Die ihm unbekannte Art des Schreiens blieb Alrik im folgenden vorerst erspart. Die hermundurische Sippe, die keine zwei Tage von ihnen entfernt ebenfalls im von steinernen Leiten, Mooren und Urwäldern geprägten Niemandsland siedelte, hatte anscheinend genug davon ihnen zuzusetzen... oder einfach besseres zu tun als mit einer kleinen Gruppe halbtoter Widersacher Zeit zu verschwenden. Wie lange sie jetzt schon in dem grünen Nichts ausharrten konnte Alrik nicht sagen... länger als er lebte, das war klar. Modorok war geschlagen worden, von Römern und germanischen Stämmen gleichermaßen... aber er war nicht besiegt. Es gab immernoch einige Stammesteile der Hermunduren, Chatten, Mattiaker und anderer kleiner Stämme die Modorok nur allzu willig zuhörten. Auch wenn es längst nicht mehr genug waren um eine ernsthafte Bedrohung für die anderen Stämme und vor allem für die Grenze, hinter denen das Reich der Römer sich befand... es waren genug um einen schwelenden Bürgerkrieg nicht erlöschen zu lassen... und zu wenig um aus dem Bürgerkrieg einen handfesten Stammeskrieg zu machen. Der Großteil der Stämme leckte sich die Wunden, weil es genug Sippen gab die in der Hochzeit des Krieges Söhne verloren hatten, und unwillig waren durch noch so schöne diplomatische Reize weitere Söhne gegen einen Gegner in die Schlacht zu schicken, den sie schon als geschlagen betrachteten.
Das mündete darin, dass es vor allem kleine Gruppen wie die ihren waren die sich mit anderen Sippen anlegten die einigermaßen treu zu Modorok standen... mit wechselnden Bündnissen und vor allem sehr geringen Verlässlichkeiten. Das letzte gescheiterte Bündnis hatte zur Folge, dass ihre Gruppe Hals über Kopf das Dorf einer größeren Sippe verlassen musste... und sich nun schon seit Monaten auf einem Hügel im absoluten Nichts durch Jagen, Fischen und Sammeln durchschlug. Das funktionierte eher schlecht als recht, aber es funktionierte... und hoffentlich so lange, bis Alriks Vater und seine Leute ein neues, stärkeres Bündnis hervorzogen. Bis dahin war Leif oft tagelang unterwegs, und Alrik hatte sich zusammen mit seiner Mutter schon vor langer Zeit an die Angst gewöhnt, dass er nie wieder zurückkommen würde.
In dieser Zeit half Alrik dabei alles mögliche Essbare im Wald zusammen zu sammeln, wenn sie Glück hatten gab es Beeren, Pilze und Weidwurzeln, normalerweise vor allem Eicheln, Kastanien, Baumrinde und Hartwurzeln... und wenn sie Pech hatten, vergriff man sich bei der Suche und bescherte der Gruppe eine Lebensmittelvergiftung die es in sich hatte. Niemand wusste mehr, wer den Pilz aufgenommen hatte, der die alte Liuthilta nach Hel schickte und Rigmar hatte ihr Kind verlieren lassen, aber die Blicke, die einige ihrer Leute Alrik in den folgenden Wochen zuwarfen hatte recht deutlich gemacht wen sie dafür verantwortlich machten.
Seine Mutter hatte das natürlich mitbekommen und entsprechend reagiert in dem sie Alriks kindliche Sorgen mit Geschichten aus der Heimat verstreute. Ihr Bauch wurde runder und runder, und abends wenn sie gemeinsam beim Feuer saßen nahm Alrun ihren Sohn beiseite und erzählte ihm von ihrem Leben jenseits des Limes. Wo sein Vater sich in den Details ihrer glorreichen Familie verlor, von seinem Urgroßvater Wolfrik und den Kriegen mit den Chauken und anderen nordischen Stämmen erzählte, oder von seiner Zeit unter den römischen Großen und bei den Legionen, erzählte seine Mutter vor allem von den Städten der Römer, von den Bauwerken, und vom Reich der Römer generell... vom Kaiser (den sein Vater persönlich gesehen hatte!), den Senatoren (sein Vater wäre fast selber einer geworden!) und Rittern (sein Vater war einer gewesen!).
