Beiträge von Alsuna

    Natürlich war das Prinzip eines guten Kampfes dem Gegner mehr Scherereien zu bereiten, als dieser es umgekehrt fertigbrachte. Obgleich Alsuna vielleicht eine andere Ausdrucksweise als ‚neutralisieren‘ gewählt hätte, im Grunde lag die Sache wohl recht einfach. Er hatte nicht genügend aufgepasst und die Antwort darauf bekommen. Vor diesem Zwischenfall und seiner ersten schweren Verletzung schien dies anders gewesen zu sein. Also war er nachlässig geworden. Oder sein letzter, ‚ernsthafter‘ Kampf lag bereits länger zurück.
    Weitere Worte zu diesem Thema erübrigten sich wahrscheinlich, sie hatte bereits alles oder vielleicht sogar etwas mehr geäußert, als sie beabsichtigte. Die Lektion des Ganzen schien Achilleos am Wichtigsten zu sein und auch wenn sie möglicherweise nach dem Grund des Kampfes fragen sollte, so beließ die Germanin es doch dabei. Sonst glaubte er noch, sie würde sich für das Kämpfen an sich interessieren.


    “Ästhetisch“, wiederholte sie stattdessen seine Umschreibung des gewünschten Gartens, während ihre Augen weiterhin über das diesen Titel nicht wirklich verdienende Ambiente des Hofes schweiften.
    “Dafür werden wir andere Erde herbeischaffen müssen, befürchte ich. Aus dieser hier wird sich nichts von dem entwickeln, was dir vorschwebt. Und für Heilkräuter kann man nicht einfach irgendeine Ecke erübrigen, man muss sich ihren Bedürfnissen anpassen. Ein Garten benötigt sehr viel Pflege und Zeit. Je schöner er werden soll, umso mehr muss man sich um ihn kümmern.“

    Abgesehen von der instinktiven Eingebung einiges an Abstand zwischen sich selbst und dem ächzenden Tor zu halten bemerkte Alsuna ziemlich rasch, dass sie nicht die leiseste Ahnung besaß, was dort eigentlich vor sich ging. Auf der Suche nach Erklärungen streifte sie zudem recht bald einen Bereich, den sie lieber ganz schnell wieder verdrängen wollte. Nein, diese Auseinandersetzung musste einen anderen Hintergrund haben. Und irgendwie schien das alles sehr... irreal. Am helllichten Tag und mitten in der Stadt eine Art Kleinkrieg auszutragen... nun, in Rhakotis lagen die Dinge doch ein wenig anders.
    Aber noch waren die Angreifer, wer und wie viele sie auch immer waren, hinter eine dicken Schicht Holz verborgen und die Germanin hoffte von Herzen, dass es zunächst einmal auch bei diesem Zustand bleiben würde. Womöglich ging es in Wahrheit auch um diesen Fremden, der sich bei ihrem Herrn aufhielt, und gar nicht um Achilleos selbst. Doch andererseits bot Achilleos verdammt viel Anlass für etwas kompromissloser gebaute Herren, sich seiner anzunehmen. Vielleicht sollte man das Tor doch nicht den ganzen Tag über weit und einladend geöffnet lassen.


    Augenblicke später hegte Alsuna einige Zweifel daran, dass dieser Eingang so bald wieder verschlossen sein würde. Erschrocken wich sie noch einige Schritte zurück, als das doch eigentlich stabile Holz den Anstrengungen der Männer dort draußen unter erneutem, diesmal deutlich lauterem Krachen nachgab. Diese Kerle mussten schon sehr fanatisch in ihren Bemühungen sein. Vermutlich hatten sie sich zuvor noch tüchtig Mut angesoffen.
    Würden der Fremde und ihr bislang als unbesiegbar geltender Herr die Gefahr abwenden können, bevor sie ihr bedrohlich näher rückte? Nunja, das ‚unbesiegbar‘ sprach eine deutliche Sprache. Hoffentlich war denen dort draußen dieser Umstand ebenso bewusst. Zumindest jenem Lanzenträger, welcher nach einem erstaunlich missglückten Angriff gerade sein Blut über den trockenen Boden verspritzte. Das sah doch schon recht gut aus. Wenn ihr Herr jetzt noch aufhörte, die Taktik des Zurückweichens auszuprobieren, befände sie sich nicht in Gefahr. Dennoch löste sie sicherheitshalber eine ihrer längeren Haarnadeln aus der bislang teilweise hochgesteckten Frisur, um zumindest irgendetwas Waffenartiges in Händen zu tragen. Nur sicherheitshalber.

    Es war erfreulich, dass Achilleos die Angelegenheit mit dem Museion als derart nebensächlich abtat. Zwar war sich Alsuna nicht ganz sicher ob er das ganze Ausmaß der Konsequenzen ermessen konnte, wenn er einer Sklavin die Möglichkeit des Studiums eröffnete, doch sie würde sich hüten, ihn darauf aufmerksam zu machen. Vielleicht war es auch genau das, was er wollte. Das Anderssein bedeutete ihm sichtlich viel, womöglich benutzte er sie nur, um seine eigene Individualität noch weiter voranzutreiben. Ihr waren seine Gründe gleich, solange sie ebenfalls einen Vorteil daraus zog. Er trug die volle Verantwortung für sie und er musste wissen, wie weit er jemandem vertraute, den er gerade erst kennengelernt hatte.


    Dass tote Schweine sie vermutlich nicht ausreichend auf das harte Leben dort draußen vorbereiteten, war Alsuna bereits klar gewesen, als man diese Schlachtplatte vor ihr aufgebaut hatte. Allerdings hätte man sie niemals mit echten kranken oder verletzten Menschen in Kontakt gebracht, dafür lebte sie einfach zu eng mit Memnos' Schmuckstück zusammen. Nicht auszudenken, was da alles hätte passieren können, welche bösartigen Infektionen und Krankheiten sie hätte anschleppen können. Schon die Übung mit den Schweinekadavern hatte sie nicht wirklich offiziell durchgeführt. Was ihre Herrschaften nicht wussten, konnten sie ihr schwerlich verbieten.


    Dieses Mädchen vorhin schien nicht ganz richtig gelegen zu haben mit der Behauptung, dass der Herr des Hauses kaum lächeln würde. Nun lachte er sogar. Und dies zu einem Anlass, den beileibe nicht jeder Mann in seiner Position amüsant gefunden hätte. Nach den Worten der Kleinen zu urteilen hätte man hier einen alten Griesgram erwarten können, allerdings hätte sich der wohl kaum eine riesige Schar Kinder ins Haus geholt. Eine solche Tat setzte schon irgendwie voraus, dass er einen gewissen Sinn für Humor besaß. Oder es mit Freuden in Kauf nahm, sich ein ordentliches Magengeschwür anzueignen.
    Nun, als ein Mann der Wissenschaft dürfte es ihn doch sicherlich freuen, auch nach seinem Tod noch als Studienobjekt für kommende Generationen herhalten zu können. Alsuna beschloss, diesen Gedanken lieber nicht laut auszusprechen. Man musste den Sinn für Humor seines Gegenübers schließlich auch nicht gar zu sehr herausfordern.


    "Das ist deine erste schwere Kampfverletzung, Herr?" Die Germanin musste zugeben, dass sie nicht bloß überrascht, sondern geradezu beeindruckt war, sogar ein wenig gegen ihren Willen. Diese Narbe wirkte nicht sehr alt, ein paar Monate vielleicht. Und die hatte er auch noch eigenhändig genäht? Alsuna spürte eine prickelnde Gänsehaut auf ihren Armen bei der bloßen Vorstellung, sich selbst eben mal das Fleisch zusammenzuflicken.
    "Du hattest großes Glück mit der Stelle der Verwundung und dass sie so gut verheilt ist. Im Zweifelsfall ist es vielleicht besser, einen richtigen Heiler aufzusuchen, als die körperliche Gesundheit und die Beweglichkeit des Armes zu riskieren." Natürlich befand sie sich bei Weitem nicht in der Position, ihm Vorschriften oder gar Ratschläge zu geben und womöglich hatte er auch nur ein wenig mit seinen Leistungen angeben wollen, indem er sie so darstellte, als wären sie nichts als eine kinderleichte Übung. Doch selbst Alsunas Meinung nach behandelte er einige Dinge ein wenig zu nebensächlich und oberflächlich, vorzugsweise jene, die eine solche Abwertung mitnichten verdienten. Und irgendwann spürte man als ungläubiges Gegenüber nur noch den Drang, ihm einen fast mütterlich anmutenden Klaps auf den Hinterkopf zu geben.
    Zumindest wusste sie nun, dass sein Körper keineswegs von unzähligen Narben übersät war.


