Beiträge von Semiramis

    Einem Schatten gleich war die Syrerin den beiden Flaviern gefolgt. Sie war sich nicht sicher, inwiefern es ihr gestattet war, bis hin ins atrium vorzudringen. Eigentlich wollte sie doch nur einen Blick auf die beiden Toten erhaschen. Nicht daß man meinen sollte, die Sklavin sei sensationssüchtig gewesen. Im Grunde war es nur ihre Neugier, die gestillt werden mußte, da sie doch noch nie einen Toten gesehen hatte. Und hier gab es gleich zwei davon. Die Umstände, die die beiden Römer zu Leichen hatte werden lassen, waren Semiramis nicht bekannt. Man hatte ja so einiges gemunkelt, unter den Sklaven. Zum Beispiel, daß die Flavia sich vergiftet hatte. Weshalb sie das getan hatte, wußte niemand so genau. Allerdings kursierten die wildesten Gerüchte. Die einen meinten, sie sei unglücklich verliebt gewesen. Andere wiederum behaupteten, sie habe ein Heiligtum entweiht.
    Am Ende des Ganges, der dort ins atrium mündete, blieb sie schließlich stehen und reckte ihren Kopf. Von der Ferne sah sie die Toten. Friedlich lagen sie nebeneinander, so wie es eben Eheleute zu tun pflegten. Wie im Leben, im so im Tode, dachte sich Semiramis und bemerkte nicht, wie sich die Sentimentalität an sie heranzumachen versuchte. Daß es freilich anders gewesen war und diese Aufbahrung nur ein Idealbild darstellen sollte, war ihr nicht bewußt gewesen. So gut kannte sie ja die Toten nicht. Eigentlich kannte sie sie gar nicht.
    So gaffend verharrte sie an ihrem Platz, ohne sich viel Gedanken zu machen, ob man sie bereits mißmutig beobachtete. Die Anwesenden waren viel zu sehr von ihrer Trauer ergriffen und die Sklaven, die man gelegentlich wahrnahm, schienen auch wie hypnotisiert zu sein.

    Sie hatte es getan! Sie hatte es tatsächlich getan! Unglaublich! Semiramis, war in diesem Moment von sich selbst geschockt. Außer einem "Oh!" entwich nun nichts mehr ihrem Mund. Eigentlich war es doch nur ein Reflex gewesen, um ihn abzuwehren. Denn der Flavier wurde immer zudringlicher und schreckte selbst vor Gewalt nicht zurück. Zwar hatte er sie noch nicht geschlagen, dennoch zwang er sie, sich ihm hinzugeben.
    Die Spucke sah nicht besonders ästhetisch aus, in seinem Gesicht. Doch bewirkte es, daß er seine Arme von ihr nahm. Diese hatten genug damit zu tun, wie wild in der Luft herum zu wirbeln. Aus seinem Ekel vezogenen Mund kamen entsprechende Kommentare. Meine Güte, es war doch nur Spucke! Also im Prinzip nur Wasser. Einfach nur eine Körperflüssigkeit. Dessen Austausch er selbst bis eben noch forsch vorangetrieben hatte! Die Syrerin war jedoch so perplex über sich selbst, so daß sie sich darüber gar keine Gedanken machen konnte.
    So lag sie also da, unter Piso, der wie ein Irrer versuchte, sich die Spucke aus dem Gesicht zu reiben, was aufgrund der hektischen Bewegungen allerdings nur schleichend vonstattenging. Wenn sie jetzt geschaltet hätte, wäre jetzt die Gelegenheit günstig gewesen, sich des Flaviers zu entziehen. Aber das syrische Hirn war aufgrund des Schreckens zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt.
    Was würde jetzt als nächstes geschehen? Würde die Syrerin noch heute Bekanntschaft mit dem berühmt berüchtigten Loch machen? Oder würde der Zorn den Flavier noch zu härteren Maßnahmen veranlassen?
    Nein, das war alles zu viel gewesen für sie. Sie hatte doch nur versucht, nett zu sein. Wo sie sich doch ohnehin schon mit ihrer neuen Rolle abgefunden hatte. Semiramis rebellische Tage gehörten schon seit einiger Zeit der Vergangenheit an. Wäre da ein Entgegenkommen des Flaviers nicht mehr als angebracht gewesen? Doch der, statt sie als Mitmenschen anzuerkennen, wollte nur das eine. Und das mit Gewalt. Männer waren eben doch alle Schweine. Mit gewissen Ausnahmen, natürlich. Aber außer dem alten Aziz fiel ihr gerade keine andere Ausnahme ein.
    Die Angst übermannte die syrische Sklavin. Furcht spielgelte sich in ihren Augen wider und sie begann zu schluchzen. Wenigstens blieben ihre Augen (vorerst) noch trocken. Ob sie ihre Tat bereute? Nein, natürlich nicht!

