Ein undefinierbares Geräusch riss sie nach nur wenigen Stunden Schlaf aus ihren Träumen. Für einen kurzen Moment öffnete sie schlaftrunken die Augen, dann rollte sie sich zur anderen Seite hinüber und war fast wieder eingeschlafen, als das Geräusch sich wiederholte, lauter als beim erstem Mal und irgendwie beängstigend.
Sie setzte sich im Bett auf, lauschte eine Weile in die Dunkelheit und als sie es erneut hörte, glitt sie aus dem Bett, griff mit einer Hand nach ihrer Puppe und eilte auf nackten Füßen aus ihrem Cubiculum, um das Zimmer ihrer Eltern anzusteuern. Normalerweise war es in der kleinen Casa um diese Uhrzeit totenstill, aber in dieser Nacht herrschte eine vollkommen untypische Betriebsamkeit, sie konnte schnell umherhastende Schritte und mehrere Stimmen hören, die sich in gedämpfter Lautstärke unterhielten und alle furchtbar nervös und hektisch klangen. Sie hatte gerade das Atrium betreten, als sich das Geräusch wiederholte und sie es zum erstem Mal als das erkannte, was es in Wirklichkeit war: ein unterdrücktes, langgezogenes und schmerzerfülltes Stöhnen. Sie spürte ganz deutlich, dass sie in ihrem eigenen Interesse sofort umdrehen und sich ihrem Bett die Decke über den Kopf ziehen sollte, aber irgendetwas war stärker und zog sie unweigerlich weiter durch den Innenhof und auf die Stimmen zu. Fast hätte sie dabei ihren Vater übersehen, der ungewohnt still für diesen fröhlichen und meist lautstarken Mann auf einer steinernen Bank des Atriums saß und seinen Kopf in beide Hände vergraben hatte. Ein wenig unschlüssig lief sie ein paar Schritte auf ihn zu, ohne dass er aufsah und sie bemerkte, dann ließ sie die Hand, mit der sie ihn an der Schulter hatte berühren wollen wieder sinken und ging weiter auf das hellerleuchtete Cubiculum ihrer Mutter zu. Während sie sich der Tür näherte, erklang ein neues Stöhnen, schwächer als beim letzten Mal aber nicht weniger furchterregend. Bisher hatte vor allem Neugier ihre Schritte geleitet, aber mit jedem Schritt, den sie sich der Tür und der völlig ungewohnten Betriebsamkeit dahinter näherte, wuchs ihre Unruhe, und eine undefinierbare und in dieser Form noch nie gefühlte kalte Angst ballte sich mit zunehmender Intensität in ihrem Inneren zusammen.
Unbemerkt von der Leibsklavin ihrer Mutter, die hektisch und mit einer großen Schale in den Händen das Zimmer verließ, schlüpfte sie hinein und näherte sich dem Bett. War das Wasser in der Schale rot gewesen? Nein, da hatte sie sich sicher geirrt. Sie ging langsam und ihre Puppe an sich gepresst ein paar Schritte auf das Bett zu, irritiert durch die Luft im Cubiculum, die stickig und verbraucht war, und in der ein Geruch hing, den sie nicht einordnen konnte.
Sie war noch ein Stück weit vom Bett und der Gestalt darauf entfernt, als sie im Schein der zahlreichen Öllampen plötzlich das Blut sah und wie angewurzelt und mit weitaufgerissenen Augen stehen blieb. Natürlich hatte sie schon häufiger in ihrem Leben Blut gesehen, wenn sie sich in den Finger geschnitten oder sich die Knie aufgeschlagen hatte, aber hier schien es überall zu sein: auf dem Laken, den umher liegenden Tüchern und den Beinen ihrer Mutter, zwischen denen sich eine weitere Frau zu schaffen machte. Sie wich unwillkürlich ein kleines Stück zurück und obwohl ihr Instinkt ihr sagte, so schnell wie möglich aus dem Zimmer zu rennen, bewegte sie sich , wie von Geisterhand gezogen, langsam zum Kopfende des Bettes, aus dessen Richtung ein erneutes, diesmal jedoch fast unhörbares Stöhnen zu hören war. Als sie so nah an das Bett herangekommen war, dass sie das Kissen und das Haar ihrer Mutter berühren konnte, wandte diese plötzlich den Kopf in ihre Richtung und sah sie an. Ihr entfuhr ein kleiner Ächzlaut des Entsetzens und sie wich ein paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Zimmerwand stieß. Das Gesicht ihrer Mutter war so schrecklich blass, beinahe schon weiß, und wirkte fast durchscheinend. Unter ihren sonst so schönen Augen lagen schwarze Schatten, durch die sie riesig erschienen, aber der Ausdruck war dumpf und von der üblichen und so vertrauten Lebendigkeit nichts mehr zu sehen. Selbst ihre Lippen waren weiß, und als sie sich plötzlich öffneten, dachte sie, ihre Mutter wollte etwas sagen, doch es kam kein Ton heraus.
„Es hilft nichts, nichts hilft, verdammt noch mal….“ hörte sie plötzlich die Stimme der anderen Frau, die sich jetzt vor dem Bett aufrichtete und sich mit dem Handrücken den Schweiß aus dem Gesicht wischte, bevor sie in ihre Richtung blickte. „Verflucht, was macht denn das Kind hier?“ herrschte sie dann die Sklavin an, die gerade mit einer neuen Schale Wasser ins Zimmer eilte. „Bring sofort die Kleine hier raus und nimm das da mit.“ fügte sie mit einem Seitenblick auf ein blutiges Bündel hinzu, das am Fußende des Bettes lag.
Sie wollte nicht gehen, sie wollte bei ihrer Mutter bleiben, aber die Hand der Dienerin packte sie und zog sie aller Gegenwehr zum Trotz aus dem Zimmer. Sie waren bereits wieder im Atrium angekommen, als sie einen Blick auf das Bündel werfen konnte, das die Sklavin im anderen Arm hielt. Gebannt starrte sie auf das blutige Stoffhäufchen, und erst, als sie erkannte, dass das, was an dem einem Ende zu sehen war, ein winziger, bläulich verfärbter Fuß war, fing sie an zu schreien und hörte nicht mehr auf.
...
Serrana schrie noch, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte, und erst nachdem sie ganz langsam wieder in die Gegenwart zurückgefunden hatte, verstummte sie wieder und weinte stattdessen leise vor sich hin, während sie sich an Adulas Arm festklammerte, die ruhig neben ihrem Bett hocken blieb.