Beiträge von Marcus Germanicus Pius

    Er hoffte es nicht, dass andere Kinder schonmal in der Castra gewesen waren? Der Junge legte die Stirn in Falten. Urplötzlich machte er sich Sorgen um seinen freundlichen Praetorianer.


    “Glaubst du, Valerian wird Ärger bekommen?“


    Nochmal wanderte der Blick des Knaben zu der Narbe, dann grinste er den Senator an.


    “Oh ja! Ich hab nur am Anfang etwas geweint, aber dann hat er Medicus gesagt, dass ich sehr tapfer bin und dann hat er mir zur Belohnung ein großes Stück Honigkuchen gegeben!“ Man bekam den Eindruck, dass Schmerzen was Tolles waren. Im Grunde konnte er sich an die Schmerzen gar nicht mehr so wirklich erinnern.
    Gleich wurde er wieder ernst und nickte beipflichtend.


    “Kannst du mir sagen, wie ich das mache? Valerian hat gesagt, die nächsten zehn Wochen soll ich laufen und Liegestütz machen. Wir werden auch zusammen ein Holzgladius schnitzen. Er hat gesagt, wenn ich geduldig bin, werden wir dann auch damit üben!“ Ungeduldig wackelte der Junge auf seinem Sitz hin und her. Irgendwie fiel es ihm gerade sehr schwer, einen Groll gegen Valerian zu hegen.

    Hausarrest.


    Es gab Dinge, die ein Kind zermürben konnten. Dazu gehörten nicht tagelange Regenfälle, Finanzkrisen in der Familie oder die Aussicht auf eine Prüfung. Kein Kind war für diese Art von schwarzen Zeiten empfänglich. Nein, bei einem Kind bedurfte es weitaus schwerwiegender Vorfälle, damit es in Mut- und Lustlosigkeit verfiel.


    In Marcus Fall hieß der schwerwiegende Vorfall Hausarrest. Viel zu lange durfte er keinen Fuß vor die Tür setzen und sich immer nur innerhalb der Mauern der Casa Germanica bewegen. Es fiel ihm schwer, sich an das Verbot zu halten. Weniger, wenn Bia ihn streng beaufsichtigte, wenn er lesen oder schreiben übte und auch nicht sonderlich, wenn Vitale ihm eine Geschichte erzählte, in der es um ferne Länder und deren Sitten im Vergleich zu den römischen ging. Es waren die kurzen Momente, die er unbeaufsichtigt war, die ihm Trübsal blasen ließen, denn auf seinen Schultern saßen zwei kleine Figuren, die sich stets im Streit begegneten. Die eine von ihnen wollte Marcus warnen, bloß nicht auf den Gedanken zu kommen das Verbot, die Casa zu verlassen, zu übergehen. Die andere von ihnen lockte mit dem nahenden Frühling, der milder werdenden Luft, den singenden Vögeln und all der guten Laune, die ihm entging. Sie sprachen mit piepsigen Stimmen immerzu gegeneinander und versuchten stets die andere auszustechen. Die eine hieß Pieta, die andere Discordia.


    Marcus hatte seine Mühe dem sympathische Drängen letzterer zu widerstehen. Doch noch waren der Ärger, die vielen strengen Gespräche und die auf ihm ruhenden finsteren Blicke zu gegenwärtig, als dass er ihr leichtfertig gefolgt wäre. Mit Pietas piepsendem Lob im Ohr, nahm der Knabe das bunte Schneckenhaus aus seiner Tasche und betrachtete es kurz. Vielleicht würde er ja fröhlicher werden, wenn er sich etwas mehr Mühe gab?