Die Abende, in denen sein Vater sich durch die Wälder schlug um bei anderen Stämmen um Verbündete (oder auch nur gewisse Gaben) zu werben, flogen nur so dahin bei den Erzählungen... und irgendwann hatte Alrik genug gehört um zwischendurch Fragen einzuwerfen wie '...und dieser Duumvir Matianus, war das ein Freund oder ein Feind unserer Sippe?' oder '...war das damals auch ein Senator? Hat der sein Idilat schon gemacht?' oder '...zu der Zeit war auch Traianus Germanicus Sedulus Legatus Augusto Pri Protaere, oder?' . Besonders interessant fand Alrik, dass seine Mutter selbst schon einmal einer Stadt vorgestanden hatte... Confluentes, oder in der Rogio Germania dem Gomez zugearbeitet hatte. Sowas war hier nicht möglich... zwar hatten die Frauen durchaus zu sagen (in gewissen Belangen sogar sehr viel, nur in Kriegszeiten konnten die Männer uneingeschränkt bestimmen wo es lang ging), aber sie waren doch die meiste Zeit damit beschäftigt Kinder zu kriegen, diese großzuziehen und den Haushalt und die Gemeinschaft zu pflegen. Was wohl auch der Grund war, weshalb Alrik alleine war und keine Geschwister hatte.. seine Mutter war früher viel zu beschäftigt gewesen um Kinder zu kriegen, und so war Alrik eben auch erst geboren worden als seine Mutter und sein Vater sich hinter den Limes zurückgezogen hatten um zu kämpfen. Das war auch der Knackpunkt, dem Alrik stets auswich um keinen Streit zu provozieren: Warum seine Eltern trotz all der glorreichen Geschichten um das römische Reich ihre Familie und Freunde verlassen hatten, um hier im bewaldeten Nichts zu leben. Alrik war sich sicher: würden sie im römischen Reich leben, würden seine vier Geschwister jetzt allesamt noch leben und sie hätten zusammen einen Mordsspaß.
Die Chance auf die Geschichten verzichten zu müssen wenn er solche Fragen stellte ließ Vala allerdings verstummen, und so erzählte seine Mutter Abend für Abend immer neue Geschichten aus dem Reich. Obwohl sie Germania (fast) nie verlassen hatte (sein Vater war quasi überall im Reich gewesen!), gab es nichts was sie ihm nicht erzählen konnte... die Acropolis von Athen schien sich förmlich aus den Nebelschwaden der Hügel zu erheben, als sie davon erzählte! Und er konnte den capitolinischen Hügel mit seinen großartigen Bauten sehen! Und die Menschen erst, in gleißend weisse Stoffe gehüllt, mit hoch erhobenem (stets mit Laub bekränzt) Kopf ehrwürdig die Welt beherrschend umhermarschierend.
Eines Morgens, nachdem sein Vater sich ganze zwei Wochen vom Lager entfernt hatte, hockten er und seine Mutter im Schattenspiel der Bäume unter der aufsteigenden Morgensonne.. sie arbeitete an an einem Seil aus Flachsfasern, er schnitzte Pfeile für die Jagd.. da kläfften ihre zwei Hunde voller Vorfreude, und man konnte freudige Männerrufe aus der Ferne der Wachposten hören. Sofort sprang Vala auf und rannte in Richtung des Lärms, so wie er es immer tat... so sehr sein Vater ihn auch ignorierte (außer, er konnte von vergangenen Heldentaten und Ruhmtümern erzählen), Alrik freute sich jedes Mal darüber, dass Leif es zurück schaffte. Auch dieses Mal war die Aussicht seines Vaters mehr wert als jede Geschichte über das noch so schöne römische Reich, sein Vater war zurück und lebte...
