Qualm verhüllte gnädigerweise einen genauen Blick auf seine Gestalt. Dennoch versuchte Elfleda, ihren Blick auf Landos Gesicht zu halten, auch als ihr die Helligkeit des Feuers in den Augen brannte und diese zum Tränen brachte. Nie würde sie zugeben, dass ihre Tränen aus anderen Gründen rinnen mochten wie diesem einen, nie würde sie zugeben, sich eine solche Schwäche geleistet zu haben. Aber allzu bald sah sie nur noch eine von Flammen umhüllte Masse, kaum als menschlicher Körper zu erkennen, während das Brüllen des Feuers alles übertönte, selbst das Weinen ihrer Tochter.
    Nur kurz sah Elfleda zu ihr, wie sie sich an Eila presste und weinte. Ja, sollte sie weinen, weinen bis sie keine Tränen mehr hatte, weinen bis ihre Stimme heiser war, weinen bis all der Schmerz nur noch ein taubes Echo in ihrem Körper war. Sie sollte weinen, wie Elfleda am liebsten weinen wollte, es aber nicht durfte. Sollte sie für sie beide weinen und das ungeborene Kind in ihrem Bauch, sollte sie für die ganze Welt weinen, wenn sie wollte. Und auch, wenn es Elfleda beinahe zerriss, sie konnte jetzt nicht zu ihr gehen und sie trösten. Sie wusste nicht einmal, ob sie sie überhaupt trösten konnte. Sie wusste nicht, ob es Trost hierfür gab. Für sich selbst hatte sie keinen.
    Sie schluckte und wischte sich einmal über die Augen, die beständig weiter tränten und nicht enden wollten. Neben ihr stand Witjon, stark und regungslos, und sah ebenso wie sie zum Feuer. Jetzt war er der Herr der Duccier und musste sie durch diese Zeiten führen. Elfleda sah kurz in sein Gesicht, die angespannten Züge, die strengen Augen. Er bemühte sich.


    Lange standen sie da, sahen dabei zu, wie die Flammen all das verschlangen, was Elfleda zu lieben gelernt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie Lando kennen gelernt hatte. Die etwas unbeholfenen, ersten Gespräche, das allmähliche Kennenlernen. An seine hundert Marotten, die er immer wieder ausgelebt hatte. An das Gefühl seiner Hände, das Kitzeln seines Bartes, den Geruch seiner Haut. Alles Dinge, die für immer verloren waren. An sein verschmitztes Lächeln, das sie nicht mehr sehen würde. An die Art, wie er mit Naha gespielt hatte, wie ausgelassen die beiden miteinander umgehen konnten.
    Irgendwann schluchzte Elfleda doch einmal, während die Tränen nicht aufhörten, ihr über die Wangen zu rinnen. Eine Hand legte sich schützend auf ihren Bauch, über das Kind, das seinen Vater nie kennen lernen würde. Sie schluchzte etwas mehr. Sie wollte hier nicht weinen, aber sie hatte einfach nicht die Kraft, es allein zurück zu halten. Und da erlaubte sie sich zum ersten Mal die Schwäche und griff nach Witjons Hand, ohne ihn zu fragen, ohne ihn auch nur anzusehen. Sie griff einfach nach seiner Hand und hielt ihn fest. Hielt sich an dieser Hand fest und suchte dort die stärke, die sie brauchte, um hier nicht heulend in die Knie zu gehen, sondern es stumm und stolz zu ertragen.


    Und so stand sie dann da, während das Feuer herunter brannte, und die sterbliche Hülle von Lando, Sohn des Landulf, genannt Loki, zu einem kleinen Rest verbrannte.

    Nur kurz zuckten Elfledas Augenbrauen leicht nach oben, als der Präfekt einen kleinen Scherz machte. Auch wenn die Versuchung da war, ihn ebenso wie den Quintilier vom Vortag abzufertigen, Elfleda hatte von ihrem Onkel zu fiel über Politik gelernt, um sich dieser kleinlichen Neigung hinzugeben. Während der Mann gestern nur irgendein Neuankömmling war, bei dem Witjon es nötigenfalls wieder zurechtbiegen konnte, war das hier der Fürst der Stadt, und mit dem sollte sie sich gut stellen. So also entschied sie sich für ein wenig Schauspielerei. “Es ist etwas vorgefallen, das meiner Verzeihung bedürfte?“ Auch wenn ihre Stimme unschuldig klang, ihr Blick sagte sehr deutlich, dass sie es mitbekommen hatte, allerdings einfach darüber hinweggehen wollte. Man musste das nicht unnötig ausbreiten – auch wenn ein Teil von ihr ihn dafür hätte zerfetzen mögen.
    Sie blickte wieder zu ihrem verstorbenen Mann und legte eine Hand auf ihren Bauch. Gut, es würde also hier keine Probleme geben. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass das Kind gesund zur Welt kam. “Ich möchte dir danken, Präfekt. Du hast mir eine große Sorge genommen.“ Ihn jetzt zu fragen, ob er ihr auch helfen würde, die Rechte des Kindes zur Not auch durchzusetzen, wäre aber zuviel gewesen. Also sagte Elfleda dazu nichts weiter.
    “Möchtest du auch noch mit Duccius Marsus reden, oder ist dein Zeitplan zu knapp bemessen dafür?“