    Womöglich wäre es sinnvoller gewesen, Semiramis hätte sich einer Sprache bemächtigt, die jeder normale urbs aeterna- Bewohner auch verstanden hätte. Dann wäre der Flavier wohl viel zu erbost gewesen, um das zu tun, was er nun tat. Natürlich hätte auch die Möglichkeit bestanden, daß er zusätzlich noch gewalttätiger geworden wäre. Ganz gleich, wie man es drehte und wendete, sie fand sich in einer üblen Situation wieder, denn sie hatte ihn geschlagen. Vielleicht war ihr nicht bewußt gewesen, welch großen Fauxpas sie begangen hatte.
    Das Gezeter Der Syrerin verstummte schlagartig, als sich die eine flavische Hand zum Gegenschlag erhob. Die andere hatte indessen noch kräftiger zugepackt. Semiramis zweifelte keinen Moment daran, daß er sie nun schlagen würde. Schließlich hatte sie ihn ja zuerst geschlagen. Und sie wußte ja mittlerweile, wie Piso tickte. Du hast mich gehauen, also hau ich dich auch.
    Wußte sie wirklich, wie er tickte? Ganz bestimmt? Zudringlich geworden war er ja noch nie. Und mittlerweile war sie ja schon eine Weile bei ihm. Allenfalls hätte sich dieser Halbwilde aus Rätien auf sie gestürzt. Doch als dies nun Piso höchstpersönlich tat, war sie erst irritiert. Vollkommen unvorbereitet trafen Pisos Lippen auf ihre. Der erwartete Schlag war ausgeblieben. Stattdessen traf er Vorbereitungen, ihr seinen Willen aufzudrängen. Voller Angst versuchte sie den liebestollen Flavier abzuwehren, noch während er sie küßte. Seine Absichten waren mehr als deutlich und hätten jener Worte, die er knurrend von sich gab, nicht bedurft. Sie wand sich, versuchte ihre Arme zu befreien, ihn von ihr zu stoßen, doch je mehr sie sich anstrengte, desto kraftloser schien sie zu sein. In ihrem Kopf zeichnete sich nur ein Bild ab. Hier und heute würde man sie ihrer Unschuld berauben. Ihre Unschuld, die der alte Aziz immer zu beschützen suchte. Sie sei kostbar, hatte er ihr einmal erzählt. Nur anständige Mädchen, die unschuldig in die Ehe gingen, hätten es verdient, einen ehrenwerten Mann zu bekommen. Den ehrenwerten Mann hatte sie sich schon längst abgeschminkt. Schon damals in Damaskus. Den kurz bevor sie in die Fänge der Sklavenhändlers geraten war, hatte Aziz mit einem schmierigen, zwielichtig aussehenden Kerl Verhandlungen geführt. Vielleicht hatte es ja doch etwas Gutes, daß sie nun hier war.
    Endlich lösten sich seine Lippen von ihren. Semiramis war speiübel. Nicht etwa weil Piso Mundgeruch hatte, nein ganz und gar nicht. Sein Atem war eigentlich ganz angenehm. Womöglich kaute er stundenlang auf diversen Kräutern herum. Daher kamen vielleicht auch seine eigentümlichen Anwandlungen, die gelegentlich über ihn kamen, so wie jetzt gerade.
    Er stellte sie vor die Wahl. Dabei grinste er so widerlich, wie sie es selten gesehen hatte. Wenn er geglaubt hatte, sie würde sich fügen, damit er leichtes Spiel mit ihr hatte, dann befand er sich im Irrtum.
    "Weder noch!", fauchte sie und danach folgte, was folgen mußte. Um ihren Worten noch eine gewissen Nachdruck zu verleihen, spuckte sie ihm noch ins Gesicht. Das sollte vorerst Antwort genug sein.