    "Zum ersten Mal derart verletzt zu werden muss ein Schock für dich gewesen sein, Herr." Gut, vermutlich nicht. Vermutlich hatte er mit der gesunden Schulter gezuckt und dieses Erlebnis weggesteckt, als ob es sich niemals ereignet hätte. Was für eine Waffe mochte diese Art von Narbe verursacht haben?
    "Wäre deine Position leicht anders gewesen und die Waffe in deine Seite eingedrungen, so wärest du möglicherweise noch an Ort und Stelle verblutet." Nicht, dass sie ihm bewusst Angst einjagen wollte, was ihr wohl ohnehin niemals gelungen wäre. Alsuna wusste selbst nicht sicher zu sagen, was sie mit dieser Bemerkung genau erreichen wollte, vielleicht strebte sie danach, Achilleos von seinem perfektionistischen Ross herunterzuholen oder eine Lücke in seiner so makellosen Fassade zu finden. Kindisch und unsinnig, aber irgendwie notwendig.
    Ihr Blick schweifte über die Weiten des Hofes.
    "Wenn du einen Garten anlegen möchtest, so wäre es zu überlegen, gleich einen Bereich für Heilkräuter einzuplanen. Oder an welche Art von Pflanzen hast du dabei gedacht, Herr?"

    Alsuna fuhr hoch und hielt sich dabei gar nicht erst mit aufrechtem Knien auf, sondern sprang sofort auf die Füße. Hastig zuckte ihr Blick zu ihrer Tür, die das einzige Fenster des Raumes enthielt. Für einen schrecklichen Augenblick hatte sie befürchtet, ihr Herr wäre bereits zurückgekehrt und würde ihr gleich die durchaus vernünftige Frage stellen, weswegen beim Hades sie da auf dem Boden herumkroch. Zwar hatte sie sich bereits im Vorfeld einiges an Ausreden zurecht gelegt, doch sie hatte gehofft, nicht gar so plötzlich überrascht zu werden. Erleichtert atmete sie durch, als sie bemerkte, dass sie nach wie vor die einzige Person in diesem kleinen Raum war. Anscheinend war das laute Geräusch nicht von ihrer Tür gekommen.


    Erst einmal jede weitere Überlegung ignorierend stemmte sich Alsuna gegen ihr Bett, um es neuerlich und mit einiger Anstrengung wieder an seinen ursprünglichen Platz direkt neben der Wand zu verschieben. Immer noch unter wildem Herzschlag begutachtete sie ihre restliche Einrichtung abschließend um sich zu vergewissern, dass nirgendwo verräterische Spuren übrig geblieben wären, ehe sie nach draußen eilte um zu sehen, ob das Krachen innerhalb oder außerhalb der schützenden Gebäudemauern geschehen war. In Abwesenheit ihres Herrn gestaltete sich der Aufenthalt in diesem seltsamen Bau doch als ein wenig... unübersichtlich. Harmlos ausgedrückt. Natürlich gab es ausreichend Arbeiten zu erledigen, und eigentlich sollte sie wohl froh und dankbar für jeden unbeobachteten Augenblick sein, doch wahrscheinlich war sie diesen Zustand schlicht noch nicht ausreichend gewohnt, um ihn bereits zu genießen. Ein ungutes Gefühl verfolgte sie beinahe permanent wenn sie hier herumlief und schon manchmal dankbar war für jedwede Ablenkung.


    Oder für fast jede Ablenkung. Zwar wusste sie die Situation, die sich ihr dort am Tor bot, nicht vollkommen zu erfassen. Allerdings sollte sie sich wohl vorsichtshalber erst einmal im Hintergrund halten. Und sich dumme Fragen verkneifen.

    Allzu viel hätte es Alsuna tatsächlich nicht ausgemacht, ihrem neuen Herrn die unter Hermione erworbenen Besitztümer zu überlassen. Nichts davon hatte sie sich selbst ausgesucht oder zurecht gestellt; als eine Art größere Puppe war dies allein Aufgabe ihrer Herrin gewesen, welcher diese auch mit Feuereifer nachgekommen war. Wenigstens hatte Hermione einen guten Geschmack in Modefragen besessen, so dass man sich in der Regel ganz und gar nicht für sein Äußeres zu schämen brauchte.
    Da die Sklavin noch nicht wusste, ob Achilleos sie nicht aus welchen Gründen auch immer einmal in dieser teureren Gewandung benötigte, würde sie nach wie vor davon absehen, zum Beispiel den Schmuck zu verkaufen und sich von dem Geld etwas zu besorgen, das sie weitaus mehr brauchte.
    Anscheinend war ihre Ausdrucksweise in der Beschreibung ihrer Interessen harmlos genug gewesen. Und eine Fortbildung über das Museion klang zwar befremdlich in ihrer Position, dennoch würde sie sich eher die Zunge abbeißen, als dagegen zu protestieren. Natürlich gebot ihr die unterwürfige Höflichkeit einen minimalen Einwand.
    “Ich möchte aber nicht, dass du wegen mir in Schwierigkeiten kommst, Herr.“ Ja, dies sollte wohl erst einmal genügen.


    Auf seine Frage bezüglich des Vernähens von Wunden hätte Alsuna am Liebsten wiederum mit einer Gegenfrage reagiert, nämlich ob er sich denn schon jemals eine Wunde zugezogen hätte, die des Vernähens würdig gewesen wäre. Andererseits umgab ihn trotz der freundlichen Worte durchaus auch die Aura eines Kriegers, woran das auffällige Schwert an seiner Hüfte wohl nicht ganz unschuldig war. Mit Sicherheit war sein Körper über und über mit Narben verschiedenen Alters bedeckt. Womöglich verzichtete er aus diesem Grunde auf eine Massage. Es schmerzte ihn schlicht zu sehr.
    Natürlich (und zu Alsunas leisem Bedauern) hatte noch niemand Hermione den Bauch aufgeschlitzt oder der Kleinen auch nur annähernd etwas angetan, das den Griff zu Nadel und Faden rechtfertigt hätte. Und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, so hätte Memnos garantiert einen vorzüglich ausgebildeten Heiler mit der Versorgung beauftragt und nicht sie.
    “Die meiste Praxiserfahrung bezüglich der Wundbehandlung habe ich bislang an Schweinen geübt. An.. toten... Schweinen.“ Ohne Zucken und Jammern war die Arbeit auch recht gut verlaufen. Wahrscheinlich kein Vergleich mit einem echten Schlachtfeld. Doch wenn sich ihr verletzter Herr möglichst wie ein totes Schwein verhielte, dann würde sie ihm durchaus gut helfen können.
    “Wird es denn... oft nötig sein, dich ‚zusammenzuflicken‘, Herr?“ Es schadete sicherlich nicht, diese Information einmal vorsichtig zu erfragen.

    Eigentlich barg es eine Überraschung, dass Achilleos überhaupt solange damit gewartet hatte, sie auf ihre Gewandung anzusprechen, bei der es sich um eines der edelsten Stücke ihres kompletten Bestandes handelte. Schließlich hatte Memnos den berühmten ersten Eindruck so strategisch geplant wie einen Feldzug. Alsuna war sich recht sicher, dass ihr Auftreten etwas anders ausgesehen hätte, würde ihr zukünftiger Herr bereits über mindestens eine Frau und einen Stall Kinder verfügen. Doch wahrscheinlich war der griechische Händler doch ein wenig zu oberflächlich an diese Sache herangetreten. Jemand wie Achilleos sah in derartiger Kleidung mit Sicherheit nur eine nutzlose Geldverschwendung sondergleichen. Gerade auch vor der Kulisse dieses heruntergekommenen Viertels. Oder Memnos hatte mit seinem Auftritt direkt dafür sorgen wollen, dass sie sich in Rhakotis von Anfang an furchtbar unbeliebt machte.
    "Ja Herr, mir wurde auch einfachere Kleidung mitgegeben. Natürlich ist nun alles an Kleidung und Schmuck ebenfalls dein Besitz, so du es wünschst, werde ich dir alles zeigen." Oder beinahe alles.


