Wieder war sie hier, durchschritt den schweißgetränkten Staub, hörte die Rufe der Männer um sich herum, die unter dem nur allzu oft mit Wolken bedeckten Himmel Germanias ihre Pflichten taten.
Das Castellum. Allein das Wort hinter ihrer Stirn zu formen, stürzte sie hinein in einen Sturm aus Gefühlen, Cretica hasste es; hasste es mit der Inbrunst eines zutiefst verwundeten Herzens, das keine Vernunft mehr kannte. Und sie hasste dieses Land mit seinen grünen Wäldern, den saftigen Wiesen, den Hügeln. Das Castell dafür, dass es ihren Ehemann hierher gelockt und das Land dafür, dass es ihn ihr genommen hatte.
Doch das war nur die halbe Wahrheit. Denn so sehr sie Ort und Land auch hasste, so sehr liebte die alte Frau es auch. Zumindest verhielt es sich so mit der Provinz. Hier hatte sie einen Großteil ihres Lebens verbracht, hatte hier geheiratet, ihren Kindern das Leben geschenkt, hatte geweint und gelacht, gekämpft, gelitten, genossen, geliebt und gehasst, hatte bedauert und Zufriedenheit erfahren; Hier hatte sie gelebt.
„Hatte“ – Noch war es nicht soweit, doch die ältliche Aquilia ahnte, dass das Plusquamperfekt schon, wenn auch noch undeutlich, über ihrem Kopf schwebte. Sie spürte es in ihren Knochen, die mit jedem Winter, der verstrichen war, schwerer geworden waren. Aber das machte nichts. Es war der Lauf der Welt. Das Alte musste vergehen, um dem Neuen Platz zu machen. Niemals ging das Alte dabei ganz verloren. Es bestand weiter im Neuen, bildete dessen Grundfeste. Ja, sie würde due Zeit schon überdauern. Zumindest irgendetwas von ihr. In ihrem Sohn, in ihrer Tochter, zu der sie gerade unterwegs war. Die stattliche Villa war schon in Sicht
Cara. Das Mädchen war nie die Tochter gewesen, die sie sich gewünscht hatte. Irgendwie hatten sie nie zueinander gefunden. Doch machte Cretica dafür nicht ihr Kind verantwortlich. Nein, sie allein – Aquilia Cretica – trug die Schuld. Es war ihr Fehler und sie musste alles in ihrer Macht stehende tun, um das Mädchen auf die richtige Bahn zu bringen. Mochte es auch gegen Caras Willen gehen, so wäre es doch zu ihrem Besten. Das würde Iulia schon einsehen. Irgendwann. Und es ihr dann danken. Sie jedenfalls war nicht bereit von dieser Welt Abschied zu nehmen, bevor sie ihre Tochter nicht an der Hand eines ehrenwerten, ruhm- und einflussreichen Mannes wusste. Wer konnte ihr sonst garantieren, dass das Mädchen auf den rechten Weg fand.
Der Sklave, der sie begleitet hatte, trat vor, um am Tor des Praetoriums anzuklopfen. Das Warten auf den Türsteher gab ihr Zeit sich zu ordnen und ihre Gedanken unter ihre Kontrolle zurück zu zwingen. Abwesend strich sie sich einige braune Strähnen unter ihrer cremefarbenen Stola zurecht. Ein Kopf erschien in dem Türspalt, der jetzt geöffnet wurde. Ein Glatzkopf, wie sie mit leisem Erstaunen bemerkte; Das war sehr ungewöhnlich für diese Region, in welcher die römische civitas vorwiegend auf gallische oder römische Sklaven zurück griff. Wie sollte es auch anders sein?Schon wurden sie ins Innere des Gebäudes geführt.
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Schmetterlinge schwirrten zwischen den Rosenumwachsenen Säulen umher, als der Sklave zu ihr kam.
„domina – deine Mutter wartet im atrium auch dich…“, informierte der glatzköpfige Mann. Seine Nase trat scharf aus seinem Gesicht hervor. Caras Brauen hoben sich in Überraschung. Beiläufig legte die junge Iulia die Schriftrolle beiseite, in welcher sie soeben gelesen hatte. „Meine Mutter?“
Der Mann nickte. „Kann ich euch eine Erfrischung bringen?“, Einen Moment lang war Cara versucht abzulehnen, während sie sich von der Bank erhob, auf der sie gesessen hatte. Wenn Cretica es sich nicht gemütlich machen konnte, würde sie vielleicht schneller wieder gehen. Andererseits konnte sie eine ältere Frau schon nicht aus Respektgründen auf dem Trockenen sitzen lassen – auch wenn es sich bei jener um ihre Mutter handelte. „Saft wäre nicht schlecht…“, erwiderte sie und war schon auf dem Weg ins Atrium, um Cretica gegenüber zu treten.
