Glücklicherweise musste Serrana nicht allzu lang warten, denn nur wenige Augenblicke nach ihrer Ankunft im Tempel trafen auch Durmius Verus und der Pontifex Aurelius Corvinus ein. Als ihr alter Lehrer ihr nach der Begrüßung viel Glück wünschte, musste sie leicht schlucken, denn dies zeigte ihr mehr als alles andere, dass es nun wirklich ernst wurde mit dem Ende ihrer Ausbildung. Auf der anderen Seite strahlte er eine derartige Ruhe aus, dass sich ein wenig davon auch auf sie übertrug und ihr aufgeregter Herzschlag allmählich etwas ruhiger wurde. Den Pontifex hatte die Iunia seinerzeit zwar nur sehr kurz kennen gelernt und bei dieser Gelegenheit kaum ein Wort mit ihm gewechselt, dennoch war sie mehr als dankbar dafür, dass ihr sein Gesicht und seine Stimme dadurch schon ein wenig vertraut waren, und sie deshalb nicht, wie bei einem hohen Würdenträger sonst üblich, völlig eingeschüchtert war.
„Salve, Aurelius Corvinus.“ grüßte sie auch ihn mit der gebotenen Ehrfurcht und warf dann einen prüfenden Blick auf die in der Nähe wartenden ministri und Musikanten. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass alles an Ort und Stelle und bereit war, nickte sie dem Pontifex und Durmius Verus noch einmal zu, atmete einmal tief ein und aus und legte dann mit festen Schritten die letzten Meter bis zu dem vor dem Kultbild der Göttin errichteten Foculus zurück. Auf einen Blick von ihr setzten die tibicines ihre Flöten und die fidicines ihre Lauten an, ihre Musik würde Serrana durch den nun folgenden Opfervorgang begleiten.
Nachdem sie kurz das ein wenig strenge aber dennoch schöne Antlitz der Göttin betrachtet hatte, erhob sie die Arme mit zum Himmel gewandten Handflächen, legte den Kopf ein wenig in den Nacken und begann mit der Anrufung.
„O große und göttliche Diana, sei mir, deiner Dienerin, gnädig, wenn ihr dir heute ein Opfer darbringe.“
Ein ganz klein wenig zittrig klang ihre Stimme noch, aber jetzt, wo sie einmal begonnen hatte, spürte Serrana, wie ihre Nervosität allmählich nachließ. Sie machte einem der wartenden ministri ein Zeichen, und dieser trat sofort nach vorn, um ihr den Beutel mit dem Weihrauch zu reichen, in den die Iunia unter anderem auch Pinienharz und feine Zypressenspäne hatte mischen lassen. Nachdem sie einige Körner auf die glühenden Kohlen in den Stelen gestreut hatte, stieg sofort dichter Rauch auf, und durch den sich schnell verbreitenden frischen und holzigen Duft konnte sich Serrana fast vorstellen, sich nicht in einem Tempel sondern direkt in Dianas heiligem Hain zu befinden.
„O Diana, Göttin des Mondes, dessen Lauf Maß ist für unsere gesamte Lebenszeit, nimm diesen duftenden Weihrauch an und wache über die Tage und die Nächte dieser Stadt und seiner Bewohner".
Serrana trat wieder einen Schritt zurück, ließ sich von dem nächsten Jungen die Schale mit den Früchten reichen und hielt diese in die Höhe.
„O Diana, du Ernährerin und Beschützerin von Menschen und Tieren, nimm auch diese Früchte an, die ich dir bringe, und segne unsere Felder und unser Vieh, sowie das Wild in den Wäldern, auf dass sie allzeit fruchtbar sein mögen“
Sie stellte die Schale auf dem Foculus ab, und nahm dann die Patera mit dem Wein entgegen und hielt sie in die Höhe.
„O Diana, du Lebensspenderin und Göttin der Fruchtbarkeit, nimm diesen Wein entgegen und beschütze die Mädchen und Frauen dieser Stadt und dieses Reiches und steh ihnen besonders in der Stunde ihrer Niederkunft hilfreich zur Seite.“
Nachdem sie den ersten Tropfen auf den Boden geschüttet hatte, goss sie den Rest des Weins vorsichtig in die auf dem Foculus bereitstehende Schale und gab die Patera dann an den Jungen zurück, bevor sie das Voropfer mit einer Drehung nach rechts beendete.
Den ersten Teil der Prüfung hatte sie nun hinter sich gebracht, aber noch wartete das überaus wichtige blutige Opfer auf sie. Serrana warf einen kurzen Blick auf die übrigen Anwesenden und trat in Begleitung der ministri, Musikanten und sonstigen Helfer auf den Tempel-Vorplatz hinaus, wo bereits das von ihr ausgesuchte, weibliche Lamm am Altar auf sie wartete. Es war mit roten Bändern feierlich geschmückt worden und seine kleinen Hufe glänzten goldfarben in der Wintersonne. Wenn man genauer hinsah, konnte man erkennen, dass das Tier angebunden war, aber es wirkte ohnehin sehr ruhig, was Serrana erleichtert aufatmen ließ.
Nachdem alle Beteiligten noch einmal mit Wasser besprengt und dadurch symbolisch gereinigt worden waren, erklang das „favete linguis“ des Herolds und auf dem Platz verstummte auch das letzte leise Gemurmel. Serrana berührte leicht den Altar, deutete auf das Lamm und erhob dann wieder die Arme mit gen Himmel gewandten Handflächen.
„O Diana, große Göttin und Tochter des allmächtigen Iupiter! Sieh gnädig auf uns herab, denn dieses Lamm, das ich dir bringe, ist dir geweiht, auf dass du uns, deine Diener und diese Stadt, segnen mögest.“
Wie klar und deutlich ihre Stimme mittlerweile klang! Der Rest ihrer Nervosität hatte sich scheinbar mit dem Weihrauch in Luft aufgelöst, und Serrana fühlte nur noch unbändige Freude und Stolz darüber, dieses spezielle Opfer durchführen zu dürfen.
Sie wusch sich mit dem Wasser in einer ihr gereichten Schale die Hände und trocknete diese dann mit dem mallium latum sorgfältig ab. Dann brachte ihr einer der Opferdiener die mola salsa, mit der Serrana das kleine Lamm ganz sanft und vorsichtig einrieb. Als nächstes nahm sie das Opfermesser in die Hand und fuhr langsam vom flaumigen Kopf bis zur Spitze des kleinen Stummelschwanzes über das Fell des Tieres, das nach wie vor keine Anzeichen von Panik erkennen ließ und ganz ruhig und friedlich stehen blieb.
Serrana warf einen letzten Blick auf das Tier, atmete noch einmal ein und aus und gab das Messer dann an den popa zurück. Als dieser „Agone?“ fragte, antwortete sie mit einem lauten und klaren „Age“, woraufhin der cultrarius dem Lamm mit einem schnellen Schnitt die Kehle durchtrennte. Als das kleine Tier fast unmittelbar darauf zusammenbrach und hellrotes Blut aus der Wunde hervorsprudelte, biss sich die Iunia kurz auf die Unterlippe, aber dann war der Teil des Opfers, vor dem sie die meiste Angst gehabt hatte, auch schon wieder vorbei. Serrana wartete geduldig, bis das Opfertier ausgeblutet war und kein weiteres Blut mehr in der Öffnung am Boden versickerte. Nun war es Zeit für die Eingeweidenschau, und die Iunia wartete mit neu aufkommender Nervosität auf den Priester, der die Organe des toten Lamms entnehmen und prüfen würde. Hoffentlich war alles gut gegangen, und die Göttin nahm ihr Opfer an…