    Kaum gedacht, hatte sich das Schneckenhaus in eine Sklavin verwandelt, die zum Mercatus geschickt worden war, um einzukaufen. Sie hoppste beschwingt an den Wänden entlang. “Lalalala, ich gehe jetzt zum Mercatus und kaufe viele schöne Dinge. Mal sehen, was wir gebrauchen können. Hmmmm. Mehl und Eier. Und etwas Stoff, um für Sabina ein neues Kleid zu machen. Für die Senatoren vieeeel Wein und Schriftrollen. Oh, und für Calvena eine neue Bürste, damit ihr Haar schön glänzt. Und ein paar Blümchen, weil sie sie so gerne mag.“
    Die Szenerie wurde für Marcus lebendig, während er mit piepsig verstellter Stimme (ähnlich der der beiden um seinen Willen streitenden Göttinnen auf seinen Schultern, von denen die eine zufrieden beobachtete, was der Knabe nun tat, und die andere schmollte).
    Die Türen stellten in Marcus Spiel die Läden dar. Beim ersten unterhielt er sich mit einem kloßrunden Mann, der seine billige Ware zu Wucherpreisen darbot. “Hm. Nein, nein, nein. Die Senatoren werden mich köpfen, wenn ich so viel Geld ausgebe,“ piepste die Schneckenhaussklavin daher empört und stemmte die Arme in die Seiten. “Hast du denn nicht etwas Schöneres für weniger Geld?“


    Weil dem nicht so war, steuerte sie den nächsten Stand an. Um die ausgelegte Ware besser sehen zu können, sprang sie schwungvoll auf die Klinke und fiel, als diese nachgab, zu Boden. “Ooooh nein, ein Abgrund! Oh Schreck, das ist ja der tarpeische Felsen! Ich falle! Neeeeein, so rettet mich doch, ich habe immer ehrlich und treu gedieeeeeeeent…..“ Das Schneckenhaus fiel, während die Tür sich wie von Geisterhand öffnete, und landete mit einem “Brcbuqrschtrprm!“ auf dem Boden. Das Ende der imaginären Sklavin. Die Ärmste.


    Als Marcus sich wieder aufrichtete, um noch einmal neu anzufangen, bemerkte er, dass die Tür sich geöffnet hatte. Sein Spiel vom ersten Tag hier kam ihm in den Sinn und auch, dass er sich immer noch nicht zur Gänze in der Casa umgesehen hatte. Nun wusste er, was er tun konnte. Und er musste nicht einmal die Casa verlassen. Entschlossen trat er ein und sah sich in dem Zimmer um.

    Darüber nachdenkend, dass er so viele verschiedene Blumen gar nicht kannte, wie Sabina aufzählte, bemerkte der Junge, wie sich die Hand des Mädchens in seine schob. Er sah kurz zu ihr und wollte schon trotzig den Kopf schütteln, weil er Valerian niemals mögen würde, als Vena ihm über den Kopf strich und sein Blick somit unwillkürlich zu ihr zurückkehrte.


    Alles, was sie sagte, war ihm klar. Er nickte, um ihr zu zeigen, dass er wusste, dass sie ja nicht aus der Welt war und bestimmt niemanden in der Casa Germanica vergessen würde. Das war eben nicht das Problem. Das richtige Problem sprach sie zuletzt an. Es hieß Valerian.
    Sollte er jetzt damit herausrücken? Jetzt, wo Sabina ihn so lieb tröstete und Calvena sich darum bemühte, seiner Cousine und ihm einen schönen Nachmittag zu bereiten? Nein. Er wollte weder ihnen und natürlich auch Vitale und zuletzt sich selbst nicht den Tag verderben.


    Ein stummer Marcus. So einer war bemerkenswert.


    Marcus zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und nickte zögerlich, ergriff dann Calvenas Hand und ließ sich von ihr und Vitale durch das volle Rom leiten. Dabei unterhielten sie sich die ganze Zeit über die Häuser und verknüpften das mit dem Spiel „Ich sehe etwas, das du nicht siehst“, wodurch es den Kindern nicht müßig wurde, gesittet an der Hand eines Erwachsenen zu gehen und Dinge über ihre Stadt zu lernen.


    Mindestens genauso bemerkenswert: Das Vierergespann erreichte den Circus ohne Vorfälle. Die Kinder waren noch vollzählig, die Erwachsenen hatten ihre Nerven beisammen und auch Kollateralschäden gingen gegen Null.

    Marcus nickte. Vielleicht galt es für ihn noch zu erlernen, was für Themen man besser mit Frauen und was für welche hingegen man besser mit Männern besprach. Alles, was sich um das Soldatsein drehte, war bei letzteren wohl besser aufgehoben. Dennoch kam er nicht umhin den Senatoren misstrauisch anzusehen.


    “Heißt das, dass schon viele Jungen wie ich in der Castra gewesen sind?“ Das schloss er aus Sedulus Satz, dass Frauen ihn nicht zur und schon gar nicht in die Castra bringen würden.