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Sie stand inmitten des Atriums und besah sich der Totenmasken der Decima, die an den Wänden hing und ihre Geschichten, ihre ausgehauchten Leben, leise in den Raum wisperten. Sie. Ihre Mutter. Aquilia Cretica. Sie trug ein flachsfarbenes Kleid mit braunem, breiten Ledergürtel um die Hüfte; eine Stola bedeckte, die wirren braunen Locken. Unverkennbar hatte die junge Iulia ihren Geschmack für Mode von der Mutter geerbt. Eine der wenige Gemeinsamkeiten, die sich Mutter und Tochter teilten. In dunkelhaariger Mann ragte wie ein zweiter Schatten hinter der Aquilia auf. Als sie Cara das Atrium betreten hörte, sah Cretica auf.
„Mutter. Was machst du hier? Solltest du dich nicht ausruhen?“, Caras nüchterner Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass ihr junges Herz nicht gerade Sprünge machte, ihre Mutter zu sehen. Nicht nur, weil sie es als recht unvernünftig empfand, dass die ältere Dame trotz ihres angeblich schlechten gesundheitlichen Zustandes den Weg auf sich genommen hatte, sondern vor allem, weil sich Cara von ihr beobachtet und kontrolliert vorkam, sobald ihre Mutter in der Nähe war.
„Aber, aber“, Ein schräges Lächeln verzog Creticas Mundwinkel, „Was ist denn das für eine Begrüßung, Cara? Ich meine dir doch etwas anderes beigebracht zu haben.“ Sie zwang ihre Tochter in eine Umarmung und spürte, wie sich Cara unter dieser Berührung versteifte. Widerspenstig wie eh und je. „Darf eine Mutter nicht nach dem Rechten sehen?“, entgegnete sie, entließ die Iulia aus ihren Armen und reckte sich dann, als suche sie etwas.
„Wo ist Corona? Ist deine Cousine nicht da?“
„Doch...Ich habe sie vorhin kurz gesehen; Da war sie auf dem Weg zu Bibliotheca. Ich nehme an, sie liest."
„Und Phocylides?“ Es gefiel der Aquilia nichtm dass sich Lucius´ maior domus nicht in der Nähe der beiden Mädchen aufhielt, um über ihre Ehre und nicht zu letzt Caras ausgeprägten Sinn Dummheiten anzustellen, zu wachen. Der Legat war zweifelsohne ein rechtschaffener Mann – auch wenn man neuerdings von Verhandlungen gegen ihn aus Roma hörte -, aber Kontrolle war bekanntlich besser als Vertrauen. Ihrer Tochter traute sie nahezu jede Leichtsinnigkeit dieser Welt zu.
Die Iulia hob kritisch eine Braue. „Soll das ein Verhör werden oder was?“, gab sie verstimmt zurück. „Wo soll ich wissen, wo er sich herum treibt?!“
„Nein...Neeeeein....“, beeilte sich Cretica abzuwinken, als sie Argwohn auf Caras Zügen aufflammen sah. „Es hat mich nur interessiert...“ Aber etwas in Caras Augen sagte ihr, dass ihre Tochter in einem alarmierten- misstrauischen Zustand verharrte. Warum konnte sie nicht einfach so ein kopfloses Ding sein, anstatt hinter jeder ihrer Aussagen eine Finte zu vermuten? „Na, möchtest du deiner alten Mutter nicht zeigen, wo ihr Mädchen für die Dauer eures Aufenthaltes wohnt? Ich war hier noch nie“, versuchte Cretica das Gespräch daher in eine andere Richtung zu lenken. Und tatsächlich, nach kurzem Zögern, ging Cara darauf ein. „Wenn du es möchtest, warum nicht“, antwortete sie, indem sie sich bei ihrer Mutter unterhakte. „Hier entlang.“
Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, zog das stattliche Anwesen die alte Aquilia in seinen Bann, war es doch mehr als doppelt so groß wie die heimische Casa Iulia und deutlich prachtvoller gestaltet. Gründlich aber zügig, schließlich wollte sie ihrer Mutter nicht länger als nötig die Anstrengung des Gehens zu muten – oder besser gesagt, wollte sie vermeiden, dass Cretica in einem der Räume Wurzeln schlug und sie noch bis zum Morgengrauen herumständen, während Cretica mit in den Nacken gelegten Kopf selbst die kleinsten Ritzen in der Decke inspizierte -, Gründlich aber zügig führte die Iulia ihre Mutter also durch das Gebäude und beantwortete geduldig Fragen, zumindest so weit ihr eigener Wissensstand reichte. Eine gute später, Cretica hatte sich um geschätzte hundert „Ooooh“s und „Aaaaaah“s erleichtert, kamen sie dorthin zurück, wo sie ihren Rundgang begonnen hatten.
