Noch eben rechtzeitig hatte sich Alsuna daran erinnern können, dass das Kerngehäuse eines Apfels für gewöhnlich nicht feineren Speisen zugeführt wurde. Und so hatte sie jene mit raschen, bogenförmigen Schnitten entfernt und auf den kleinen Berg aus Schalen fallen lassen, der sich im Tuch auf ihren Oberschenkeln wand gleich einem filigranen Schlangennest. Das Zerstückeln des Fruchtkörpers ging ähnlich zielstrebig und präzise vonstatten wie der Prozess des Schälens, wenngleich die Sklavin auch bei dieser Tätigkeit mit ihren Gedanken gleichzeitig bei Achilleos' Ausführungen weilen musste.
Zuvor war ihr die Überlegung durch den Kopf gegangen, wie ihre Reaktion wohl ausfiele, wenn er sie für ihre teilweise doch unverschämten Worte körperlich zu strafen versuchte. Würde sie sich der beschränkten, aber im Überraschungsmoment sicherlich effektiven Hilfe des Messers bedienen, welches in seiner augenblicklichen Tätigkeit so furchtbar harmlos und unschuldig wirkte? Es war kein weiter Weg bis zum Tor und in Rhakotis unterzutauchen musste selbst für jemanden wie sie einfach sein. Vermutlich lag im Auftauchen aus diesem Dreck und Schlamm die eigentliche Herausforderung.
Der Winkel war nicht ganz einfach, sie würde sich drehen und das Gleichgewicht verlagern müssen. Und sollte sich ihr Gewissen wider Erwarten doch eines Tages zu Wort melden, könnte sie es mit dem Vorwand der Notwehr ganz und gar entkräften. Wahrscheinlich wäre die Stelle der Verletzung das einzig Schwierige. Hals? Seite? Wenn sie nicht acht gäbe, wäre sie im Nu über und über mit Blut bedeckt und dieser Anblick würde vielleicht selbst in Rhakotis Aufmerksamkeit anziehen.
Ja, wie sie darüber nachsann wurde ihr bewusst, dass sie es mit großer Sicherheit täte. Und irgendwie beruhigte sie dieser Gedanke nicht unwesentlich, hätte beinahe sogar ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen gezaubert. Alles, was sie benötigte, wäre ein Anlass, ein guter, starker Grund. Es wäre einem wahren Befreiungsschlag gleich. Im Grunde sollte sie gar nicht mehr an einem solchen Ort weilen, sie sollte frei sein und nicht im größten Dreckloch der Stadt sitzen. Zudem war ihr schon zuvor ab und an der Gedanke gekommen, wie sie auf eine einfache förmliche Freilassung reagieren sollte. Freude? Glück? Dankbarkeit? Nein, dafür war zu viel geschehen, hatte sich eine zu große Macht in ihr angesammelt. Das würde ihr nicht ausreichen. Und wenn sie schon nicht mehr Hermione die milchweiße Kehle aufschneiden konnte, dann würde eben Achilleos herhalten müssen. Selbstredend traf ihn die wenigste Schuld an diesem schwarzen Fels in ihrem Inneren, aber dies nannte man dann wohl schlichtes Pech. Zur falschen Zeit die falsche Sklavin erhalten. Ein Idealist wie er würde an einem solchen Ort ohnehin nicht lange überleben. Wenn sie es nicht täte, würde es durch die Hand eines gekauften Meuchelmörders, eines Diebs oder eines besoffenen Verrückten getan. Wenn sie ihn tötete, geschähe es zumindest noch aus einem halbwegs respektablen und verständlichen Zweck heraus. Sein Körper läge in seinem selbsterschaffenen Sanktuarium und nicht im stinkenden Unrat in irgendeiner Seitengasse, wo derartige 'Legenden' für gewöhnlich ihr beschämendes, unrühmliches Ende fanden.
