Schreien war nicht gut. Schreien war im Gegenteil ganz, ganz schlecht. Dummerweise war Alsunas Wut dies momentan fürchterlich einerlei. Seit sie jene bislang gut unter Verschluss gehaltene Emotion so großzügig von der Leine gelassen hatte, schien diese ganz dicht unter der Oberfläche vor sich hin zu schwelen, um bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Nächstgreifbare darstellen zu können. Ganz gleich, wie viele Kraftreserven dies auch einforderte oder ob nach der Eruption noch ausreichend Energie für Dinge wie das Atmen vorhanden war.
Langsam aber sicher entwickelte es sich sogar so weit, dass die Germanin ihre Wut als die sicherste Option im Umgang mich Achilleos ansah, denn schließlich sollte ihr Verhältnis zueinander möglichst von Hass und Verachtung geprägt sein, und was schürte diesen Wunsch mehr als Beleidigungen und Anfeindungen? Insofern war ihre Wahl durchaus gut und richtig. Nicht gerade wohl durchdacht und in der Anwendung eher impulsiv, aber doch gewinnorientiert.
Und wie es schien hatte ihre gar nicht mehr so geheime Geheimwaffe auch diesmal wieder tadellos funktioniert. Gut, ausgezeichnet, obgleich sein Gebrüll nicht weniger qualvoll in ihrem Kopf nachhallte denn ihr eigenes vordem. Doch damit konnte sie problemlos umgehen. Zumindest um einiges besser als mit 'Soll ich dir eine Decke holen?'. Wie albern war das denn mal?
Achso, eine Dankesbezeugung! Na aber sicher. Sie benötigte auch immer mehrere Stunden, um sich zu bedanken, das war ja vollkommen normal. So normal wie alles andere an diesem Irren, der offenbar an arger Launenhaftigkeit litt. Und sie war also die hysterische Tussi? Wer zickte denn hier gerade so lautstark herum? Wäre er eine Frau, hätte sie darauf gewettet, dass ihr Gegenüber sich gerade in einer kritischen Zyklusphase befände.
Flüchtig folgte ihr eisiger Blick dem Flug des Kissens, allerdings nur soweit wie möglich, ohne dass sie zusätzlich den Kopf drehen musste, in welchem es stetig arger zu hämmern begonnen hatte. Doch davon würde sie sich nichts mehr anmerken lassen. Keine Schwächen mehr in seiner Anwesenheit. Immerhin gebrauchte er bei dieser eher sinnfreien Aktion seinen rechten Arm. Insofern verhielt sich die Heilerin in ihr noch ruhig und friedlich.
Dann sah sie die schicksalsschwere Bewegung kommen, allerdings erfolgte diese viel zu schnell, als dass Alsuna mehr hätte tun können, als Atem zu holen um eine Warnung zu rufen, welche ohnehin viel zu spät gekommen wäre. Beim Aufprall seiner Faust auf den Boden glaubte die Germanin förmlich ein Knirschen zu hören, was sie sich vermutlich nur einbildete, nichtsdestotrotz zuckte sie zusammen und schmälerte die Augen, als spürte sie jenen, nun garantiert über Achilleos hereinbrechenden Schmerz am eigenen Leib. Aber gut, ganz so uneigennützig war ihre Empfindung dann doch nicht, ein gewisser, düsterer Teil ihrer Seele erfreute sich diebisch an dieser Wende, ganz gleich, ob sie dafür letzten Endes würde büßen müssen. Immerhin hätte sie sich nach ihrer Provokation auch locker in der Rolle des Bodens wiederfinden können.
Dann wurde er richtig laut und unbeherrscht, Beweis dafür, dass die Schmerzen wirklich heftig sein mussten. Verspürte sie deswegen ein schlechtes Gewissen? Nein, sie vermochte sich nicht zu erinnern, ihn dazu gezwungen zu haben, ausgerechnet mit diesem Arm seinen Frust der Umgebung mitzuteilen. Weswegen war er denn überhaupt dermaßen aus der Haut gefahren? Sie war frech geworden, gut, aber warum ließ er das überhaupt so nahe an sich heran? Konnte ihm doch mal fröhlich gleich sein, was seine dumme kleine Sklavin da in die Gegend blökte.