    Oh je. Jetzt war alles durcheinander gekommen und Pius bemerkte, dass das Kuddelmuddel seiner Fragen und Antworten nicht unbedingt zu seinem Vorteil verhalfen. Er sah den immer finsterer dreinblickenden Sedulus an und war sich einen Moment lang gar nicht sicher, ob er jetzt besser den Mund hielt oder antwortete. Letztlich war es der Mund selbst, der einfach losplapperte und ihm die Entscheidung abnahm.


    “Aaaaalso: Valerian war bei der Legion und hat eine ganz schön lange Narbe am Arm. Er hat mit einem Germanen gekämpft. Er hat sie mir gezeigt! Ich habe auch eine Narbe. Hier.“ Ein Kinderbein reckte sich in die Höhe und die Schienbeinnarbe wurde präsentiert. “Die habe ich mir im Kampf mit einem anderen Jungen geholt. Im Sand steckte eine Tonscheibe und die hat mir das ganze Bein aufgeratscht. Es war üüüüberall Blut!“ Das Bein versteckte sich wieder. “Und deshalb wollte ich wissen, ob du auch Narben hast, weil du bei den Cohortes Urbanae warst. Aber du musst mir die nicht zeigen, das macht mir nichts.“ Kurz erlaubte er sich nachzudenken. “Ich würde gerne auch zu den Legionen gehen.“


    “Dann mache ich keinen Sport.“ Etwas traurig war er schon, dass Kirschkernweitspucken nicht zählte. Immerhin war er richtig gut darin. Doch das zeigte er Sedulus nicht, denn er war jetzt wieder etwas vorsichtiger.

    Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten und laut vor sich hingeplappert, als Sabina ihre Vorfreude auf Calvenas Hochzeit kundtat. Sein Gesichtsausdruck wurde noch düsterer und er tat so, als hätte Sabina nichts über Valerian gesagt. Er sah mühevoll schweigend von Calvena zu Vitale. Erstere wunderte sich, kam auf seine Augenhöhe und wollte wissen, was ihn bekümmerte. “Nichts,“ sagte er reflexartig und ziemlich bedrückt, wobei er seinen Blick senkte, damit Calvena nicht sehen konnte, dass er log (Paullus sagte, das konnte man Marcus an seinem Blick ansehen). Dabei brannte ihm die Wahrheit sowas von auf der Zunge, dass er eigentlich gar nicht lügen wollte. “Ich möchte nur nicht immerzu darüber reden, dass du bald ausziehst.“ Ein Teil der Wahrheit, immerhin. Immer noch sah Marcus nicht auf, sondern schräg an Vena vorbei auf den Boden. Seine Wut hatte er einmal mehr den Göttern sei Dank unter Kontrolle, was vielleicht auch an dem schmerzenden Fuß lag, den er deutlich spürte.


    Sabinas Vorschlag, die Tiergehege des Circus zu besuchen, fand nicht nur bei Calvena und Vitale Gehör, sondern auch besonders bei dem Knaben, der zum einen für einen Themenwechsel dankbar war und natürlich mit Freuden den Circus besuchen sollte, nachdem er nun wusste, was dort für seltene Tiere untergestelt waren. Schon wieder munterer nickte er schnell, als diverse Forderungen an die beiden Kinder gestellt wurden. Mit dem Gedanken, dass der Ausflug in Arbeit ausufern würde, sah er Sabina mit einem Grinsen an. Schwupps waren Arbeit und der schmerzende Fuß vergessen. Er tat sogar einen freudigen Hoppser. “Au ja! Das machen wir, stimmt’s!? Wir werden ganz artig sein!“

    Naja, so viel Ärger hatte es ja nun noch nicht gegeben. Ein bisschen Geschrei und eine Ohrfeige von ia, ein paar mahnende Worte von Paullus und das Zitat hierher… Ginge schlimmer.


    “Calvena und Sabina habe ich es gesagt. Bia auch. Naja, und ich dachte, du hast viel zu viel zu tun.“ Außerdem machte es doch viel mehr Spaß die Dinge ganz allein zu entdecken und ohne einen Erwachsenen dabei, der einen andauernd ermahnte und den man stets um Erlaubnis bitten musste. Aber das ließ er Sedulus‘ Ohren besser nicht hören.