Alsuna sog die leicht rauchige Luft etwas tiefer in ihre Lungen und schob sich das letzte Stückchen Apfel in den Mund um zu prüfen, wie viel Zimt sie ungefähr brauchen würde, wenngleich sie nicht genau zu sagen wusste, wie stark im Geschmack sich dieses Gewürz äußern würde. Allzu sauer war das Fruchtfleisch wenigstens nicht, eher ein wenig mehlig. Allerdings war dieser Apfel nicht das einzige, was einen seltsamen Geschmack auf Alsunas Zunge hinterließ.
Anscheinend hatte er ihre Aussage, ihn nicht zu kennen, dorthingehend gedeutet, dass sie mehr von ihm erfahren wollte. Oder sollte. Was Achilleos nun genau damit erreichen wollte, erschloss sich der Germanin nicht genau, sie hoffte nur, dass es nicht etwas wie Verständnis oder Mitgefühl für seine Situation wäre. Bereits nach den ersten Sätzen hätte sie ihn am Liebsten mit einer spitzen Bemerkung unterbrochen und am Besten gleich völlig zum Schweigen gebracht. Er erzählte ihr, einer Sklavin, etwas von Demütigungen? Oh, dazu vermochte sie ihm auch einiges zu erzählen, allerdings verspürte sie im Gegensatz zu ihm nicht die geringste Lust, sich zu öffnen und von der Vergangenheit zu plaudern. Sie wollte ihn auch nicht besser kennenlernen, sich in seine Denkweise hineinarbeiten oder Lebensgeschichten von fremden Ländern und deren Rangfolgen hören. Momentan wollte sie einfach nur diesen verdammten Brei kochen und nicht die unerwartete wie unwillkommene Entdeckung machen, dass sich die zerkochenden Äpfel irgendwie nicht mit der Hirse über die Vorherrschaft im Kochtopf einig wurden. Wenigstens fand sie dadurch einen begründeten Anlass, noch ein wenig impulsiver im Topf zu rühren, was sie allerdings nicht dazu brachte, das Messer aus der rechten Hand zu legen.
Scheinbar war er also im hochheiligen Land der Perfektionisten gewesen, in welches er sicherlich hervorragend gepasst hatte. Warum bei den modernden Gebeinen des Hades war er nicht dort geblieben? Was tat er dann bitte hier, wenn er sich dort so erfolgreich und angesehen und kampfesmutig hervorgetan hatte? Nein, stattdessen versuchte er krampfhaft, dieses Chin oder Han nach Alexandria zu holen, so als presse man einen quadratischen Stein in ein rundes Loch.
Verdammt, dieser Kerl machte sie wütend mit seinem krankhaft guten Willen und den formidablen Absichten! Wenn ihm die Umstände hier so missfielen, sollte er sich doch wiederum dreizehn Karawanen anschließen und sich davonmachen, solange er noch halbwegs jung und unverletzt war! Stattdessen hockte er hier beim Kochen und gab sich mit einer dummen Sklavin ab! Und das, obwohl jemand mit seinen Ambitionen, seinem Können und seinem Wissen doch die komplette Welt zu retten vermochte. Oder zumindest zwanzig Menschen. Das war doch besser als nichts. Sie persönlich hatte noch keinen einzigen Menschen gerettet und dreisterweise plante sie auch nichts in diese Richtung. Sollte sie allerdings bei sich selbst damit anfangen, so würde gleich ein nachzitternder Messergriff aus jemandes Kehle herausragen.
Welche Reaktion sollte sie ihm nun anbieten? Die Offenbarung ihrer Mordabsichten fiel sehr wahrscheinlich aus.
"Warum bist du eigentlich hier? Gab es in... Han keine armen Menschen, die du retten konntest? Oder sind dort schon alle derart gebildet, dass sie deiner Lehren nicht mehr bedürfen?"