    Ihre Interessen? Warum ging er nicht wie andere Leute davon aus, das Sklaven so etwas schlicht nicht kannten? Sicher besaß sie diese, wie hätte sie ansonsten überleben können? Sorgfältig abgegrenzt von ihrem restlichen Leben und ebenso vorsichtig verborgen vor den Blicken der Leute, die in jenem restlichen Leben die Fäden zogen. Und selbst über einen Wechsel ihres Besitzers hinaus hatte dies eigentlich so bleiben sollen. Man konnte unmöglich voraussehen, welche Auswirkungen es besäße, wenn sie plötzlich offen darüber sprach. Wie sie Achilleos bisher kennengelernt hatte, wäre er wahrscheinlich alles andere als begeistert. Dann würde er es ihr verbieten und sie würde noch viel verdeckter wie sonst schon arbeiten müssen.
    Andererseits eröffneten sich hier auch nie dagewesene Möglichkeiten. Sie musste ja nicht gleich mit der vollen Wahrheit durch die Tür stürmen. Und so merkte man ihrer Antwort das Zögern durchaus an.
    "Nun... ich würde meine Kenntnisse in der Heilkunde noch vertiefen. Und vielleicht... mich mit dem Totenkult verschiedener Länder beschäftigen. Mit dem Zusammenspiel von Seele und Körper vor und während des Lebens und nach dem Tod. Ohne die Verzerrung durch den religiösen Glauben." Ja, das klang doch eigentlich noch ganz brav. Zumindest hoffentlich in den Ohren von Achilleos, den man nicht als normalen Bewohner Alexandrias bezeichnen konnte.

    Wenigstens dachte er darüber nach. Oder gab er das nur vor? Fiese Herrschaften vermochte man zumindest auf den beinahe ersten Blick zu erkennen, da war es in der Regel eindeutig, was man von ihnen erwarten konnte. Hier lag dies alles deutlich komplizierter. Doch es würde sicherlich nicht schaden, weiterhin eher misstrauisch zu bleiben und sich nach dem zu richten, was sie bereits hinreichend kennengelernt hatte.
    Dass Achilleos ihr nicht antwortete sah Alsuna als ein deutliches Zeichen für ein Umschiffen dieses Themas an. Oder aber er war noch nicht zu einem endgültigen Urteil gekommen, woran die Sklavin jedoch nicht recht glauben wollte. Viel eher würde er sich weiterhin nach seinen offenbar vollkommen verinnerlichten Werten und Traditionen richten und sie weiterhin so behandelt, wie es ihm sein Kodex aus der Ferne vorschrieb. Vermutlich sah er sie immer noch als ‚eine andere Art Sklavin‘.


    “Nein, ich bin nicht als Sklavin geboren, allerdings bin ich es, solange ich mich erinnern kann, insofern läuft es auf dasselbe hinaus. Seit meinem fünften oder sechsten Lebensjahr.“

    Zwar hatte Alsuna es irgendwie geahnt, allerdings war sie dennoch letzten Endes nicht davon ausgegangen, dass sich hinter dem Begriff ‚Jinshi‘ eine solche Menge an Hintergrund verbarg. Niemals würde sie behaupten, alles nachvollziehen zu können, besonders da er zwar von fremden Gegenden und seltsam klingenden Orten sprach, jedoch nicht recht offenbarte, was dies nun letztendlich für sie persönlich bedeutete. Es klang alles hübsch – unrealistisch, aber hübsch – ,doch sie war hier nun einmal kein Mensch. Sie galt in dieser Stadt als Sklave und daran änderte auch Achilleos‘ Sichtweise nichts. Was er beschrieb war ein Verhältnis zwischen zwei freien Menschen, einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer. Natürlich lag den beiden das gegenseitige Wohlergehen am Herzen, schließlich waren sie aufeinander angewiesen. Sie respektierten sich... wahrscheinlich. Im Stand einer Sklavin besaß sie keine Sicherheit, sie konnte jederzeit verkauft werden und alles, was sie gegebenenfalls vor der Außenwelt [welche gerade in dieser Gegend sehr übel werden konnte] schützte, war die Tatsache, dass sie das Eigentum ihres Herrn war. Genauso konnte sich der Wind drehen und sie würde zur Zielscheibe seiner Feinde, weil man ihm schaden wollte.


    Irgendjemand von ihnen sah nicht die ganze Wahrheit. Entweder sie verstand seine Einstellung nicht, oder er begriff nicht, wie ein Sklavendasein eigentlich aussah. Natürlich musste sie es ihm angemessen anrechnen, dass er es versuchte, doch tat er es letztendlich nicht nur für sich selbst, um seine Einstellung, seine Sicht der Dinge hervorzuheben und zu sichern? Wurden Wohltätigkeiten nicht auch zu einem guten Teil aus Egoismus gemacht?
    „Natürlich möchte ich dir den gebührenden Respekt entgegenbringen, doch auch wenn ich in deinen Augen ein Mensch bin, in dieser Stadt bin ich eine Sklavin. Wenn du mich anders behandelst, wird mir mein Stand dort draußen nur noch stärker offenbart. Als Sklavin kenne ich meinen Platz und die damit einhergehenden Regeln. Ich denke, es wäre sicherer dies beizubehalten.“ Allzu problematisch schien sich dies für ihn ohnehin nicht zu gestalten. Wenngleich sie nun eigentlich nicht genau wusste, wie die Chance, die er ihr zu geben gedachte, aussehen sollte.

    So, man hatte sich also darauf geeinigt, ihn ‚Jinshi‘ zu nennen? Seltsam, Alsuna hätte schwören können, dass ihr Herr dies ganz alleine entschieden hatte. Da sie im Grunde nach wie vor nicht wusste, was ein ‚Jinshi‘ nun eigentlich genau sein sollte, hätte sie eine solche Entscheidung kaum fällen können. Im Grunde war sie auch nicht wirklich auf ihn wütend, nur auf sich selbst. Und obgleich sie nicht wusste, was sich hinter dem Begriff ‚Jinshi‘ eigentlich verbarg, so hatte er doch das ‚Herr‘ ersetzt und sich irgendwie anders angefühlt. Für einen kurzen Moment. Einen äußerst sentimentalen Moment. Und dann dieses ‚Herrscher-zu-Untertan-Prinzip‘, wie er es genannt und offenbar aus einem fremden Land hierher geholt hatte. Möglicherweise passte dies gar nicht in die hiesige Kultur, schließlich konnte man nicht alle möglichen Sitten und Gebräuche importieren wie Gewürze oder edle Stoffe. Wenn ihm so viel an diesen Dingen lag, hätte er einfach im dazugehörigen Land bleiben sollen. Eine berechtigte Frage. Weswegen war er hier? Um den Kindern Alexandrias eine bessere Zukunft zu ermöglichen? Um seine Lehren an Bedürftige weiterzugeben? Dazu benötigte sie erst einmal die Information, ob er überhaupt freiwillig hier war.


    “Ich weiß, Herr“ beantwortete sie seine erste Bemerkung und konzentrierte ihren Blick derart intensiv auf Achilleos‘ Kehle, dass man ihn beinahe hätte spüren müssen, “doch mir sind die damit einhergehenden Pflichten und Regeln noch unbekannt, ebenso die daraus entstehenden Erwartungen an mich. Deswegen erscheint es mir nicht angemessen, diese Anrede zu verwenden. Ich könnte Fehler im Umgang mit dir begehen." So wie gerade eben beispielsweise.
    Alsuna hätte nicht erwartet, dass er ihre Frage tatsächlich im Nachhinein noch beantworten würde. In echter Verwunderung hoben sich ihre Augenbrauen leicht, wenngleich ihr Blick immer noch sein früheres Ziel anvisierte. Hatte sie ihm etwa irgendwie ein schlechtes Gewissen bereitet?