    Die Syrerin blieb völlig unbeeindruckt von Pisos Zetern. Auch sein übertriebenes Schreien machte ihr nicht wirklich etwas aus. Das war sie ja mittlerweile schon von ihm gewohnt. Doch was dann passierte, ließ sich kurz mit plitsch, grabsch, platsch beschreiben.
    Wem das zu schnell ging, dem sei hier die Version in Zeitlupe ans Herz gelegt:
    Voller Inbrunst rückten die syrischen Fingernägel dem widerspenstigen römischen Pickel zu Leibe. Ihre ganze Konzentration galt jenem unästhetischen Feind,dem kein Pardon gewährt werden würde. Dementsprechend verbissen war ihr Blick, der allem um sie herum längst schon entrückt schien. Dem Geplapper ihres Herrn zum Trotze, intensivierte sie den Druck, denn der Pickel stellte sich als extrem widerstandsfähiger heraus, als gedacht. Lediglich eine leichte Rötung der Haut war nach einiger Zeit festzustellen. Keine Gefangenen, rief es in Semiramis Hirn! Keine Gefangenen, lautete die Botschaft an ihre Finger. Keine Gefangenen, blinkte es in ihren Augen! Und ja, ganz allmählich doch unausweichlich war eine leichte Veränderung festzustellen. Semiramis Augen begannen sich erwartungsschwanger zu weiten. Gleich würde es soweit sein! Explosionsartig würde sich der kleine Störenfried öffnen, nur noch wenige Sekunden würde es dauern. Sekunden, die zäh wie Leder waren.
    Dann ein archaisch anmutender Aufschrei, welcher von den Untiefen aus Pisos Lunge stammte, herausgebrüllt, um der Syrerin Einhalt zu gebieten, die sich unlängst am Ziel wähnte. Dieser jedoch so lautstarke Gezeter, konnte die Sklavin keineswegs erschüttern. Schließlich war sie in ihrem Element, sie, eine Frau mit Erfahrung. Der Urschrei ebbte langsam ab und wurde allmählich von einen wild gestikuliertem Protestschrei abgelöst. Dieser wiederum war in wohl artikulierten Worten gefaßt, die allerdings genauso wenig ausrichteten bei der Syrerin, wie dessen Vörgänger, da genau in diesem Augenblick die langherbeigesehnte Veränderung eintrat. Ein Pflock aus Eiter wurde zielsicher empor geschleudert, welcher letztendlich in Semiramis´ Gesicht landete. Die Syrerin realisierte dies erst Sekunden später. Doch als sie es realisierte, war es bereits zu spät es ungeschehen zu machen. Während sie nun unvermittelt den Druck ihrer Fingernägel dramatisch reduzierte, nahm sie nur unscheinbar das wilde Gerudere der flavischen Hände wahr. Vielmehr lag ihr Hauptaugenmerk auf jenem widerlichen Überbleibsel, welches der ebenso flavischen Pustel entsprungen war und nun an ihrer Wange prangte.
    Inzwischen hatten die wild umher wirbelnden Hände des Flaviers ein Ziel, wenn auch ein weiches Ziel gefunden, welches, wie er im weiteren Verlauf noch feststellen durfte, der sklavische Po der Syrerin war. Im Grunde hätte sich Semiramis nicht beschweren müssen, schließlich hielt der Flavier sein Eigentum in Händen, als er ihren Allerwertesten gegrabschte. Semiramis jedoch, die freiheitsgewohnte und impulsive Sklavin, die ganz und gar nicht für die Sklaverei geboren worden war, sah das ganz anders. Das eben noch vom Ekel verzerrte Gesicht, formte sie zuerst ganz langsam zu einem verblüfften. Und als sie endlich registrierte, dass dieser frivole unverschämte Römer an genau jener Stelle im wahrsten Sinne des Wortes Hand angelegt hatte, an denen sie schlicht und ergreifend sehr empfindlich war und deshalb diese Region ihres Körpers eine Taburegion darstellte, an der flavische Hände, auch die von Piso und speziell die von Piso, nichts zu suchen hatten, veränderte sich schlagartig ihr Ausdruck in einen wutentbrannten. Ihre Hand, die vor wenigen Sekunden noch am Kopf des Flaviers zugange war, formte sich zu einer glatten Fläche. Ihr Arm machte unverzüglich eine Rückwärtsbewegung. Einer Steinschleuder gleich, schmetterte selbiger Arm unausweichlich der flavischen Wange entgegen, welche sich in unmittelbarer Nachbarschaft befand. Während die syrische Hand die römische Wange traf, ertönte ein weiterer Schrei. Diesmal lag der Ursprung des Schreies in der syrischen Lunge, streifte die syrischen Stimmbänder und erhielt durch den weitaufgerissenen syrischen Mund, einen ganz besonderen Klang. Ebenso waren ihr einige unverständliche Verwünschungen über die Lippen gekommen, deren Übersetzung wir uns an diesem Punkt einfach ersparen.