    Der Junge hob die Augenbrauen und runzelte dann die Stirn. Die Übungen brauchte er nicht zeigen das war schade, aber nun gut. “Ich weiß noch nicht.“ Nachdenklich musterte er Sedulus und legte dazu einen Finger an seine Lippen. “Wie lang ist denn deine längste Narbe?“ Wie er jetzt darauf kam? Tja, alles hatte seinen Sinn.


    Schließlich machte er sich noch an die Antwort der letzten von Sedulus' Fragen. Er zuckte etwas unsicher mit den Schultern. "Zählt Kirschkernweitspucken?" Was dann wohl so viel bedeutete wie Nein, ich treibe keinen Sport.

    Gerade freute sich Marcus auf die Gelegenheit, die Gehege im Circus zu besuchen, da wurde Calvenas Hochzeit angesprochen. Ein Thema, das dem kleinen Marcus die Laune verderben konnte. Er war der Meinung, dass er ihr Freund und für ihren Verlobten kein Platz sein sollte. Er empfand ganz seltsam für sie. Sehr besitzergreifend, als wäre sie ein besonders wertvoller Schatz, den es zu behüten galt und der gleichsam vielleicht am meisten Einfluss auf ihn nehmen konnte.


    Mit düsterer Miene sah der Junge weg und stand auf. Den nun doch ziemlich schmerzenden Fuß ignorierend, als er auftrat, trat er ein paar Schritte von der jungen, ahnungslosen Frau weg und widmete sich Sabina, während er sich den frisch gewaschenen Arm an seinem Mantel abtrocknete. “Ich würde gerne mal einen echten Germanen sehen“ sagte er tonlos und sah zuerst Vitale und kurz Calvena an. “Wollen wir weiter gehen?“

    Alle waren ruhig. Sie sahen entweder den Altar an oder hatten die Augen geschlossen, mit ihren Gedanken weit fort von hier. Marcus sah von einem zum anderen und konnte nicht umhin sich unwohl zu fühlen. Er fand es sehr unnatürlich sie alle in solch regungsloser Haltung zu sehen. Selbst Sabina war still. Sie sah etwas traurig aus.


    Er war nicht traurig. Seine Mutter hatte er nie kennengelernt und seinen Vater auch nicht so richtig. Er war gegangen, bevor die Erinnerungen an ihn in Marcus‘ Kopf lebendig blieben.

    Mit großen Augen sah er zu Calvena auf, die ihm kurz aufmunternd über den Schopf strich. An Bias hagere Gestalt gepresst, die entweder Mitleid mit ihm hatte, sich weder an Mutter noch an Vater erinnern zu können, oder ihn nur davon abhalten wollte, die besinnliche Ruhe zu stören, blieb er still und sah zu den Masken, die im flackernden Licht gespenstisch zuckten. In seiner Fantasie wurden sie lebendig.

    “Hmmm. Aha. Ach so,“ kommentierte Pius den knappen Lebenslauf Sedulus‘. Germanien war ihm ein Begriff; er konnte auch ungefähr sagen, wo es lag. Bei Achaia war das schon etwas schwerer. Die anderen beiden Provinzen hatte er vielleicht mal namentlich gehört, doch sonst wusste er damit nichts anzufangen.


    Er zuckte mit den Schultern. “Dann hätten wir dieses Gespräch früher haben sollen,“ meinte er belustigt, aber auch interessiert und ebenso genau durchdacht im Bezug auf Sedulus Verbindungen zu den Cohortes Urbanae. Er hatte ja nicht ahnen können, dass die Familie so viele Verbindungen zum Militär hatte. So weit dachte ein Kind nicht.
    “Ich war ein bisschen neugierig und wollte ihre Schwerter von nahe sehen.“ Er war ja nicht mit dem Vorsatz, zur Castra zu gelangen, einem Trupp gefolgt. “Ich möchte ein Soldat werden, weißt du? Ein so guter, dass ich Praetorianer werden darf. Wie Valerian! Daher werde ich ab heute auch jeden Tag üben. Valerian hat gesagt, ich soll zehn Runden um den Hortus laufen und nach zwei Runden fünf Liegestütz machen. Dann werde ich ganz stark. Soll ich dir zeigen, wie das geht? Ich habe die Soldaten ganz genau beobachtet, wie sie Liegestütze gemacht haben.“