Alrik stolperte fast über eine Wurzel als er durch eine Kuhle lief, dem ausgetretenen Pfad folgend mit nassem Laub an seinen Füßen, bis er schwer atmend schließlich bei einem großen Felsen stehen blieb der ihren Wachen oftmals als Wind- und Regenschutz diente... und da stand er. Wie immer mit dem gleichgültigen, in Gedanken versunkenen Blick, der ihn gar nicht wahrzunehmen schien. "Vater!" , rief Alrik aus, erntete aber nur ein mattes Lächeln als Begrüßung, "VATER!" Leif wendete sich einer der Wachen zu und führte ein Gespräch fort, welches die beiden wohl vor Alriks Auftauchen geführt hatten, und wie so oft war es Gundraban, der Alrik in die Höhe nahm und ihn auf seine Schultern setzte.
"Alrik, wenn du weiter so wächst, wird dies das letzte Mal sein, dass ich dich auf die Schultern nehme!", tönte der junge Mann, dem gerade sein erster Bart wuchs, "Du wirst noch ein richtiger Jötun, der die Welt mit seinen Schritten erzittern lässt!"
"Mutter meint, ich wäre nur ein Strich in der Landschaft, kaum dicker als eine Weidenrute!" , beklagte Alrik sich mit deutlichem Nörgeln, immernoch seinen Vater anstarrend.
"Na, dann bist du aber eine verdammt schwere Weidenrute! Ich würde sagen wir müssen dir deine Rationen kürzen, bevor ich mir noch den Rücke breche..." , versuchte Gundraban sich als Stimmungsmacher.
"Wo wart ihr?" , wechselte Vala das Thema als der junge Mann ihn zurück in Richtung Lager trug, "Was habt ihr gemacht?"
"Ööööhhhhh.. wir... wir... wir...", begann Gundraban, "..wir haben... wir haben einen Rich getroffen, von einer großen Sippe, die können uns helfen."
"Wirklich?" , hakte Alrik nach, der genau diese Worte schon viel zu oft gehört hatte und danach doch weiterhin nur Eichelsud zu Essen bekam, alleine schon der Gedanke daran ließ seinen Magen vor Hunger knurren, "Wie habt ihr das geschafft?"
http://www.kulueke.net/pics/ir…pezielle/valahelfer09.png "Sie haben dich verkauft, Alrik." , erklang es mit kratzender Stimme hinter ihnen, als Alrik sich erschrocken umwandte und Gundraban dasselbe tat schaute Alrik auf einmal wieder in die Richtung in der sie unterwegs gewesen waren und sah erst einmal gar nichts. Erst als er wieder über den Kopf Gundrabans hinaus blickte, sah er dass Lintrad hinter ihnen aufgetaucht war, der zwergenhafte Sohn des Hluteri.
"Halt deinen verdammten Mund geschlossen, Lintrad.", kläffte Gundraban, der mit seinen fünfzehn Lenzen schon fast doppelt so groß war wie der Kleinwüchsige desselben Alters. Selbst Alrik hatte schon die Größe Lintrads hinter sich gelassen.
"Wieso?" , warf dieser sichtlich unbeeindruckt ein, "Warum sollte man dem Jungen etwas vormachen? Du druckst herum als würdest du das erste Mal vor einem Bär stehen, Gundraban... wird das dem Jungen helfen? Nein. Also: Alrik, man hat dich verkauft... sprichwörtlich gesehen."
"Lass das, Zwerg.", knurrte Gundraban ein weiteres Mal...
"Ich verstehe nicht... wieso weißt du das? Du warst nicht mit dabei..." , jammerte Alrik mit verwirrtem und hilflosen Blick, "..wieso sollte Vater das tun? Und warum? Und was ist sprichwörtlich?"