    "Aha!" Diese Aurelia Prisca mußte ja ein wahres Prachtweib sein! In Syrien würde sie wohl mindestens zwei oder sogar dreihundert, wenn nicht sogar vierhundert Kamele bringen, wenn sie tatsächlich solche Qualitäten besaß, wie der Wurtstel sagte. Semiramis hatte sich immer gefragt, was man mit so vielen Kamelen machen sollte. Die Viecher waren zwar sehr genügsam, aber irgendwann mußten sie auch mal fressen und saufen! Sie konnte sich wirklich glücklich schätzen, daß dies nicht mehr ihre Sorge sein mußte!
    "Soso!" Semiramis hatte zwar keinen Schimmer, was ein Tutor war, dennoch war ihr der Begriff Giftzwerg nicht gänzlich fremd. Schließlich gebärdete sich der Wurstel manchmal selbst als einer. Aber ohje, jetzt fing er doch tatsächlich an, zu heulen, nur ohne Tränen eben. Ja, sein Leben war wirklich scheiße! Der arme Wurstel! Beinahe hätte sie ihm mütterlich gedrückt und ihm über die Wange gestreichelt, was sie aber glücklicherweise doch noch unterbinden konnte.
    "Ja, meins ist auch!", meinte sie nur und guckte ihn mit ihren großen Rehaugen mitleidig an. Aber was war das, knapp unterhalb des Haaransatzes oberhalb der linken (oder war´s doch die rechte?) Schläfe??? Semiramis kam seinem Gesicht gefährlich nahe, fast hätte sie ihn berührt. Sogleich machten sich ihre Fingernägel an der pustula zu schaffen.
    "Du hast da sooo einen Pickel! Kein Wunder, daß es dir schlecht geht!" Hätte sie noch eine dritte Hand zur Verfügung gehabt, er hätte sich von der Größe des Pickels anhand ihrer Fingerhaltung selbst überzeugen können. Selbstverständlich hätte man sich nun fragen können, was das eine mit dem anderen zu tun hatte. Doch diese Logik, mußte vorerst dem gemeinen Südeuropäer verwehrt bleiben, da es sich hier um eines der vielen orientalischen Geheimnisse handelte. Hatte ihr der alte Aziz ihr nicht einmal so etwas gesagt? Je mehr Sorgen man hatte, umso mehr Pickel bekam man. Zwei Fingernägel zu einer Art Pinzette geformt, begannen ohne Vorwarnung mit ihrer Arbeit. Semiramis kannte sich damit aus! Er war in guten Händen.
    "Ich drück ihn dir gleich mal aus," kündigte sie an, als sie bereits schon voll im Gange war.

    Ah ja! Der Wurstel hatte Liebeskummer! Natürlich behielt die Syrerin ihre Erkenntnis für sich, hätte aber am liebsten ihre Augen verrollt. Nun ja, das würde sie sich für später aufheben, wenn Piso ihr unweigerlich seinen Rücken zuwandte.
    "Da ist es aber schlecht zu massieren!", meinte sie fachmännisch. So viel wußte sie auch vom Massieren, daß sich der menschliche Oberkörper nur schwerlich zum kneten eignete. Als Piso ihr schließlich den Rücken zuwandte, der einige ausgezeichnete Möglichkeiten für die Massage bot, schwante es ganz kurz sogar Semiramis, daß es Piso vielleicht ganz anders gemeint hatte, als er andeutete, sein Schmerz säße am Herzen.
    Einfühlsamkeit war nun nicht wirklich Semiramis Stärke. Vielleicht einfach deshalb, weil sie nur selten selbst Einfühlsamkeit erfahren hatte. Der alte Aziz hatte sich zwar um sie gekümmert, seit er sie als Kind irgendwo Mutterseelenallein aufgegabelt hatte. Aber ein richtiger Ersatz für lebevolle Eltern war er auch nicht gewesen.
    Sogar das magische Zauberwort kannte der Flavier. Danach konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Sie legte beide Hände auf seine Schulter und begann, mal fester und mal weniger fester seine Schultern zu kneten, als sei es ein gemeiner Brotteig, den sie zu bearbeiten hatte.
    "Ist es gut so?", erkundigte sie sich nach einer Weile. Die Seufzer des Flaviers wußte sie nicht so recht zu interpretieren. Nicht, daß sie ihm noch weh tat und sie am Ende noch dafür noch in ins Loch wanderte.
    Das Massieren war schon eine eintönige Sache. Zumindest dann, wenn man es stundenlang nur an einer Stelle machte. Semiramis Hände begannen schon weh zu tun. Mich massiert auch nie jemand, dachte sie bei sich und massierte weiter und immer weiter.
    "In wen bist du denn so schrecklich verliebt, wenn ich mal fragen darf," kam es ohne Vorwarnung auf einmal aus Semiramis heraus, der es schlichtweg langweilig geworden war und schließlich das aussprach, was sie sich die ganze Zeit schon fragte.