    Alsuna beschloss, diesen Gedankengang zunächst nicht weiter zu verfolgen. Überraschend, wie einsichtig dieser Mann plötzlich war. Nun gut, letztendlich war es seine Gesundheit und tatsächlich sollte sich niemand in diese Angelegenheit einmischen. Und er hätte ihrer Frage auch einfach elegant ausweichen können.
    "Deine Nachtruhe hat mich nicht zu interessieren, Herr“, bekräftigte sie dennoch um ihm zu verdeutlichen, dass sie die Lektion durchaus verstanden hatte.

    Nun gut, dieses ‚Nein’ hatte Alsuna wohl auch verdient gehabt, schließlich war sie seine Sklavin und seine Gesundheit hatte sie nicht im Geringsten zu interessieren. Wenn er verblutend vor ihr im Dreck läge würde er schon dankbar sein können, wenn sie ihn beim Darübersteigen nicht noch tiefer in den Sand trat. Solange er von ihr nichts außerhalb dessen erwartete, was sie ihm notgedrungen zugestehen musste, würden sie sicherlich hervorragend miteinander auskommen. Und für jemanden, der sich mit Sklavenhaltung angeblich nicht auskannte, hatte er sich wirklich schnell in seine Rolle einleben können. Womöglich war sie auch einfach zu nett gewesen, war ein bisschen zu sehr auf ihn und seine aufreibenden Bedürfnisse eingegangen. Nachher glaubte er noch, sie wäre gerne seine Sklavin. Nein, wahrscheinlich würde es ihn gar nicht interessieren. Sie waren wirklich alle gleich, weswegen man auch gegenüber allen gleich empfinden sollte.
    Sie ärgerte sich innerlich über sich selbst, wenngleich sie eigentlich zu keinem Zeitpunkt selbstlose und aufopfernde Gedanken gehegt hatte. Doch eine Winzigkeit, ein kleiner Splitter war bereits zuviel. Auch Splitter konnten bedrohlich sein, ließen erblinden und waren weitaus schwerer zu entfernen, als wirklich große Fremdkörper. Dass sie überhaupt noch einer derartigen Lehre bedurfte!


    Den Daumennagel wütend in die Kuppe des rechten Zeigefingers gebohrt folgte Alsuna Achilleos in dessen kleines Heiligtum und ließ den Blick über das dortige Angebot an Schriften wandern, wenngleich das Interesse daran momentan deutlich abgenommen hatte. Da man ihr freien Zutritt gewährt hatte, würde sie sich zu gegebener Zeit näher damit beschäftigen können. Seine Vorräte ließen durchaus noch Wünsche offen, doch es war damit zu rechnen, dass er die Zahl seiner Schriftstücke konstant anzuheben gedachte. Wahrscheinlich würde ihr diese Bibliothek nicht allzu sehr nutzen können. Vielleicht bekam sie auch die Aufgabe, Texte kopieren zu müssen. Immerhin lernte sie dann ausreichend deren Inhalt.
    “Ich verstehe, Herr“, antwortete sie auf seine Instruktionen hin und benutzte auch die ungeliebte Anrede so, als wäre sie im Grunde selbstverständlich. Was sie auch durchaus sein sollte.

    Namen waren also niemals unwichtig? Gut, dann traf diese Regelung eben nur auf ihren eigenen zu. Den erachtete nicht einmal sie selbst als wichtig und im Grunde war es ihr fürchterlich einerlei, wie man sie rief. Inzwischen hörte sie auf beinahe alles. Wahrscheinlich hatte Achilleos diese Bemerkung auch nur für sich selbst gemacht, zum ‚harmonischen Ausgleich‘ oder was auch immer. Es brachte ihm gewiss viel, wenn er seine Grundsätze immer und immer wieder laut aussprach. Dann verinnerlichte er sie besser. Dieser Mann hatte sich gewiss noch mehr Zwänge und Regeln selbst auferlegt, als sie für Alsuna in ihrem Dasein als Dienerin bestanden. Und alles freiwillig. Die Sklavin unterdrückte ein weiteres Mal den aufsteigenden Drang, den Kopf zu schütteln.
    Kurioserweise folgte kein Kommentar mehr zu seiner vordem so gewünschten Flötenrunde. Dabei hätte er sich doch zweifellos freuen müssen über diese unerwartete, aber nichtsdestotrotz glückliche Fügung ihres eigenen Instrumentes. Andererseits hatte sie von vornherein nicht ganz glauben können, dass ihrem Jinshi etwas an dieser müßigen Zeitverschwendung läge. Vermutlich würde er furchtbar nervös und unruhig werden und mit seinen Gedanken permanent bei anderen Dingen weilen. Nach ein-, allerhöchstens zweimaligem Üben wäre die Angelegenheit vom Tisch. Natürlich nur, weil er es so wollte und keinesfalls, weil er nicht anders konnte.


    Selbstredend war Alsuna ebenfalls gezwungen, in der großen Halle zu verharren, um den Ausflüchten, nein, natürlich den Erklärungen ihres Jinshi die nötige Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Kalligraphie und Kampfkünste, ja sicherlich. Die reinste Oase der Erholung. Geradezu Faulenzertum. Und Meditation? Was genau verbarg sich hinter diesem Phänomen? Da er es anwandte und es irgendwie ganz und gar nicht entspannend klang, beschloss Alsuna, es in dieselbe Ecke zu verschieben wie auch die übrigen genannten Begriffe. Anstrengung, für welchen Teil seines Daseins auch immer genau. Und dann dieses ‚mehr benötige ich nicht‘. Stimmt, um ein Haar hätte sie ja ganz vergessen, dass sie hier einem wahren Gott gegenüberstand. Dieser benötigte selbstverständlich nicht so ordinäre Dinge wie Spaziergänge, langen und ungestörten Schlaf oder gar... Spaß. Wahrscheinlich hätte er rundheraus betont, wie viel Spaß ihm Kalligraphie doch bescherte.


    Als er dann tatsächlich angab, die durch ihre Hilfe gewonnene Zeit mit der Erforschung der Zeit an sich zu nutzen, musste Alsuna wirklich an sich halten, um nicht in ein wenig höfliches Kichern auszubrechen. Es zuckte leicht und doch verräterisch um ihre Mundwinkel, doch sie hoffte, dass ihr wie stets leicht gesenkter Kopf dieses deutliche Anzeichen herzlicher Belustigung weitestgehend verborgen gehalten hatte. Dennoch biss sie sich leicht auf die Unterlippe, als er dann auch noch mit Mathematik begann.
    “Ich verstehe,“ erwiderte sie schließlich, sich diplomatisch einer näheren Meinungsäußerung enthaltend. Wenigstens noch.
    “Darf ich dich fragen, wie es um deine Nachtruhe bestellt ist? Träumst du viel, schläfst du in der Regel durch, hast du feste Zeiten dafür eingeplant?“

    Nachdem Alsuna diese breite Palette an Fertigkeiten ausgestreut hatte, erwartete sie durchaus gespannt, welche von ihnen sich ihr großer Jinshi nun aus dem Angebot herauspicken würde. Eigentlich deckte sie beinahe jedes Interessengebiet ausreichend ab und es war wohl nicht davon auszugehen, dass er sie für die Herstellung von Schminke gebrauchen könnte. Andererseits konnte man sich bei diesem Mann nie vollkommen sicher sein. Am Ende ließ er sie noch Schmuckstücke für all seine Schüler herstellen, damit sie sich untereinander erkennen konnten. Solange er nicht weiter nach den 'verschiedenen, vergessenen Kleinigkeiten' fahndete, sollte ihr beinahe alles recht sein. Es war ein glücklicher Umstand gewesen, dass Hermione sie nicht noch bis zu diesem Tor begleitet hatte. Der wären mit Sicherheit noch ein paar völlig andere Begabungen eingefallen, die den neuen Besitzer interessieren könnten. Andererseits hätte sie dafür einen Fuß nach Rhakotis setzen müssen, also hatte man es vorgezogen, sich bereits zu Hause zu verabschieden.
    Dann begann Achilleos mit seiner Auswahl, während der Alsuna nach außen hin nur leicht nickte, und in Gedanken die Augen gen Himmel verdrehte. Abgesehen von den Dekorationen, welche geradezu empörend aus dem Rahmen fielen in ihrer Nutzlosigkeit, hatte er sich all die richtig sinnvollen und langwierigen Arbeiten herausgesucht. Dinge wie Gesang und Tanz fielen dann wohl in die Sparte der Zeitverschwendung. Und eine Massage, du liebe Zeit, nachher musste er noch bewegungslos in der Gegend herumliegen und es sich gut gehen lassen! Nicht auszudenken, was dabei geschehen konnte.


