Hausarrest.
Es gab Dinge, die ein Kind zermürben konnten. Dazu gehörten nicht tagelange Regenfälle, Finanzkrisen in der Familie oder die Aussicht auf eine Prüfung. Kein Kind war für diese Art von schwarzen Zeiten empfänglich. Nein, bei einem Kind bedurfte es weitaus schwerwiegender Vorfälle, damit es in Mut- und Lustlosigkeit verfiel.
In Marcus Fall hieß der schwerwiegende Vorfall Hausarrest. Viel zu lange durfte er keinen Fuß vor die Tür setzen und sich immer nur innerhalb der Mauern der Casa Germanica bewegen. Es fiel ihm schwer, sich an das Verbot zu halten. Weniger, wenn Bia ihn streng beaufsichtigte, wenn er lesen oder schreiben übte und auch nicht sonderlich, wenn Vitale ihm eine Geschichte erzählte, in der es um ferne Länder und deren Sitten im Vergleich zu den römischen ging. Es waren die kurzen Momente, die er unbeaufsichtigt war, die ihm Trübsal blasen ließen, denn auf seinen Schultern saßen zwei kleine Figuren, die sich stets im Streit begegneten. Die eine von ihnen wollte Marcus warnen, bloß nicht auf den Gedanken zu kommen das Verbot, die Casa zu verlassen, zu übergehen. Die andere von ihnen lockte mit dem nahenden Frühling, der milder werdenden Luft, den singenden Vögeln und all der guten Laune, die ihm entging. Sie sprachen mit piepsigen Stimmen immerzu gegeneinander und versuchten stets die andere auszustechen. Die eine hieß Pieta, die andere Discordia.
Marcus hatte seine Mühe dem sympathische Drängen letzterer zu widerstehen. Doch noch waren der Ärger, die vielen strengen Gespräche und die auf ihm ruhenden finsteren Blicke zu gegenwärtig, als dass er ihr leichtfertig gefolgt wäre. Mit Pietas piepsendem Lob im Ohr, nahm der Knabe das bunte Schneckenhaus aus seiner Tasche und betrachtete es kurz. Vielleicht würde er ja fröhlicher werden, wenn er sich etwas mehr Mühe gab?
Kaum gedacht, hatte sich das Schneckenhaus in eine Sklavin verwandelt, die zum Mercatus geschickt worden war, um einzukaufen. Sie hoppste beschwingt an den Wänden entlang. “Lalalala, ich gehe jetzt zum Mercatus und kaufe viele schöne Dinge. Mal sehen, was wir gebrauchen können. Hmmmm. Mehl und Eier. Und etwas Stoff, um für Sabina ein neues Kleid zu machen. Für die Senatoren vieeeel Wein und Schriftrollen. Oh, und für Calvena eine neue Bürste, damit ihr Haar schön glänzt. Und ein paar Blümchen, weil sie sie so gerne mag.“
Die Szenerie wurde für Marcus lebendig, während er mit piepsig verstellter Stimme (ähnlich der der beiden um seinen Willen streitenden Göttinnen auf seinen Schultern, von denen die eine zufrieden beobachtete, was der Knabe nun tat, und die andere schmollte).
Die Türen stellten in Marcus Spiel die Läden dar. Beim ersten unterhielt er sich mit einem kloßrunden Mann, der seine billige Ware zu Wucherpreisen darbot. “Hm. Nein, nein, nein. Die Senatoren werden mich köpfen, wenn ich so viel Geld ausgebe,“ piepste die Schneckenhaussklavin daher empört und stemmte die Arme in die Seiten. “Hast du denn nicht etwas Schöneres für weniger Geld?“
Weil dem nicht so war, steuerte sie den nächsten Stand an. Um die ausgelegte Ware besser sehen zu können, sprang sie schwungvoll auf die Klinke und fiel, als diese nachgab, zu Boden. “Ooooh nein, ein Abgrund! Oh Schreck, das ist ja der tarpeische Felsen! Ich falle! Neeeeein, so rettet mich doch, ich habe immer ehrlich und treu gedieeeeeeeent…..“ Das Schneckenhaus fiel, während die Tür sich wie von Geisterhand öffnete, und landete mit einem “Brcbuqrschtrprm!“ auf dem Boden. Das Ende der imaginären Sklavin. Die Ärmste.
Als Marcus sich wieder aufrichtete, um noch einmal neu anzufangen, bemerkte er, dass die Tür sich geöffnet hatte. Sein Spiel vom ersten Tag hier kam ihm in den Sinn und auch, dass er sich immer noch nicht zur Gänze in der Casa umgesehen hatte. Nun wusste er, was er tun konnte. Und er musste nicht einmal die Casa verlassen. Entschlossen trat er ein und sah sich in dem Zimmer um.