    Nach den Tagen der Vorbereitung, den Tagen der stummen Wacht und der vielen Kondolenz hätte Elfleda gedacht, dies hier würde ihr leichter fallen. Sie wusste ja, dass ihr Mann zu Grabe getragen werden musste, sie wusste, dass er gestorben war. Aber auf dem Weg durch die Straßen, immer der Bahre mit ihrem Mann folgend, wurde ihr erst so richtig bewusst, wie endgültig es war. Diese Momente waren es, wenn sie ihn zum letzten Mal sehen würde. Nie wieder würde sie bei ihm sein. Und sie würde ihn nicht begleiten. Das hier war Abschied, und es tat mehr weh, als sie geglaubt hatte.


    An der einen Hand hatte sie Naha, die neben ihr herging. Wenn das Kind müde wurde und die Füße wegen der Strecke weh taten, nahm sie sie kurz hoch und drückte sie im Gehen leicht an sich. Es schmerzte, dass sie ihr im Moment keine bessere Mutter sein konnte. Elfleda hoffte nur, dass Naha nicht bemerkte, wie sie nachts weinte, dass sie genug Kraft hatte, das Kind zu trösten. Sie hatte der Tochter auch erklärt, was heute passieren würde, hatte versucht, ihr den Tod zu erklären. Nicht grob, aber auch nicht beschönigend. Naha wusste, dass ihr Vater verbrannt werden würde, um nach Valhall zu gelangen. Und dass sie ihn daher nicht wiedersehen würde, solange sie lebte. Und Elfleda betete nur, dass ihre Erklärung gut und sanft genug gewesen war.
    Die Klageweiber sangen laut und schön. Herzzerreißend hallten ihre Worte durch die Straßen, und Elfleda war froh, dass sie ihnen diesen Dienst erwiesen. Ihre eigene Stimme hätte wohl versagt. Sie hatte überlegt, auch zu singen, so aber formten ihre Lippen nur immer wieder die Worte des Liedes, ohne dass wirklich ein Laut dabei heraus kam.


    Schließlich waren sie an der Begräbnisstätte angelangt. Eine große Grube war bereits ausgehoben, daneben war der Scheiterhaufen errichtet. Elfleda durchfuhr ein Schauer, als sie ihn sah, und sie musste schlucken, als Landos Bahre auf diesen gebracht wurde. Alles in Elfleda schrie danach, zu ihrem Mann zu gehen, ihm ein letztes Mal über das Gesicht zu streicheln, ihm einen letzten Kuss zu geben und ein letztes Lächeln zu schenken. Einfach nur noch einen Moment Zeit zu stehlen, den sie mit ihm haben konnte. Nur einen kurzen Moment. Und so sehr sie sich vorgenommen hatte, hart zu bleiben und würdevoll dazustehen, sie konnte es nicht. Ihr Körper erzitterte einmal, als sie kurz schluchzend Luft holen musste und ihr Tränen übers Gesicht liefen. Sie wischte sie hinfort, wollte nicht, dass man sie heulen sah. Es war Landos Einzug nach Valhall, er sollte nicht ihr Weinen in den Ohren haben, wenn er dorthin ging.
    Sie fing sich und sah zu Leif hinüber. Den ganzen Weg hierher hatte er Hermod, Landos Rappen, am Zügel geführt. Auch er war festlich hergemacht worden, mit einem guten Sattel und feinem Zaumzeug. Gute Satteltaschen hingen ihm über die Flanken, ebenso ein Trinkhorn, das an einer Schlaufe aufgehängt war. Alles, was man für eine Reise benötigte. Elfleda ging die paar Schritte zu ihnen hinüber und streichelte noch einmal über den kräftigen Pferdehals. Er war noch nicht zu alt, ein gutes Pferd, und Lando hatte den Hengst sehr gern gehabt. Sie streichelte ihn ein wenig und klopfte ihm anschließend aufmunternd gegen die Schulterpartie. “Du hast ihn so weit getragen. Du trägst ihn noch ein wenig weiter, nicht wahr, Hermod?“ Fast tat es ihr leid um das Tier, aber andererseits war es eine mehr als würdige Grabbeigabe. Elfleda sah noch einmal stumm zu Leif und ging dann wieder auf ihren Platz, während die vielen Familien Mogontiacums ihre Grabbeigaben platzierten.
    Leif führte das Tier, das von den vielen Menschen um es herum zwar verwirrt, aber dennoch beherrscht war, zu der Grube. Eine kleine Rampe war gebaut worden, die hinunter führte. Hermod bockte kurz und zog zurück, als Leif ihn hinunterführen wollte, aber schließlich kam er mit. Ein Lebendes Tier dort hinunter zu bekommen war immernoch einfacher, als das Gewicht runterzuhieven. Ein kurzer Pferdeschrei ertönte, übertönt vom Klagen der Weiber, als Leif dem Tier von vorne in das weiche Fleisch am Halsansatz stieß, am Schlüsselbein vorbei und weiter direkt bis zum Herz. Es war sehr schnell vorbei, und der Hengst lag in der Grube, wartend auf seinen Herrn.