    "Ich besitze meine Flöte noch, Jinshi." Flöte spielen. Erschreckend war, dass Alsuna sich diese Szene tatsächlich vorzustellen vermochte. Glücklicherweise war sie sehr davon überzeugt, dass er in diesem Leben garantiert keine Zeit mehr für etwas Derartiges besitzen würde, das doch im Grunde nur der Zerstreuung und der Freude diente. Außer man schnitt ihm die Beine ab und ließ einen stumpfen Gegenstand einige Male auf deinen Kopf treffen. Und selbst dann... ach, sie sollte aufhören, sich über so etwas überhaupt Gedanken zu machen. Er war ein Arbeitstier, aus welchen Gründen auch immer. So lange er nicht instinktiv davon ausging, ihr den selben Lebensrhythmus aufzuzwingen, durfte er ihretwegen gerne tun und lassen, was er wollte. Dann konnte sie ihn ungestört dabei beobachten und ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.


    Dem Beispiel ihres Jinshi folgend legte sie die beiden Kamelhaardecken auf ihr Bett und überlegte kurz, ob sie sie nicht besser unter freiem Himmel noch einmal ordentlich ausklopfen sollte, gemeinsam mit den Kissen. Aber womöglich gab es tatsächlich eine Gemeinsamkeit zwischen Hermione und Achilleos. Beide wussten genau, was sie wollten und wie sie andere dazu bewegen konnten, dies ebenso zu wollen. Und bei beiden durfte man sich keine unaufmerksamen Träumereien erlauben, man musste zügig reagieren und für alles gewappnet sein. Ja, das Zusammenleben mit beiden zehrte gehörig an Kräften und Nerven.
    Die Bibliothek also. Obwohl... Alsuna mochte die Überlegungen nicht unterbrechen und wartete geduldig, bis ihr Herr das Wort an sie weitergab. Bei einem eher unerwünschten Thema, doch dies ließ sich ändern.
    "Es ist nur irgendein unwichtiger Name, werter Jinshi. Er steht mit der Sonne in Verbindung, nehme ich an." Wahrscheinlich wollte er nur höfliches Interesse bezeugen.
    "Ich benötige aber nicht zwingend Tisch und Stuhl, beides wäre in der Bibliothek doch sicher besser aufgehoben. Ich setze mich einfach dort hinein, wenn ich Schreibarbeiten zu erledigen habe. Dann befinde ich mich auch gleich an der Quelle." Und er würde sie nicht Dutzende Male hin- und her wandern sehen, wenn sie sich Wissen in den Kopf prügeln musste, welches er bereits als gegeben ansah.
    "Verzeih, ich möchte mir kein Urteil anmaßen, jedoch... bei all dem, was du mir berichtet hast, scheinst du dir selbst außerordentlich viel abzuverlangen. Gibt es auch Gelegenheiten, bei denen du dich ausreichend schonst?" Es war doch irgendwie ihre Pflicht zu fragen, oder? Als braver, anteilnehmender und vor allem weiblicher Sklave.
    "Wenn ich dir Arbeiten abnehme, dann wirst du die dadurch entstehende freie Zeit doch nicht direkt wieder verplanen, oder?" Hachja, die Freuden einer Frau im Haus.

    Zugegeben, am Allerliebsten wäre Alsuna dem Treppenlauf nach oben gefolgt um zu sehen, ob sich mit dieser kaum benutzten Dachkammer nicht etwas Sinnvolleres anstellen ließe. Wenigstens etwas Besseres, als die Lagerung von Decken und Kissen. Doch anscheinend vermochte Achilleos dort oben nicht einmal aufrecht zu stehen. Natürlich überragte er sie an Körpergröße immer noch um ein gutes Stück und ihr selbst würde die Fortbewegung in dieser Enge vermutlich leichter fallen als ihm. Allerdings fiele das Gehen möglicherweise auch selbst bei ihrer Größe aus. Von hier unten ließ sich dies schwerlich genau feststellen. Die Sklavin beschloss, diesen Teil des Gebäudes bei Gelegenheit (also bei Abwesenheit ihres Jinshi) ein wenig näher zu erkunden. Schließlich musste sie sich mit ihrem Arbeitsumfeld vertraut machen und bislang hatte er ihr nicht strikt verboten, die Dachkammer zu betreten.
    Seine Antwort auf ihre Frage klang relativ dumpf zu ihr herab, weswegen Alsuna beschloss, mit der Beantwortung zu warten, bis sie sich wieder auf derselben Ebene befanden. Wer wusste schon, worin dieser Mann dort oben gerade wühlen musste? Sie versuchte, seinen Weg dort oben und damit die Ausmaße der Kammer durch den Klang seiner Bewegungen auszumachen. Ein schwacher Anhaltspunkt und nicht zu vergleichen mit einer persönlichen Auskundschaftung.


    Schließlich tauchte Achilleos wieder am oberen Ende der Leiter auf und Alsunas Blick konzentrierte sich sogleich auf die Decken, welche er in Händen hielt. Sie waren von überraschend guter Qualität; ein Eindruck, welcher sich bestätigte nachdem sie beide angenommen hatte. Im Gegenzug gestaltete sich die Kissenübernahme etwas schwieriger, doch der jungen Frau gelang es, beide einigermaßen sicher auf den gefalteten Decken zu balancieren. Ihr Sichtfeld war dadurch recht eingeschränkt. Sie bemerkte, dass ihr Jinshi seine Kleidung ordnete und ihr weiblicher Instinkt flüsterte ihr zu, dass Achilleos nicht in üblicher Weise gewandet war und sie unter Umständen verstärkt darauf achten sollte.
    Immer noch mit dem unangenehmen Gefühl ausgestattet, gerade massiv etwas Wichtiges versäumt zu haben, überließ Alsuna einen Teil ihres Gepäcks ihrem Herrn.


    „Hab Dank für deine Hilfe, Jinshi. Ich besitze Kenntnisse in der Herstellung von Schminke, Duftwasser, Gesichtsmasken und Duftölmischungen, ferner Frisurgestaltung, Stickereien, Näharbeiten, Schmuckverarbeitung mit verschiedenen Materialien, Dekorationen, Wandmalerei, Blumenarrangements, Gartengestaltung..“ Nunja, sie konnte ja nicht ausschließlich Fertigkeiten aufzählen, die ihm wahrscheinlich nichts brachten, “.. Massagen verschiedener Art, Heilkunde, Umgang mit Vögeln, Katzen und Hunden, Gesang und Tanz, Flötenspiel, Lyraspiel, griechische Poesie, griechische Mythologie, etwas Pflanzenkunde und Edelsteinkunde, sowie Pferdehaltung. Möglicherweise habe ich noch verschiedene Kleinigkeiten vergessen.“ Dies alles fast desinteressiert aufzuzählen glich einem fürchterlichen Querschnitt durch ihr bisheriges Leben und ihr gefielen all diese dabei auf sie einstürzenden Bilder aus der Vergangenheit überhaupt nicht.