    Da es nach Pisos Worten eh Wurscht war, was sie machte und wie sie es machte, setzte sie das Tablett irgendwo krachend auf. Genauergesagt fand es seinen Platz auf einem Tischchen, welches bislang irgendwelche Papyri beherbergt hatte. Ob diese nun wichtig waren oder nicht, war der Syrerin herzlich egal. Hauptsache irgendwohin mit dem Tablett und dann ab durch die Mitte, direkt in die Sklavenunterkunft zum schlafen. Ja, genau, so hatten Semiramis´ Pläne für den Rest des Abends ausgesehen. Daß allerdings dann dieses süße Herumgeplänkel des Flaviers dazwischen kam, hätte auch wirklich niemand ahnen können. Tja, Piso verstand es, seine Mitmenschen (auch wenn es in diesem Fall nur eine arme, bemittleidenswerte Sklavin war) immer wieder zu überraschen.
    Beinahe, aber auch wirklich nur beinahe wäre sie ihm auf den Leim gegangen, denn genau nach diesem Mitgefühl war sie doch die letzten Wochen auf der Suche gewesen. Nur etwas Verständnis oder ein gutes Wort, wenigstens eines! Dummerweise waren die Mitleidsbekundungen Pisos Mund entwichen. Statt diese zu genießen und sich nun für einen Moment wenigstens in den Arm genommen zu fühlen fragte sie nur unwirsch: "Was willst du?" Kritisch beäugte sie den Flavier, der eine exzellente Besetzung für den sterbenden Schwan abgegeben hätte.
    Das diese kleine Freundlichkeit lediglich auf Eigennützigkeit beruhte, daraus machte er gar keinen Hehl. Massiert werden, das war es, was er wollte! Nur massiert werden. Jammerlappen, dachte Semiramis bei sich. Dies laut auszusprechen, traute sie sich natürlich nicht. Ein wenig Respekt hatte sie doch vor ihm. Daß er sie dann ins berühmtberüchtigte Loch werfen lassen würde, davon ging sie ohne zu zögern aus.
    Selbstredend hatte die Syrerin vom Massieren genau so viel Ahnung, wie ein Frosch vom Fliegen. Aber wenn er sie schon so jämmlich bat. "Wo tut´s denn weh?" , fragte sie ihn schließlich, sie war ja gar kein Unmensch, nicht mal dann, wenn es um Piso ging.

    [Blockierte Grafik: http://img232.imageshack.us/img232/9697/acanthusmj4.jpg| Acanthus



    Acanthus, seines Zeichens altgedienter Ianitor im Hause Flavia und auch, was nur wenige von ihm wußten, Hobbyphilosoph, hatte es sich, wie jeden Tag auf seiner harten Bank gemütlich gemacht und sann über die Welt nach, als Wille und Vorstellung, bis daß er einmal mehr in seinem Denken durch ein emsiges Klopfen gestört wurde. Leise murrend, doch bemüht, nicht ganz zu abschreckend dreinzublicken (auch wenn ihm dies nur zu selten gewürdigt wurde), erhob er sich, um seiner Pflicht nachzugehen.


    Kaum war die Tür um einen Spalt weit geöffnet, die obligatorische Frage gestellt, da erschallte es bereits von seinem Gegenüber. In Acanthus Kopf begann es zu arbeiten. Er erinnerte sich wieder an einen aurelischen Sklaven vor einigen Tagen. Auch wenn nun der Sklave, der soeben den aurelischen Senator ankündigte nicht mit blau-grünen Augen ausstaffiert war, so war doch gegen einen Termin mit dem dominus Furianus nichts einzuwenden und so beauftragte er den jungen Sklaven Phoebus die Gäste ins atrium zu begleiten und anschließend den dominus von der Ankunft seiner Gäste zu unterrichten.

    Leise fluchend hatte sich die Syrerin ihren Weg zur Küche gesucht. Nachdem sie nun wochenlang unterwegs gewesen war, mußte sie sich erst wieder orientieren, damit sie nicht falsch abbog und statt in der Küche im Zimmer einer der Herrschaften zu landen. Außerdem war sie unglaublich müde und erschöpft. Liebend gern hätte sie sich nun zum schlafen gelegt, statt dem Flavier etwas zu essen zu richten.

    Nachdem sie zu guter Letzt auch noch eine Abfuhr vom Koch erhalten hatte, weil sie es gewagt hatte, ihn noch zu so später Stunde beanspruchen zu wollen, war der Abend perfekt! Man konnte der guten Semiramis ja so einiges zumuten, doch irgendwann war die Grenze dessen, was erträglich war, erreicht. Semiramis war nur noch ein ganz kleines Stückchen von dieser unsichtbaren Grenze entfernt. Sie hätte sie bereits riechen können, wäre das Gespür ihrer Nase nicht in den letzten Wochen aufs übelste missbraucht worden. Mit Artodingsbums durch die Lande ziehen zu müssen und ihn Tag und Nacht um sich haben zu müssen, war eine echte Herausforderung gewesen. Wahrscheinlich die größte, seitdem sie nach Rom gekommen war. Da blieb eben so manches auf der Strecke.