    Der Junge zuckte mit den Schulern. Über ein Lieblingstier hatte er noch nie nachgedacht. “Spinnen vielleicht?“ antwortete er dann aber und sah zu Sabina, die von den Tieren des Circus berichtete. Seine Augen wurden groß. Elefanten und Tiger hatten sie da sogar? “Au ja! Ist das nächste Mal bald?“ Mit einem Nicken pflichtete er dann dem Mädchen bei. Den Löwen von Vitale würde er auch unbedingt sehen wollen. Dann sah er Calvena an. “Ich habe eine Idee! Kaufst du dir die Acta? Dann könnten Sabina und ich lesen üben. An Vitales Artikel!“
    “Warum darf sie denn keinen Hund haben?“ wollte er dann noch wissen. Schließlich sah er Sabina an. Neid kam in ihm auf. Er wusste gar nicht, was toller war. Ein eigenes Pferd oder nach Germanien reisen zu dürfen. “Tooooll! Du darfst dir wirklich irgendein Pferd aussuchen?!“

    Wieder ein Begriff, mit dem er nicht viel anzufangen wusste. Erzieher? Senatoren hatten eine ganz schön anstrengende Sprache, befand Marcus. Das lag wohl daran, dass sie sehr schlau waren.
    Aber er selbst war auch schlau. Er hatte einen Plan ausgetüftelt und hielt sich nun an diesem fest.


    “Beides. Hast du denn zuerst woanders gewohnt, als du nach Rom gekommen bist?“ Die Neugier des Kindes war mal wieder geweckt. Sie hatte sich schon häufig als Mittel zum Zweck erwiesen, weshalb nicht auch diesmal?


    Alles andere, was die Sklaverei und Bia anging, ließ Marcus bewusst unter den Tisch fallen. Wenn der Senator vergessen sollte, ihn zu bestrafen, dann war es wohl besser, wenn sie weder über Bia noch über Gefahren für allein herumirrende Kinder in Rom redeten.

    Er nickte, wohl etwas zerknirscht dreinschauend. Vielleicht musste er das nächste Mal besser aufpassen und nicht auf solch dumme Ideen kommen, wie auf die von vorhin im Baum.


    “Der Löwe war riesig! Er hatte Haare wie Leavina, wenn sie gerade geschlafen hat.“ Marcus kicherte und lauschte dann den Erzählungen Vitales mit Begeisterung und dann Calvenas Einwänden. Bei dem, wo sie fragte, ob er vor hatte den Löwen wie ein Haustier zu halten, musste der Knabe erneut kichern. Die Vorstellung war lustig. Anstatt einer Katze einen Löwen zu Hause zu haben.

    “Warum fällt es auf sie zurück?“ Ein komischer Ausdruck. Für jemanden, der sich alles bildlich vorstellte, eine seltsame Kiste. Er runzelte die Stirn, weil er es nicht verstand. “Sie hat doch keine Schuld.“


    Er schüttelte den Kopf. “Sonst muss ich gleich pinkeln.“ Er grinste unverfroren und schlenkerte wieder mit den Füßen. Der drohende Finger machte nicht so viel Eindruck auf ihn.


    “Wie lange wohnst du denn schon hier?“ ergriff der Junge die Gelegenheit beim Schopfe, auf ein anderes Thema umzulenken. Aber Sedulus mahnte ihn sogleich und Marcus, irritiert über den Ausdruck Gesokse (den er schon wieder nicht verstan)d, dachte nach. Vielleicht war er ja wirklich etwas zu leichtfertig mit seiner eigenen Sicherheit umgegangen.


    “Warum würde das jemand tun? Weil er habgierig ist?“ Das Wort hatte er von Valerian gelernt. “Ich möchte kein Sklave werden. In Ostia hat ein Mann einen Sklaven auspeitschen lassen. Ich durfte nicht zusehen, aber gehört habe ich es.“ Die Schreie hatte man bestimmt überall gehört. “Wird Bia jetzt wehgetan werden?“ fragte er besogt.

    “Ich dachte, das hat man in ganz Rom gehört, als sie brüllte, dass ein Monat Hausarrest erst der Anfang ist.“ Er ließ etwas die Schultern hängen, um zu verdeutlichen, in was für einer furchtbaren Situation er sich doch befand.