    Nachdem das Bett endlich gut und sicher stand, richtete sich Alsuna wieder auf und schob in gewohnter Geste eine gewellte kupferfarbene Strähne zurück in den festen Griff einer silbernen Haarspange. Aus der Nähe betrachtet wirkte der Boden äußerst solide und präzise gearbeitet. Kein breiterer Riss, kein unsauber verarbeiteter Übergang. Verfluchte Maßarbeit. In so einer kleinen, unbedeutenden Kammer wäre ein wenig Pfusch doch eigentlich zu erwarten gewesen. Dieses Anwesen passte wahrhaftig zu seinem Besitzer; keine Lücke in der Deckung, alles ordentlich und perfekt. Hermiones charakterliche Ecken, Kanten und vor allem Macken waren ihr wunderbar bekannt gewesen, einige hatte sie sogar höchstselbst in mühevoller Kleinarbeit über Monate und Jahre hinweg herangezüchtet. Doch Achilleos würde sich weder durch eine Spinnenphobie, noch durch unregelmäßig auftretende Schmerzen an einer alten, doch nie richtig verheilenden Rückenverletzung beeindrucken lassen. Solche Kleinigkeiten perlten an ihm mit Sicherheit ab wie Wasser von eingefettetem Leder. Mit kleinen, verwöhnten Weibern hatte man es da schon wesentlich einfacher gehabt. Nun würde sie sich ungleich mehr anstrengen müssen, um auch nur entfernt ähnliche Ergebnisse erzielen zu können. Wenn sie neben dem Studium und dem Arbeitsplan überhaupt noch dazu kam, in einer ruhigen Minute darüber nachzudenken.


    Er war also der Einzige hier? Das traf sich mit Memnos' Behauptung, dass 'dieser seltsame Kauz selbst im großen Alexandria ein Einsiedlerdasein führt'. Gute Güte, Memnos würde auf seine alten Tage doch nicht noch die Züge eines Poeten an den Tag legen? Wahrscheinlich nicht, mit einfacher Poesie war nicht genug Geld zu machen. Tja, auch wenn der Händler so getan hatte, als gehöre sie eigentlich ihm, so hatte sie doch die ganzen Jahre über wesentlich mehr Kontakt mit weiblichen Wesen gepflegt, als mit männlichen. Zweifellos würde dies nun eine gehörige Umstellung werden. In jeglicher Hinsicht. Alsuna hatte noch nicht eine einzige Gemeinsamkeit zwischen Hermione und Achilleos entdecken können. Eigentlich hätte man daraus ableiten müssen, das ihr neuer Herr den Elysischen Feldern gleich wäre und sie dem Schicksal auf Knien danken würde, durch eine glückliche Fügung zu ihm gebracht worden zu sein. Doch das Gegenteil von etwas Schlechtem musste noch lange nicht etwas wirklich Gutes sein.


    Östliche Philosophie? Alsuna merkte auf und hob den Kopf leicht, behielt den Blick allerdings konsequent unter Achilleos' Augen. Er unterrichtete auch Philosophie? Anscheinend hatte man diesem Mann tatsächlich einen längeren Tag geschenkt, als 'Normalsterbliche' ihn zugeteilt bekamen. Wann tat er dies alles? Und wann schlief er? Wenn er bislang ganz alleine hier gewohnt und von niemandem Hilfe bei seinen Aufgaben erhalten hatte, wie war dies alles möglich? Wäre sie nicht Gefahr gelaufen, dabei zweifellos seinen Augen zu begegnen, so hätte Alsuna an dieser Stelle seine Gesichtszüge nach den typischen Anzeichen für Übernächtigung abgesucht. Er musste von früh bis spät beschäftigt sein. Und mit 'Beschäftigung' waren keine Einkäufe oder Schmuckentwürfe gemeint. Am Ende hatte er aus den entfernten Ländern des Ostens noch anderes mitgebracht, als nur Philosophien und Kleidung. Dies wäre beinahe schon wieder interessant.


    Auf der Suche nach weiteren Einrichtungsgegenständen für ihr neues Heim folgte die Sklavin ihrem Jinshi zum Vorratsgebäude. Er hatte sie immer noch Sklavin genannt, obgleich sie ihm einen anderen Titel geben musste. Anscheinend kannte auch der Osten trotz aller Unterschiede Sklavenhaltung. Ein kurzes, freudloses Lächeln glitt über Alsunas Lippen, während er ihr den Rücken zuwandte. Anscheinend konnte man so weit reisen, wie man wollte, diesen Begriff wurde man niemals los. Oder er hatte sich in dieser Hinsicht doch den ansässigen Gebräuchen anpassen wollen, so gern er diese ansonsten auch zu umgehen schien. Am Ende war es doch überall dasselbe.
    Ihr Lächeln verschwand vollkommen spurlos, als sie die Vorräte betrachtete und sich ein grobes Bild vom Ernährungsplan des Hausherren machen konnte. An Überfettung und übermäßigem Weinkonsum würde er ganz sicher nicht sterben. Memnos' Vorratsräume hatten vollkommen anders ausgesehen. Zur einen Hälfte Schlachterei und zur anderen Kelterei. Die unerhörte Menge von Gewürzen nicht zu vergessen. Doch vermutlich befanden sich diese in der Küche. Oder der ‚Kochecke‘.


    "Ich nehme, was du entbehren kannst, Jinshi", erwiderte Alsuna wie nahezu gewohnt untertänig und blickte empor in die dunkle Deckenöffnung. Prüfend legte sie die rechte Hand an das Holz der Leiter, während sie sich innerlich darauf vorbereitete, im nächsten Moment diverse Kissen und Decken abfangen zu müssen.
    "Möchtest du über meine übrigen Fähigkeiten informiert werden, wenngleich ich befürchte, dass sie dir bei deinen Arbeiten nicht helfen werden?" Würde sie glauben, dass er jener Fähigkeiten bedurfte, hätte sie dieses Thema vermutlich nicht begonnen. Im ganzen nächsten Jahr würde sie kaum unter Langeweile leiden. Andererseits existierten durchaus Fertigkeiten, in deren Umgang sie ausgesprochen gut war - und nicht nur zum eingeschränkten Mittelmaß gehörte, wie bei Latein oder der verwünschten Geometrie. Was für ein Jammer, dass diese ihrem werten Jinshi überhaupt nichts brachten. Wahrscheinlich hielt er derlei Kram für grobe Zeitverschwendung, Hindernisse auf dem Weg zur Harmonie, Steine im Weg zur richtigen Bildung, unnötiger Verlust von Gedanken und Energie, blablabla. Alsuna würde sie nur erwähnen, weil sie zum größten Teil wunderbar sinnfrei waren. Zumindest aus seinem Blickwinkel. Jedes weibliche Wesen würde nahezu ekstatisch darauf reagieren.

    Die hohe Kunst des Möbelverrückens schien an dieser Stelle beruhigenderweise ebenso zu funktionieren wie in Memnos‘ Haushalt. Obgleich der gute Händler selbst garantiert nicht geholfen hätte, einem Sklaven das Bett zu richten. Er besaß genug Mitglieder der dienenden Gesellschaft für diese Art Arbeit.
    Doch daheim bei Hermione waren die Türen wenigstens ein wenig breiter in der Bauweise gewesen. Und auch die Gänge hatten sich etwas ausladender gestaltet. Alsuna versuchte nach Möglichkeit, sich das langsame Nachlassen ihrer Kräfte nicht anmerken zu lassen und bemühte sich gleichzeitig, keine der heimtückisch hervorragenden Ecken mitzunehmen. Eine Pause verbat sie sich selbst und eine Beschädigung des Eigentums ihres Herrn verbot ihr die Erziehung als Sklavin.
    Innerlich war sie mehr als dankbar, als das kleine, doch beschwerliche Stückchen Weg endlich geschafft worden war und man sich wiederum in ihrem Raum befand. Der während ihrer Abwesenheit nicht heller oder größer geworden war.