Ohja, sie vergriff sich augenblicklich ganz massiv im Ton, denn trotz aller leisen Unterwürfigkeit räkelte sich der Zynismus überdeutlich in der Sonne und nahm verdächtig provokative Züge dabei an. Nicht unbeabsichtigt und erst recht nicht ohne Hintergedanken. Man lernte einen Menschen erst richtig kennen, wenn man ihn in einem Zustand ohnmächtigen Zorns erlebt hatte, so fest die freundliche, gütige Maske ansonsten auch auf seinem Gesicht klebte. Als Sklavin besaß Alsuna das zweifelhafte Privileg, sehr viel früher als manch anderer hinter diese Maske blicken zu können, doch wenigstens wusste sie dann ganz genau, mit wem sie es hier tatsächlich zu tun hatte.
"Stattdessen kommst du hierher und versuchst die Prinzipien und Ansichten eines Landes am Ende der Welt zu vermitteln, um dich dann zu wundern, wenn es nicht funktioniert. Du predigst als einziger, dass der Himmel grün ist, und selbst wenn ab und an einer kommt und findet, dass ein grüner Himmel viel schöner ist als ein blauer, bist du doch am Ende der einzige mit dieser Anschauung. Du provozierst dieses ohnehin schon von Unruhe durchsetzte Viertel zu noch mehr Gewalt und Tod, indem du dich so groß und unübersehbar hier niederlässt, dass sie dich gar nicht ignorieren können. Und als Krönung behauptest du auch noch, dass dir in all diesen aufgewirbelten Kontroversen, den Problemen, dem Ärger und dem philosophischen Hufscharren dein eigenes Wohl mal kräftig am Arsch vorbeigeht. Memnos ist der Sohn einer schwanzlutschenden Hündin und seine Missgeburt von Tochter ein Stück stinkendes, madiges Rattenfleisch, aber wenigstens wusste ich bei denen, dass sie nicht willentlich ihr Leben in Gefahr bringen, weil deren Selbsterhaltungstrieb eben nicht auf einer Reise ins Niemandsland von Aasfressern abgenagt wurde! Doch ehrlich gesagt ist es mir ganz und gar egal, was aus dir wird oder den armen, ungebildeten Menschen von Rhakotis! Ich bin Sklavin, wenn ich hier irgendetwas tue, dann aus dem einfachen Grunde, weil ich es muss! Nicht weil ich es gut finde oder weil ich dich gut finde, sondern weil ich keine andere Wahl habe! Wenn ich dir aber einen gut gemeinten Rat geben darf, dann reise so bald wie möglich in dein geliebtes Han zurück und versuche da glücklich zu werden, dort sind die Aussichten für eine solche Zukunft nämlich wesentlich gewaltiger als an diesem von den Göttern verlassenen Ort. Was immer dich von dort vertrieben hat ist bestimmt leichter zu ertragen als dieses Leben voller höherer Bedeutsamkeiten, die aber dennoch am Ende alle ziemlich sinnlos zu sein scheinen, wenn sie deiner Existenz nicht einmal einen Wert verleihen können. Ach, und zum Thema 'Demütigungen' könnte ich auch einige hübsche Anekdoten beisteuern, ich befürchte nur, dass dabei der allgemeine Appetit auf der Strecke bleiben dürfte."
Dies war auch vorerst alles, was er umgekehrt von ihr wissen sollte. Vielleicht hatte jetzt auch endlich diese unerträglich freundliche Heuchelei ein Ende, mit welcher er sie andauernd bedachte und dessen tieferer Sinn sich Alsuna immer noch hartnäckig verschloss, einmal von einer weiteren östlichen Einrichtung abgesehen. Das konnte er sich gerne sparen. Und auch wenn sie vorhin nicht wirklich laut geworden war, so würde er ihre Worte ganz gewiss nicht ohne entsprechende Konsequenz im Raum stehen lassen. Sein Bedürfnis nach innerer Harmonie konnte auch nicht ewig halten.