    Miesepetrig trat sie mit vollbeladenem Tablett den Rückweg an. Die Tür zu Pisos cubiculum stieß sie einfach nur ungestüm mit ihrem Ellenbogen auf, da ihre beiden Hände das Tablett festhalten mußten. Und nachdem sie eingetreten war, gab sie derselben einen unsanften Tritt mit ihrem Fuß, damit sie krachend zufiel.
    "Wohin damit?", fragte sie mürrisch und deutete mit dem Kinn auf das Tablett in ihren Händen. Vorsorglich sah sie sich schon einmal um, wo sie ihr Tablett mit dem Essen abstellen konnte, falls der Flavier erneut in sphärischen Untiefen bewegte und von der Realität nichts mitbekam. Sie hatte bestimmt keine Lust, als lebender Tabletthalter zu fungieren. Sie war müde und erschöpft und träumte nur noch ihrem warmen ungemütlichen Plätzchen in der Sklavenunterkunft, die keinen Deut besser war, als das, was sie in den letzten Wochen auf ihrer Reise gehabt hatte.

    Die Syrerin wich bei Pisos plötzlichem Ausbruch ängstlich zurück. Sie fragte sich, was ihm wohl über die Leber gelaufen war, damit er so angefressen war. Das konnte doch unmöglich nur ihre Anekdote aus ihrem früheren Leben gewesen sein. Aber da sie ihn ja sowieso für total verrückt hielt, maß sie dieser Frage nicht allzu viel bei. Man hätte sogar fast denken können, Piso sei eine Frau, denn die Gefühlsschwankungen die ihn agieren ließen, waren ihrer Meinung sehr stark und Semiramis wußte, wovon sie sprach, wenn sie darüber gesprochen hätte, denn schließlich war sie ja eine Frau, mit eben diesen Gemütsschwankungen.
    Ja, ja, er hasste sich und er hasste den Rest der Welt. Mit ersterem war er sicher nicht allein gewesen. Aber trotzdem, als Piso wieder zu jammern anfing, hatte sie sich beinahe erweichen lassen. Sie suchte schon nach einigen geeigneten Worten des Trostes, auch wenn sie es immer noch nicht kapiert hatte, weshalb er so mieser Stimmung war. Er aber gab ihr nicht einmal die Gelegenheit dazu, sich zu artikulieren, geschweige denn ihr wahres Ich zeigen zu können.
    "Typisch Römer," murmelte sie stattdessen nur beleidigt, als er sie anblaffte und ihr damit drohte, sie ins Loch zu schmeißen. Mit einem "Blöder Depp," welches sie so leise von sich gab, daß es unmöglich jemand gehört haben konnte, verließ sie rasch Pisos cubiculum, um etwas eßbares für ihn zu finden, denn diesem Gefühlsverirrten konnte man alles zutrauen.

    Da lag er nun, dieses Würstchen, dies halbe Portion, Roms Glanz und ruhmreiche Zukunft. Wer wollte den schon freiwillig haben? Aber wenn es genug verweichlichte Römer gab, muße es logischerweise auch das passende weibliche Pendant dazu geben, sonst hätten sie sich niemals so ausbreiten können. So waren Semiramis´ Gedankengänge, die zugegebenermaßen gelegentlich recht einfach gestrickt waren.
    Da brummelte er etwas hervor, oh Wunder er war noch des Sprechens mächtig, auch wenn die Syrierin nur "Bahnhof" verstand, von dem sie selbstverständlich auch noch nie etwas gehört hatte.
    "Äh, was hat er gesagt?", fragte sie Artomaglos, der zweifellos der Fremdsprachenspezialist unter den Dreien war.
    Das Murmeln ging weiter. Na bravo, er war schon wieder krank! Da konnte sie sich ja auf etwas gefasst machen. Sie sah sich schon dabei, wie sie eitrige Verbände wechseln und sich mit übel riechendem Auswurf beschäftigen mußte. Einfach widerlich!
    Aber dann schaffte der Flavier etwas Klarheit. Semiramis war es gelungen, die wichtigen Teile seines Gesprochenen vom Gejammer zu trennen und heraus kam die Botschaft, daß er ganz offensichtlich verliebt war und die Angebetete hatte ihm offenbar den Laufpaß gegeben. Wer hätte ihr das verübeln können!
    "Ach, nein! Der ist gar nicht krank, der macht nur so! Er ist nur v e r l i e b t !", meint sie dann besonders feinfühlig in Artomaglos Richtung und kicherte auch noch, wie ein kleines Mädchen dabei.
    Die Annahme des Flaviers, die Syrierin hätte noch nie etwas von wahrer Liebe gehört, ließ sie dann glücklicherweise auch wieder verstummen.
    "Logisch, war ich schon mal verliebt! Und wie! Er hat mir jeden Tag rote Rosen geklaut und mir ständig ins Ohr gesäuselt, wie sehr er mich liebt. Und dann sind wir weiter gezogen und ich war ihn los. Der großen Mutter sei Dank!" Es war natürlich fraglich, ob man hier von beidseitigen Gefühlen für einander sprechen konnte, doch das war Semiramis erste Begegnung mit der Liebe. Der alte Aziz hatte ja ständig ein Auge auf sie gehabt und sobald sich ein potentieller Verehrer am Horizont zeigte, wurde der meist erfolgreich in die Flucht geschlagen.