    Er nahm den Becher, trank den Becher mit großen Schlücken leer, stellte ihn weg und fuhr sich mit einem Zipfel seiner Kleidung über den Mund, um Tropfen wegzuwischen. Hätte es schon so etwas wie Wanduhren gegeben, hätte Marcus jedes Ticken des Sekundenzeigers deutlich vernommen. Die Stille zog sich schier endlos, bis er einmal tief Luft holte.


    “Na gut…“ fuhr er dann endlich fort. “ Die Maus war schnell und wollte sich nicht fangen lassen. Immer, wenn ich mich angeschlichen hatte, schreckte sie auf, kurz bevor ich nach ihr greifen konnte. Und dann ist sie auch noch in einem Loch in einer Mauer verschwunden. Da habe ich nicht durch gepasst, ich bin ja schon groß. Also habe ich mir einen Durchgang gesucht. Ein paar Männer unterhielten sich mit einem Mann auf einem Wagen und haben gar nicht bemerkt, dass ich hinter ihrem Rücken entland geschlichen bin.“ Ein gerissenes Grinsen stahl sich auf das Kindergesicht, verschwand aber ganz, ganz schnell wieder. “Dann habe ich einen Trupp Soldati gesehen und bin ihnen nachgeschlichen. Die waren eh viel interessanter als die blöde Maus. Sie trugen echte Schwerter an ihren Seiten! Aber sie waren ganz schön schnell und so konnte ich sie nicht richtig einholen. Außerdem habe ich mich nicht getraut einen von ihnen anzusprechen. Plötzlich stand ich vor einer großen Mauer und dann kam Quintilius! Er hat mich gefragt, was ich dort zu suchen habe und ich hab ihm geantwortet, dass ich Soldat werden möchte. Wahrscheinlich hat er gedacht, dass ich ein guter Soldat bin, denn dann hat er mir eine Abmachung vorgeschlagen. Er hat gesagt, wenn ich es zulasse, dass er mich nach Hause begleitet, dann darf ich den Exerzierplatz besuchen! Nach genauem Nachdenken habe ich mich dazu entschieden, ihm zu erlauben mich begleiten zu dürfen. Dann nahm er mich mit auf den Exerzierplatz! Ich habe mich gut benommen und niemanden gestört. Und dann sind wir nach Hause gekommen. Ich hätte den Weg auch allein zurück gefunden, aber Quintilius war sehr freundlich zu mir. Er ist ein netter Mann.“


    Das leuchten in den Kinderaugen war nicht zu übersehen. Aber jetzt, wo alles erzählt war, sah der Junge mit einem Mal unsicher aus.

    Marcus nickte bedröppelt. Nicht mehr alleine draußen spielen? Das war ja keine rosige Aussicht.


    “Ich will mich ja an die Regeln halten. Aber manchmal… manchmal ist das soooo schwer. Außerdem habe ich sooo viele Kinder gesehen, die draußen alleine gespielt haben. Warum dürfen denn die das, wenn es hier so gefährliche Menschen gibt?“ Er ließ sich drücken, erwiderte die aufmunternde Liebkosung und legte schließlich besänftigt das Kissen beiseite. Dann stand er vor Paullus.


    “Ich hoffe, der Senator wird nicht so doll mit dir meckern.“ So ging er in Sedulus Officum.

    Zuerst war Marcus nicht gewillt seinem Bruder zu antworten, sondern blickte auf das Kissen in seinen Händen. Dann jedoch ging er zu ihm und setzte sich neben ihn auf das Bett. Immer noch sah er das Kissen an.


    “Manche Regeln sind sehr doof,“ kommentierte er dann leise und fuhr mit dem Finger das Webmuster des Stoffes nach. “Der Praetorianer hat gesagt, dass ich zu einer sehr bedeutenden Familie gehöre und es viele Menschen gibt, die den Senatoren etwas auswischen wollen und dass das eine Gefahr für mich ist. Heißt denn das, dass ich nie-nie-wieder alleine draußen spielen darf?“

    Dieser Erwachsene hatte Geduld. Marcus fand es schwerer, geduldige Menschen an der Nase herumzuführen, als welche, die sofort und sogleich auf den Punkt kommen wollten. Bei den letzteren gab es meistens nur schwarz oder weiß, nur richtig oder falsch. Bei den anderen musste man sich eine Taktik zurechtlegen und das bedurfte Mut, Geduld und ein aufmerksames Auge.
    Allerdings hatte er sich noch nie mit einem Senatoren auf diese Art und Weise unterhalten. Vielleicht war es keine gute Idee. Vielleicht sollte er erst einmal die Konsequenzen ausloten.