    Wohin? Das war eine gute Frage. Für eine akzeptable Antwort hätte sie zuvor ein Weilchen Zeit benötigt, um die Verarbeitung der Bodendielen zu untersuchen.
    “Erst einmal an die Wand dort. Gegebenfalls werde ich es noch verrücken.“ Wenn man ihr schon soviel Entscheidungsfreiheit zugestand, würde sie diese auch weitgehend nutzen. Ihre Atmung möglichst gleichmäßig haltend fuhr sie fort:
    “Vielen Dank für deine Hilfe, Jinshi. Darf ich fragen, ob sich in deinem Haushalt noch weitere Mitglieder befinden, denen ich dienen darf?“

    Na, immerhin schlug er sie nicht gleich für die Vermessenheit ihrer Antwort. Da Alsuna nach wie vor eher seinen Körper als sein Gesicht im Auge behielt, hätte sie dem Schlag sogar unter Umständen ausweichen können. Vielleicht einmal, mit etwas Glück. Doch dieser Mann trug das große Messer garantiert nicht aus Dekorations- oder angeberischen Gründen an seiner Hüfte. Er konnte kämpfen, seinem Äußeren nach zu urteilen auch noch mit einer Technik, von der hiesige Soldaten kaum zu träumen wagten. In beinahe jeglicher Hinsicht war ihr werter Jinshi derart perfekt wie ein vom Olymp gestiegener Gott. Alsuna wusste schon, weswegen sie nie betete. Es gab Dinge, die waren einfach zu gut, um wahr sein zu können. Eine ausgezeichnete Bildung, außergewöhnliche Kampfkünste und dazu ein Charakter wie mit Seide ausgelegt und mit Goldstaub bedeckt? So etwas gab es nicht. Zumindest nicht auf lange Sicht. Und nicht, ohne dass irgendjemand all diese wunderbaren Gaben gnadenlos ausnutzte.


    So, das hätte er also von dem guten Memnos nicht gedacht. Weswegen hatte er dann gefragt? In der Erwartungen eines kläglichen, ängstlichen ‚Nein, Jinshi‘? Wohl kaum. Sklaven versuchten doch immer, ihre Herren glücklich zu machen, selbst wenn es hieß, ein wenig lügen zu müssen. Doch anscheinend besaß Achilleos im Umgang mit dieser besonderen Spezies tatsächlich nicht viel Erfahrung, sonst wüsste er, dass alle Sklaven zwangsläufig lügen mussten. Erfreulicherweise hatte man ihnen dafür in der Regel ihr Gewissen entfernt, auch damit sie jedweden Auftrag ohne störende Einwände ausführten. Wenn man jeden Tag, in so gut wie jedem Gespräch schwindelte und schmeichelte und nur das aussprach, wovon man genau wusste, dass sein Gegenüber nichts anderes hören wollte, wurde diese Vorgehensweise irgendwann nur noch zu einer weiteren Gewohnheit.


    Nachdem sie ihren Korb dorthin gestellt hatte, wo er hoffentlich niemandem im Wege war, folgte die Sklavin ihrem Herrn folgsam zu einem in der Nähe gelegenen Raum, um das Bett abzuholen. Möbel verschieben war eine gewohnte Tätigkeit, Hermione hatte es geliebt, ihr gesamtes kleines Reich des Öfteren komplett umzugestalten und gerne auch mit gerade getätigten Einkäufen auszustaffieren. Und natürlich konnte man ihr unmöglich zumuten, schwere Gegenstände durch die Gegend zu tragen oder auch nur zu schieben. ‚Mehr nach links. Das andere Links.‘ Insofern wusste Alsuna um die Notwendigkeit eines gleichzeitigen Anhebens, wenn das Vorhaben rasch von Erfolg gekrönt sein sollte.
    Das Bett sah aus, als könnte es seinen Zweck erfüllen und die neue Besitzerin bezweifelte, es aufgrund ihres Lernvolumens allzu oft benutzen zu können. Zügig begab sie sich an das gegenüberliegende Ende, suchte festen Halt am Holzrahmen, und wartete auf Achilleos‘ Anheben, um es ihm gleichzutun.

    Was sie noch bräuchte? So langsam wäre ein Stuhl ganz reizend, um sich setzen zu können. Geographie? Geometrie? Das war ja sogar noch schlimmer als Latein! Abgesehen davon schien er munter alle Lehrbereiche aufzuzählen, bis auf den, in dem sie sich tatsächlich mehr Wissen wünschte. Während sich ihr durch die Sprachen zumindest noch fremde, interessante Aspekte eröffneten, sah sie bei den beiden genannten Fachbereichen nicht den kleinsten Nutzen, so man nicht gerade Architekt oder Kartograph war oder werden oder einen solchen aus dem Rennen um irgendeinen geldschweren Auftrag schieben wollte. Sie plante nichts dergleichen, stattdessen sah sie gerade auch noch den letzten Rest Freizeit schwinden. Unmöglich würde sie gleichzeitig all das Erlernen und Auffrischen, sowie zusätzlich noch ihre normalen Sklavenarbeiten ableisten können.
    Da sie es inzwischen hinreichend gewohnt war, vor nahezu unlösbare Aufgaben gestellt zu werden, vornehmlich nur zur Erheiterung anderer, vermutete sie eine derartige Heimtücke auch an dieser Stelle, zumindest teilweise. Gerade hinter hübschen Gesichtern gähnten oft die schwärzesten und verderbtesten seelischen Abgründe. Erst tat man ganz freundlich und dann legte man jemandem mit dem zartschmelzendsten Lächeln eine Schlinge um den Hals. Man stellte mit einer unerhörten Selbstverständlichkeit Fragen bezüglich des Wissens, knüpfte dabei seelenruhig ein Netz, und wartete geduldig, bis die Beute blind hineingelaufen war und darin verzweifelt zappelte. Dann tat man ganz überrascht, weil man sich doch so ver- und die dumme Sklavin so gnadenlos überschätzt hatte. 'Wie, das tut weh? Ich hätte gedacht, jemand mit Barbarenblut lacht da nur drüber?'


    Und ganz offensichtlich war ihr werter Jinshi da nicht groß anders gesinnt. Es war eine Sache, wie man schmutzige aber freie Kinderchen, und wie man Sklaven behandelte, die effektiv bei der Erledigung von Pflichten behilflich sein sollten. Und besonders weibliche Sklaven. Was glaubte dieser Mann, wie sehr sich selbst eine Tochter aus reichem und gebildetem Hause mit Pythagoras und Thales auseinandersetzte? Natürlich, sie musste am Abend erst einmal ihr Lager unter all den Schriftrollen mit Formeln und Zeichnungen wiederfinden, weil sie den gesamten Tag an nichts anderes dachte als an Winkel und Zahlen! Wen interessierte schon der hübsche, muskulöse Nubier, wenn eine spannende Gleichung winkte? Und dieser naive... Mann beschloss einfach mal so, dass sie als die Sklavin einer solchen Tochter sicher genug von seinen Fachgebieten verstand, um ihn bei seinen Vorlesungen im Museion zu unterstützen! Das grenzte ja schon an eine richtige Unverschämtheit. Und eine solche beantwortete man am Besten mit einer anderen Unverschämtheit.


    "Die wichtigsten Grundlagen der Geometrie sind mir natürlich bekannt, Jinshi. In den von dir benötigten Stoff werde ich mich dann noch einarbeiten. Es handelt sich schließlich nicht um ein allzu anspruchsvolles Wissensgebiet."
    Zumindest nicht, wenn man von seiner selbstverständlichen Vorlage ausging. Natürlich war es nur ein kleiner Schlag und ebenso natürlich würde sie ihn am Ende Dutzende Male zurückbekommen, wenn sie nicht schnell genug mit dem Lehrmaterial voran kam und dumme Fehler beging, doch Sklaven mussten für die wenigen, glücklichen Augenblicke leben, die ihnen Tyche zuspielte.
    "So du die nötigen Möbel und Schreibgeräte entbehren könntest, würde ich sie dankbar annehmen."Ansonsten schreibe ich auch gerne mit meinem Blut an die Wände, alles kein Problem. Wie lange würde es bei dieser Pflichtenaufstellung wohl dauern, bis sie sich mit rasenden Kopfschmerzen und vollkommen übermüdet in einer stillen Ecke verstecken und mehr bewusstlos als schlafend ihre Kräfte regenerieren müsste? Eine Woche vielleicht? Womöglich hätte sie sich doch einfach vollkommen beschränkt stellen sollen, doch entweder hasste sie ihre jeweiligen Herren noch nicht genug oder schon zu viel, um auf diese leichtere Taktik umschwenken zu können.