    Die letzten Wochen, in denen sie unterwegs gewesen waren, war für die Syrerin der reinste Alptraum gewesen. Sie hatte gelernt, Arodingsbums (seinen richtigen Namen konnte sie sich immer noch nicht merken, oder besser gesagt, sie wollte ihn sich nicht merken) weitestgehend zu ignorieren, was ihr immer öfters gelang. Glücklicherweise war er bisher nicht über sie hergefallen und ihr Gewalt angetan, sah man mal von den widrigen Umständen in der Absteige in Mogontiacum ab. Ein wenig hatte sie sogar von seiner seltsamen Sprache aufgeschnappt. Zu sprechen traute sie sie nicht, weil sie fürchtete, sich dann vollends zum Deppen zu machen.
    Ja, jetzt waren sie wieder zurück in der Zivilisation. Semiramis freute sich schon auf ihr Strohlager in der Sklavenunterkunft. Wenigstens gab es dort kein Ungeziefer. Und wenn, dann nur solches mit sechs Krabbelbeinen, aber keines mit Fell, Nagezähnen und einem langen Schwanz.
    Ihr erster Gang, nachdem sie die porta der Villa Flavia durchschritten hatten, war der zum cubiculum des Irren, wie Semiramis liebevoll ihren Herrn nannte. In Wirklichkeit konnte sie diesen dämlichen Idioten nicht leiden, und höchstwahrscheinlich er sie auch nicht.
    Irgendetwas war ihm über die Leber gelaufen, so wie er sich gab. Er lag auf dem Bett und zog ein Gesicht, wie drei Tage Regenwetter. Semiramis kümmerte das wenig, solange er sie nicht ansprach, beachtete sie ihn kaum. Erst als sie einen Klaps auf ihrem Hintern spürte und nach vorne geschoben wurde, änderte sich das. "Mach das nochmal, du Holzdepp und du bereust es! Klar?" zischte sie leise Artomaglos zu. Ihr war natürlich nicht genau klar, inwiefern er das bereuen würde, aber ihr fiel schon was ein. "Was soll ich den sagen?" Semiramis war in diesen Dingen doch recht unbeholfen, gerade dann, wenn es um den irren Piso ging.
    "Was ist los mit dir? Bist du immer noch krank oder schon wieder?" Zugegebenermaßen war dies nicht besonders einfühlsam. Aber vor ihr saß ja auch kein kleines trauriges Mädchen, sondern ein ausgewachsener Kerl. Diese degenerierten Römer, dachte Semiramis verächtlich.

    "Hä, was?" Semiramis verstand nur Bahnhof und selbst das wäre ihr spanisch vorgekommen. Aber es war ja auch egal. Sie war in keiner guten Stimmung, um sich jetzt noch mit dem blöden Noriker zu streiten. Ihr Fuß tat höllisch weh und auch sonst ging es ihr ziemlich dreckig. Auch als der Noriker sich mal richtig anstrengte und zur Abwechslung mal so sprach, dass ihn auch der Rest des Imperiums verstehen konnte, juckte das die Syrerin auch nicht mehr. Sie lachte nur mal kurz auf und ihr Lachen klang irgendwie... entrückt... Ein Mörder? Na und! Wenn sie noch länger mit dem Kerl zusammen sein mußte, konnte sie für sich selbst auch nichts mehr garantieren. Der Noriker tat auch wirklich alles, um auf Semiramis´ Liste, der zu eliminierenden Personen, ganz oben zu stehen.
    "AUAAAA!", brüllte sie vor Schmerz, als dieser Grobian sich ihren Fuß griff und daran herum zog. "Bist du irre, Mann? Das tut verdammt nochmal weh!" Aber anscheinend ging alles, was sie sagte, an ihm vorbei. Angeblich war nichts gebrochen. Wer´s glaubte… Sie gab nicht viel auf die Einschätzung des 'Herrn Geheimrat' und kommentierte das nur mit einem verächtlichen Zischlaut.
    Zumindest räumte er ihr sogenanntes Bett relativ schnell von allem Unrat frei, nun ja vom größeren Unrat frei. Semiramis wollte nicht wirklich wissen, wie viel Dreck tatsächlich noch in der Matratze, in der Decke und dem Kissen steckte. Auch wenn es ihr unangenehm war, diesmal folgte sie dem schroffen Bellen des Norikers und legte sich ins Bett. Schlafen konnte sie freilich nicht. Ständig juckte sie etwas, was ihre schlimmsten Befürchtungen in unmittelbare Nähe rückten. "Mist, Flöhe!" zischte sie nur leise. Aber irgendwann übermannte sie doch die Müdigkeit und schlief, wenn auch nicht sanft, ein.