Doch Alsunas ohnehin trägen Gedanken blieb nicht viel Zeit zur Entfaltung. Er schickte sie nicht einfach nur weg, nein, er schrie sie geradezu in ihre Räumlichkeit zurück. Und dann verschwand er selbst. Die Sklavin sah ihm nach, die Augenbrauen leicht in die Höhe gezogen. Wollte er nun heldenhaft seinen Schmerz verbergen? Dafür hatte er zuvor doch ein wenig zu freimütig seinen Gefühlen Ausdruck verliehen. Und allein die Haltung seines Armes sagte mehr aus, als alle Versuche, dem entgegenzuwirken.
Alsuna seufzte tief in die Nacht hinaus und schloss die Augen, während sie sich bewusst machte, was eine solche Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes nun auch für sie hieße. Ganz besonders nach diesem Aufeinanderprallen. Womöglich war sie auch nicht gaaanz frei von Schuld. Aber er sollte bloß nicht glauben, dass er ihr vorzugeben hatte, wie sie fühlte und dass sie seine Andeutungen genauso und völlig richtig interpretierte, wie er sie denn irgendwie auf verschlungenen Pfaden beabsichtigt hatte. Sie war kein verfluchtes Orakel.
Langsam und mithilfe der Wand als Stütze richtete sich Alsuna schließlich wieder auf und wagte einige vorsichtige Schritte in den Hof hinein. Immerhin, sie fiel nicht gleich um. Erst, als sie sich nach dem Kissen zu bücken versuchte, kam sie sehr rasch auf die Idee, doch besser direkt auf die Knie zu fallen, damit der unerzogen schwankende Boden auch wirklich dort bliebe, wo er hingehörte. Behutsam strichen ihre Fingerspitzen über den edlen Stoff und reinigten ihn notdürftig vom Staub des Hofes, ehe sie sich nach einem tiefen Atemzug erneut hochstemmte. Unschlüssig wanderte ihr Augenmerk erneut auf Achilleos, der sich nach wie vor an der interessanten Oberflächenstruktur seiner Mauern erfreute. Wenn sie jetzt sanft und freundlich zu ihm wäre, gestand sie damit nur indirekt ihre Schuldgefühle ein. Die ohnehin nicht vorhanden waren. Und er hatte ihr einen deutlichen Befehl erteilt. Der sichere Weg zurück in ihre Unterkunft stand weit und einladend offen. Womöglich verärgerte sie ihn nur noch mehr, wenn sie sich ihm erneut widersetzte. Andererseits, war Ärger nicht eigentlich das, was sie wollte?
"Jinshi? Du musst gleich heute früh zu einem richtigen medicus, damit er sich den Arm anschaut. Vielleicht ist es gut so, ansonsten wärest du wahrscheinlich niemals dorthin gegangen, oder?" Vordergründig hätte sie seine Schmerzen vielleicht etwas lindern können, doch die Gefahr einer ernsthaften Verletzung wäre nicht gebannt gewesen.
"Besser auf diese Art, als innerhalb eines Kampfes auf Leben und Tod, nicht wahr?" Zaghaft machte Alsuna ein, zwei Schritte in seine Richtung und auch ihre leise Stimme drückte eine gewisse Vorsicht aus. Hoffentlich hatte sie es nicht ungesund übertrieben. Sie drückte das Kissen eine Spur fester an ihren Oberkörper und wagte sich noch ein wenig näher an den Verletzten heran.
"Sieh' es als eine Herausforderung. Verletzungen härten ab, glaub mir. Danach wirst du nur noch stärker sein. Ich werde dir eine provisorische Schiene für den Rest der Nacht anlegen, deine Umschläge erneuern und du versuchst noch ein wenig zu schlafen, ja?" Mit einem hoffnungsvollen, aber nichtsdestotrotz auch unsicheren Lächeln blieb Alsuna schließlich hinter ihm stehen und gab sich der Erwartung hin, auf wenigstens eine ihrer Nachfragen eine positive Resonanz zu erhalten.