"Weil es vorher schon klar war, worauf das hinauflief." , gab Lintrad unbeeindruckt zur Antwort und begann weiter in Richtung ihres Lagers zu laufen, "Dein Vater musste es förmlich tun, um zu verhindern, dass wir hier irgendwann verhungern.. Heriman, der Rich der Sippe, hat viele Töchter und nur zwei Söhne. Seine Sippe besitzt genug um uns ohne Probleme durch den Winter zu bringen... und hat noch genug Männer um Modorok ernsthaft Probleme zu bereiten."
"Und wieso ich? Wieso gerade ich? Ich bin doch noch viel zu jung... bin ich das nicht? Mutter meinte, man würde mit zwölf oder dreizehn Sommern verheiratet... ich habe noch nicht einmal acht gesehen!" , protestierte Alrik als Gundraban es nicht tat, "Warum sollte Vater so etwas tun? Remberaht führt unsere Gruppe, der hat auch einen Sohn..."
"Dies sind harte Zeiten.. da ist man nicht wählerisch. Man setzt quasi auf die Zukunft" , antwortete Lintrad während er weiterhin gemächlich in Richtung Lager watschelte, Gundraban und Alrik neben sich wissend, und unterschlug dabei höflicherweise die allgegenwärtige Angst, dass Alrik gar nicht alt genug werden könnte um die Ehe zu vollziehen, "Remberahts Sohn ist schon verheiratet, außerdem ist er nicht so viel wert wie du... es macht mehr Sinn dich zu verheiraten, Alrik, als einen von uns."
"Lintrad, das ist zu viel für den Jungen.", versuchte Gundraban sich noch einmal darin, Alriks Unschuld zu bewahren.
"Ich verstehe das nicht..." , bestätigte Alrik danach dessen Angst, schließlich brummte ihm bereits der Schädel weil es für ihn einfach keinen Sinn machte. Natürlich wusste er wonach verheiratet wurde, seine Eltern und all die anderen in der Gruppe hatten sich nie die Mühe gemacht seine Vorstellungen von der Wirklichkeit mit irgendwelchen Sagen und Märchen zu verdrehen.. zumindest mit keinen die ihre aktuelle Situation beschrieben... aber das hier machte einfach keinen Sinn für ihn: "Wieso sollte ich unbedingt verheiratet werden? Gundraban ist auch noch nicht verheiratet! Oder du! Und ihr seid fast Männer!"
"Hah!!" , lachte Lintrad bitter, "Das will ich sehen, wie mein alter Herr mich an die Tochter eines Richs verscherbelt... nein, Alrik, bei dir geht es um mehr als dafür zu sorgen, dass du genug Kinder zeugst um in ein paar Jahren eine eigene kleine Sippe um dich zu haben. Da hast du recht... du bist zu jung.. aber in dieser Sache geht es nicht darum Kinder zu zeugen."
"Worum dann?" , fragte Alrik, dem der Kopf platzen wollte weil seine Gedanken kein schlüssiges Ziel fanden.
"Lintrad, schweig...", versuchte Gundraban es ein letztes Mal..
"Um Rom, Junge!!" , lachte Lintrad weiter, "Es geht dem alten Mann um Rom. Weder Gundraban, noch ich oder der Sohn Rehmberats haben Anspruch auf die Führung einer Sippe, die erstens im römischen Reich lebt und zweitens dort alles andere als ohne Einfluss ist."
"Aber meine Eltern haben sich dafür entschieden hier zu leben, bei euch... sie haben den Duccii den Rücken zugekehrt um gegen Modorok zu kämpfen." , wandte Alrik ein, dem seine Eltern dies (und das Argument, dass sie hier zusammen sein könnten, was im Reich nicht ginge) immer wieder eingeimpft hatten.
Lintrads Lachen verstummte, und dafür bildete sich eine Art Lächeln auf seinen Lippen, die Alrik nicht verstand: "Ja, sicher, das haben sie... aber gilt das auch für dich, wenn all dies einmal vorbei ist? Nein, tut es nicht... und Heriman setzt darauf, dass du danach nicht nur seine Tochter mit über den Limes nimmst, sondern seine ganze Sippe."