    Jammernd und wehklagend saß sie da, wie ein Häufchen Elend. Den dämlichen Noriker verstand sie kaum, ihr so genanntes Bett glich mehr einer Müllkippe und dann tat ihr Fuß so höllisch weh. Wäre sie doch jetzt nur in Syrien! Zu den Tränen, die sie wegen der Schmerzen vergoß, gesellten sich jetzt auch noch die von ihrem Heimweh, dass sie gerade jetzt wieder überkam. „Ich will nach Hause!“, jammerte sie.
    Zu allem Übel trat auch nun noch der Noriker zu ihr her und ging neben ihr in die Hocke.
    „Natürlich ist das deine Schuld!“, rief sie wütend.
    „Hier tut’s weh!“, meinte sie dann nach einer Weile und deutete mit schmerzverzerrtem Gesicht auf ihre Zehen. Hoffentlich betatschte Artodingsbums nun nicht ihren Fuß mit seinen riesigen Pranken. Davor hatte sie nämlich Angst, weil sie fest der Überzeugung war, er könne ihr dadurch noch mehr Schmerzen zufügen.

    Semiramis bedauerte bereits, etwas gesagt zu haben. Der Noriker machte sich in seinem Kauderwelsch wieder lustig über sie. Aber eines Tages, da würde sie sich für alles rächen, beschloß sie, als sie den Platz sah, wo sie schlafen sollte. Das war doch nicht sein ernst! In einer Ecke stand ein weiteres Bett und um das Bett herum stand jede Menge Gerümpel. Das bedeutete wohl, sie mußte sich erst einen Weg frei räumen, wenn sie schlafen wollte.
    Die Syrerin schluckte ihre Wut unter. "Mach dir bloß keine Umstände!" erwiderte sie eingeschnappt auf das Angebot Artodingbums und ließ zielstrebig auf das Bett zu. Dabei kickte oder schleuderte sie alles aus dem Weg was vor ihr lag oder stand. Dummerweise schätzte sie einen Amboss, der warum auch immer hier stand, falsch ein. Jaulend schrie sie auf, nachdem sie vergeblich versucht hatte, ihm wegzukicken. "AUAAAAA! Mist, Mist Mist! Ahhh tut das weh! Jetzt hilf mir doch mal, du Blödmann! Das ist alles nur deine Schuld! Auaaa!" Semiramis waren die Tränen in die Augen geschossen. Sie hatte sich auf den Boden gesetzt und hielt ihren verletzten Fuß. Hoffentlich war der nicht gebrochen!

    "Blödmann!", murmelte die Syrerin, als der Noriker es endlich einmal für notwendig erachtet hatte, sich nach ihr umzuschauen und ihr zu helfen. Mit einem Ruck zog er sie auf ihre Füße. Er hatte doch tatsächlich immer noch die wirre Idee, in diesem Laden zu übernachten. Nach der Show, die er hier abgeliefert hatte, würden die beiden Sklaven sicherlich am nächsten Tag mit einem Messer im Bauch erwachen oder sogar noch mit etwas schlimmeren konfrontiert werden. Aber gegen diesen Alpenheini konnte sie sich einfach nicht durchsetzen.
    Also folgte sie wohl oder übel Artomaglos und dem Wirt, der völlig eingeschüchtert von dem Noriker, die beiden Sklaven zu dem Zimmer führte. Nur durch Zufall gelang es der Syrerin einen Blick hineinzuwerfen in das halbdunkle Zimmer, das keinen besonders guten Eindruck machte. Bevor sie noch etwas sagen konnte, schlug Artodingsbums ein und nahm das Zimmer.
    "Und… was ist mit meinem Zimmer?" wage sie es, kleinlaut zu fragen. Sie konnte doch unmöglich zusammen mit dem da in einem Zimmer hausen, solange sie hier waren!