    Elfleda sah kurz, wie Leif wieder hervorkam. Kurz blickte sie ihn dankbar an, dann wandte sie sich wieder dem Scheiterhaufen zu. Schließlich war die Klage fertig, und ihr wurde eine brennende Fackel gereicht, ebenso wie Witjon auch eine erhielt. Das Holz in ihrer Hand fühlte sich so schwer und falsch an. Sie wollte das nicht tun. Kurz blickte sie zu Witjon hinüber, gestattete sich einen Moment des Zögerns und der Schwäche. Er braucht auch deine Hilfe. Du musst stark sein, für deine Kinder. Sie musste nur noch einmal stark sein. Nur einen Moment länger noch warten, bis sie an der Reihe wären, es zu vollenden und Lando auf seine Reise zu schicken.

    Ruhig nahm Elfleda die Kondolenzbeteuerungen an und neigte nur kurz einmal dankbar den Kopf. Sie wollte gerade ansetzen, eine passende Antwort darauf zu geben, als sich der Legat zu ihr herüberbeugte. Unbeweglich blieb sie stehen und lauschte. Von ihren Gedankengängen ließ sie sich nichts anmerken, auch wenn selbige geradezu rasten. Die Verbundenheit zwischen ihren Familien... Elfleda wusste, dass sich Alrik und Witjon den Viniciern verpflichtet und ihnen in gewisser Weise Gefolgschaft und Unterstützung geschworen hatten. Auch wenn dieses römische System etwas anders war als alles, was sie aus ihrer Heimat kannte, so erkannte sie doch den Grundlegenden Gedanken dabei. Er war ein Fürst, der sich die Treue anderer dadurch sicherte, dass er ihnen hier und da ebenfalls einen kleinen Gefallen tat. Der einzige wirkliche Unterschied war, dass Römer das ganze perfektioniert, auf die Spitze getrieben und mit einem Namen versehen hatten, anstatt sich auf die Ehrbarkeit der Begünstigten einfach zu verlassen.
    “Ich danke dir für dein Mitgefühl und dein Angebot...“ fing sie also an und blickte zu ihrem toten Mann hinüber. Ihm würde es sicher gar nicht gefallen, wenn seine Frau sich in so ein Schuldverhältnis begeben würde. Er, der Zeitlebens niemandes Klient wurde und auch keine angenommen hatte, sondern es auf die alte Weise gehalten hatte und auf die Ehrbarkeit der Männer in seiner Umgebung vertraut hatte. Aber dennoch gab es ein paar Dinge, die Elfleda geklärt wissen musste, und wo der Legat schon einmal hier war, konnte er ihr sicher auch weiterhelfen. Ohne, dass sie ihm einen Gefallen schuldig blieb. “Es gäbe da tatsächlich etwas, was mich beschäftigt. Und ich weiß nicht, ob es ein Problem ist oder nicht.“
    Jetzt blickte sie zu ihm auf. Er hatte eben ja noch angeboten, ihr zu helfen. Auch wenn Elfleda nicht wusste, ob sie hierbei wirklich Hilfe benötigen würde, aber wenn es so wäre, war der Zeitpunkt jetzt zu günstig, als dass sie ihn verstreichen lassen dürfte. Auch wenn ihr Blick stolz und klar war, ihre Hand legte sich beinahe schützend auf ihren Bauch. “Ich weiß, dass es für das römische Recht wichtig ist, dass ein Vater sein Kind öffentlich herumzeigt und auf den Armen dabei trägt. In mir wächst noch ein Leben, das seinen Vater nie kennenlernen wird. Sag mir, Legat, kann ich sicher sein, dass mein Kind, wenn es gesund und lebend zur Welt kommt, dennoch alle die ihm zustehenden Rechte als Kind eines Ritters des römischen Reiches haben wird?“ Elfleda hatte für mehr Sorge zu tragen als nur für sich. Sie würde alles daran setzen, dass ihre Kinder den ihnen zustehenden Platz auch erhalten würden. Und sie betete zu allen Göttern, ihren wie den römischen, dass das Kind in ihrem Leib ein gesunder Sohn werden würde.