    “Hmmmm,“ machte der Bub nachdenklich. “Wenn ich dir erzähle, wie ich ihn kennengelernt habe, wirst du mich dann bestrafen? Ich habe schon einen Monat Hausarrest.“ Der Junge zerknirschte das Gesicht theatralisch und stoppte das Baumeln der Beine.

    Er wurde mit strengem Blick gemessen. Augenblicklich kniff auch Marcus die Augenbrauen etwas zusammen, setzte sich dann aber. Seine Beine baumelten in der Luft und er betrachtete kurz den Becher, der ihm hingestellt wurde. Auch wenn er etwas grimmig dreinschaute, war er einfach zu unsicher, was jetzt kommen würde, um zu trinken.


    So sah er Sedulus auch etwas verwirrt an, als dieser ihn offenbar darum bat, dass er ihm von seinem Ausflug erzählte. Ehrlich? Na gut.


    “ Bia hat mit Sabina Schreiben geübt und ich sollte nicht stören. Keiner hatte Zeit oder Lust mit mir zu spielen. Da bin ich nach draußen gegangen. Der Ianitor war nicht da, sonst hätte ich ihm gesagt, dass ich draußen spielen dar…. möchte. Zuerst habe ich ein bisschen Kieselweitspucken geübt. Aber ohne Gegner ist das doof. Dann habe ich ein Käferrennen veranstaltet. Ein dicker brauner hat gewonnen! Und dann habe ich noch versucht eine Maus zu fangen.“ Ob er dem Senator einfach noch mehr von solchen Spielen erzählte? Fand er die interessant? Vielleicht konnte er ja so darum herumkommen, von seinem Ausflug zu berichten…

    Nach dem Gespräch mit seinem Bruder in seinem Cubiculum war der kleine Germanicus weitestgehend besänftigt. Das unfreiwillige Familienzusammentreffen im Atrium nach seiner Rückkehr lag beinahe eine Stunde zurück und der Schrecken, den es bei Pius hinterlassen hatte, hatte zwar noch nicht wieder von dem Kind losgelassen, war jedoch nicht mehr ganz so übermächtig wie vorhin noch.


    Paullus hatte Marcus gedrängt, bei Sedulus vorstellig zu werden. Einen Senator lässt man nicht warten. Noch bevor er also irgendwen in diesem Hause wiedergesehen hatte, tapste er zu Sedulus' Officum.
    Wer seinen Mut beobachtete, konnte erkennen, dass er an der Türe innehielt. Zu unsicher war er, was ihn nun erwarten würde. Ermahnungen? Geschrei? Prügel? Strafen?


    Immerhin erinnerte er sich an eine der goldenen Hausregeln und klopfte an, bevor er eintrat. Dass man weithin auf eine Einladung wartete, ehe man eintrat, berücksichtigte er jedoch nicht, sondern steckte einfach den dunkelhaarigen Schopf in das Officum, um nachzusehen, ob Sedulus da war.

    Mit den Kissen in den Händen sah Marcus nicht auf, als er eine Stimme hörte, die um Einlass bat. “Wenn du auch meckern möchtest, nein!“ entgegnete er impulsiv, wenngleich er sich geschmeichelt fühlte, dass jemand mal überhaupt nachfragte, ob er eintreten durfte und nicht gleich mit der Tür ins Zimmer fiel.


    Auf seinen Bruder war er gar nicht wütend. Dennoch sah es gerade für ihn aus, als hätte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen. Fast alle Menschen, die in seinem Leben eine Rolle spielten, waren gerade dort unten gewesen und hatten sich der eine mehr, der andere weniger daran beteiligt, ihn fertig zu machen.
    Mit nur wenigen Ausnahmen. Calvena und Paullus hatten nicht gemeckert. Der Praetorianer auch, aber wie er nun zu ihm stand, musste Marcus sich erst noch überlegen. Auch über Calvena musste er erst noch mal nachdenken. Aber letztlich hatte sein Bruder zu ihm gehalten und das beschwichtigte den kleinen Bock, sodass er das Kissen vorerst nicht weiter maltretierte.