    Stillschweigend beobachtete Alsuna ihren Jinshi, während jener ihre Truhe hochhob und diese vermutlich zu ihrem Quartier trug. Das Behältnis befand sich in einem guten Zustand, es würde nicht auseinanderfallen und damit seinen Inhalt offenbaren. Sie griff nach dem Weidenkorb, in welchem sich der Rest ihrer Habseligkeiten befand, und folgte Achilleos zu ihrem neuen Heim. Einen Nachmittag frei. Zum Lernen definitiv zu wenig. Das würde sie wahrscheinlich in die Nachtstunden verlegen müssen. Hoffentlich überließ man ihr eine Lampe.
    Verflixt, sie übernahm schon dieselben Gewohnheiten wie in ihrem früheren Haushalt! Womöglich weil alles so schnell gegangen war. Zum gestrigen Tage hatte sie noch gar nichts von dieser spontanen Idee des guten Memnos gewusst. Geahnt vielleicht, aber ebenso gut hätte es passieren können, dass sie Hermione in deren neuen Haushalt gefolgt wäre. Stattdessen war ihr heute morgen die Nachricht über eine leichte Abänderung der Pläne mitgeteilt worden. Sie konnte nur hoffen, dass sie in der Eile nichts bei Memnos vergessen hatte.


    Er sollte ihr eine Lampe geben, wenn nicht, würde sie gleich morgen mit voller Absicht seine Kochkünste boykottieren. Dieses eine kleine Fenster in der Tür ließ kaum genug Licht herein, besonders wenn man versuchte, den Gebrauch einer verhassten Sprache zu vertiefen. Hermione hätte ein solches Räumchen für... nun, wahrscheinlich hätte sie es gar nicht genutzt. Sie hätte die Wand herausbrechen lassen und etwas geschaffen, in dem man wirklich ordentlich wohnen konnte.
    Mit leicht geweiteten Augen ließ Alsuna den Blick über die Wände und den Boden schweifen. Hier etwas zu verstecken war beinahe unmöglich. Hinter dem Regal wäre viel zu offensichtlich. Ihre Aufmerksamkeit blieb an den Holzdielen hängen. Ob man da womöglich...


    Zügig senkte sie wieder den Kopf, als ihr Herr erneut das Wort ergriff. Ja, ein Bett wäre gut. Nein, den Schlüssel hatte sie nicht vor zu verlieren. Es war bereits wundervoll, dass sie überhaupt über den einzigen Schlüssel verfügte. Sie würde abschließen können und niemand käme hier herein. Theoretisch. Die Realität sah wahrscheinlich wieder anders aus.
    Alsuna nickte brav und nahm den Schlüssel an sich.
    „Sei bedankt, Jinshi. Darf ich fragen, ob außer Unterricht und Kochen weitere Aufgaben auf mich zukommen?“

    Oha. Für eine so kleine Schule, in die sich ab und an ein paar Bettlerkinder verirrten, stellte der Herr Lehrer aber beachtliche Ansprüche. Dass er tatsächlich noch Kenntnisse in Latein und Attisch verlangte, hätte Alsuna niemals gedacht. Koiné sicher, das hatte sie ja gerade erst in der vorangegangenen Unterrichtseinheit festgestellt. Und Ägyptisch war ebenso verständlich. Aber der Rest.. weswegen sollten die Kinder so etwas Lernen? Latein war eine störrische Sprache, für die man fürchterlich präzise arbeiten und mit der man sich mindestens zwei Stunden am Tag beschäftigen musste. Wenigstens traf das auf sie selbst zu. Hin und wieder, bei einigen Begrifflichkeiten, kam ihr Latein zugute. Aber diese Momente waren selten und sie besaß zu wenig Zeit, die man ihr selbst überließ. Das Angebot zur Benutzung der Bibliotheken ehrte Achilleos, doch wahrscheinlich würden ihr auch hierzu einfach die Gelegenheiten fehlen. Ganz abgesehen davon, dass ihr der Inhalt seiner wie auch der großen Bibliothek bislang vollkommen unbekannt war.


    „Für Latein benötige ich etwas mehr Zeit und regelmäßige Übung, doch es ist möglich“, begann sie ihre Antworten, die sie bereits verabscheute, noch während ihre Stimme sie ruhig und leise vortrug. Trotzdem schien es ihr unmöglich, diesbezüglich zu lügen. Anscheinend befand sie sich einfach schon zu lange im Sklavenstatus.
    „Die übrigen Anforderungen versuche ich zu deiner Zufriedenheit zu erfüllen, Jinshi. Ich bezweifle nur leider, dass ich mich den Schätzen der Bibliotheken werde widmen können. Sei dennoch bedankt für dein überaus großzügiges Angebot.“
    Zurück auf dem äußeren Hof schien es das Schicksal indes gut mit ihr zu meinen.
    „Ich musste nie bei meinen früheren Herren kochen. Für diese Aufgaben besaßen sie andere Sklaven. Aber ich kann es lernen, wenn du es wünschst.“

    Im Eingangsbereich würde sie also nächtigen. Dass diese Unterkunft nicht mit dem zu vergleichen wäre, was sie in Hermiones Diensten gewohnt gewesen war, barg keine Überraschung. Sie hatte immer nur ein Zimmer entfernt von ihrer Herrin schlafen dürfen, und ein leichter Schlaf war erforderlich gewesen, falls das werte Händlertöchterlein mitten in der Nacht aufwachte und nach irgendetwas verlangte. Angesichts des in diesem Viertel herrschenden Lärmes würde sie wahrscheinlich durchgehend aufwachen weil sie glaubte, gerufen worden zu sein. Aber daran würde sie sich wohl einfach gewöhnen müssen. Wie an so manches andere auch. Andererseits existierten natürlich auch die ein oder anderen Vorteile in dieser Lage. Sie konnte leichter und unbeobachtet verschwinden, sollte sie dieses Bedürfnis verspüren. Der Eingangsbereich lag ein gutes Stück von Achilleos‘ persönlichen Räumen entfernt. Zwar bezweifelte sie irgendwie, dass er des Nachts gut und tief zu schlafen pflegte, dennoch würde er ihre Abwesenheit nicht bemerken, falls er sie nicht ausgerechnet dann für irgendetwas benötigte. Aber sie hielt diese Möglichkeit für mehr als unwahrscheinlich.


    Ein Bett wäre jedoch auf jeden Fall von Vorteil.
    Ihr Jinshi kehrte wiederum zur großen Halle zurück und Alsuna folgte ihm, während sie sich bemühte, unauffällig einen Blick auf ihr Gepäck zu erhaschen um sich davon überzeugen zu können, das damit nichts geschehen war. Ihre Suche endete, als er sich nach ihren Sprachkenntnisse erkundigte. Vermutlich war dies der Beginn einer schier endlosen Frageserie bezüglich Fähigkeiten und Kenntnisse. Die Sklavin bekämpfte den aufsteigenden Drang, ihm einfach als Antwort ‚Nur Ägyptisch‘ zu überlassen und alle übrigen Sprachen, die man ihr schon als Kind in den Schädel geprügelt hatte, für den Rest ihres Lebens getrost vergessen zu können. Ohne Förderung und Nutzung würden sie bestimmt absterben wie ein abgebundener Finger. Ihre eigenen Interessen lagen weit entfernt von dem, was sie bislang hatte lernen müssen. Doch um Hermiones Kenntnisse zu unterstützen und sich mit ihr unterhalten zu können, war sie nicht drumherum gekommen, sich anzustrengen und in den wenigen ungestörten Stunden unerwünschtes Wissen zu verinnerlichen.


    Dennoch konnte sie sich nicht recht überwinden, hier mit einer Aufzählung zu beginnen. Vielleicht benötigte sie gar nicht alles, was sie wusste, an diesem Ort. Gab sie aber an, Kenntnisse über etwas zu besitzen, würde Achilleos diese zwangsläufig auch ausnutzen.
    „Welche Sprachen sollte ich beherrschen, um dir angemessen dienen zu können, Jinshi?“ Mit einer Gegenfrage zu antworten entsprach in ihrem vorherigen Haushalt in etwa dem Tritt gegen das Schienbein. Memnos hatte es gehasst. Und sonderlich höflich erschien diese Taktik wohl auch nicht. Aber sie musste ihre Grenzen eben weiterhin austesten.