„Hach, so ein schönes Anwesen...“, schwärmte die Aquilia „Du kannst wirklich den Göttern danken, dass euch der Legat hier aufgenommen hat – ich hätte euch ja lieber bei mir gehabt“, Die Iulia nickte lächelnd, obwohl sie eigentlich genau das Gegenteil dachte >ich danke den Göttern dafür, dass sie es verhindert haben...< Das wäre ja noch schöner gewesen! Sie versuchte etwas ihre Gesichtsmuskeln zu entspannen, die ob des steifen halblebendigen Lächelns, das sie sich extra für ihre Mutter aufgezwungen hatte, doch allmählich weh taten. Ein untrügliches Zeichen, dass es nun Zeit war, dass sich Cretica dazu entschloss den Weg nach Hause anzutreten.
„Decimus Livianus ist nicht zu gegen, wie?“ >Hat sie etwa immer noch nicht genug? Bona dea!<
„Nein...“, entgegnete Cara gedehnt, bemüht darum ihre innere Ungeduld zu überspielen. Würde Cretica spüren, dass sie sie abwimmeln wollte, dann würde sie bestimmt noch länger bleiben – allein des Trotzes wegen. „Er arbeitet sehr viel. Bestimmt sitzt er noch in seinem officium. Meistens verpasst er sogar die cena, so beschäftigt ist er....“, schob Cara vorsichtshalber diese kleine Unwahrheit nach, um zu verhindern, dass die Aquilia auf die Idee kam auf ihn zu warten. Diese Information hatte gesessen. Das Gesicht ihrer Mutter verfinsterte sich ein wenig, die Furchen ihres Lebens wurden ein wenig tiefer. Cara widerstand dem Impuls sie zu fragen, ob sie nicht müde sei und nicht doch lieber nach Hause wollte. Vermutlich hätte das die ältere Dame nur argwöhnisch gemacht und ihr Boden gegeben, ihr vorzuwerfen, sie wolle sie los werden – was ja offenkundig auch stimmte.
„Zu Schade...“, seufzte Cretica und zuckte bedauernd die Schultern. „Aber vielleicht dann das nächste mal...“ Zu gern hätte sie sich noch mit dem Mann unterhalten, zwar wohl wissend, dass es für eine Entscheidung seinerseits noch zu früh war. Aber einen ersten Eindruck musste er inzwischen bereits von ihrer Tochter gewonnen haben. Und wer konnte schon wissen, ob ein wenig Zureden ihrerseits die Dinge nicht etwas beschleunigte.
„Ja...wirklich...“, imitierte die Tochter ihren Tonfall. „Ich werde ihm ausrichten, dass du da warst...“, Die Aquilia nestelte ihr Kleid zurück und schien tatsächlich Anstalten zu machen, zu gehen. „Oh, du willst schon gehen?“, Jetzt war es Cara, die einen bedauernden Ausdruck auflegte.
„Ja, ich wollte nur ganz kurz herein schauen“, erklärte ihre Mutter und verzog das Gesicht. >Ha, den richtigen Ton und die richtige Mimik erwischt!<, ging es der Iulia triumphierend durch den Kopf, als sie am Mienenspiel der Älteren erkannte, dass ihre kleine Manipulation fruchtete und ihren Abgang beschleunigte. „Du kannst mich ruhig auch einmal besuchen kommen, Tochter. Zusammen mit Corona...“ Cara nickte und fasste sie beim Arm, um sie mit sanftem Druck hinüber zur Tür zu geleiten. >Nur nicht zu schnell....<