So bedächtig ihre Bewegungen auch waren, der Schleier war doch vergleichsweise schnell gelöst. Schneller, als der Aurelius zu ihr kam, was aber dennoch nichts anderes hieß, als dass er ihr nicht sofort gefolgt war, sondern sich bewusst Zeit gelassen hatte. Nigrina rührte sich dennoch nicht, sie sah sich nicht einmal wirklich nach ihm um, stand sie doch auf dem Standpunkt, dass es an ihm war, zu ihr zu kommen. Wofür war er auch der Mann? Und offiziell war sie diejenige, die keine Ahnung hatte, oder haben sollte. Haben durfte. Im Gegensatz zu ihm. Und tatsächlich, sie musste nicht wirklich warten, da kam er ihr näher. Sie sah aus dem Augenwinkel die Bewegung, spürte ihn in ihrem Rücken, noch bevor er nach dem Schleier in ihrer Hand griff und in ihr entwand, um ihn fort zu legen. Noch bevor sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte... und schließlich seine Finger an ihrem Hals, wie sie über ihre Haut glitten und dann ihren Rücken hinab. Wo sie die Berührungen spürte, breitete sich eine Gänsehaut aus, und als er sie dann an sich zog, sog sie unwillkürlich den Atem ein.
Immer noch rührte sie sich kaum, ließ sich lediglich bereitwillig von ihm noch dichter an sich ziehen. Die Unruhe in ihr nahm noch zu, wurde weiter entfacht mit jeder Berührung, die sie spürte. Sie hatte lange genug darauf gewartet, endlich von einem Mann auf diese Art berührt zu werden, trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass die Unruhe nicht nur durch Erregung, sondern zu einem guten Teil auch durch Nervosität befeuert war. Sie schauderte, als sie plötzlich seine Zähne an ihrem Hals spürte und gleich darauf seine Stimme hörte, als er endlich antwortete. Ihr Kopf war immer noch leicht zur Seite gedreht, so dass ihr Gesicht für ihn im Profil zu sehen war, und ihr Blick war irgendwo in eine Ecke gerichtet. Die Rollen hatten sich getauscht, meinte er, allerdings war sich Nigrina darüber nicht ganz so sicher – nicht weil sie glaubte, sie selbst wäre tatsächlich noch die Jägerin, sondern weil sie in diesem Augenblick daran zweifelte, dass er jemals Beute gewesen war. „Ich habe keine Angst“, antwortete sie, ebenso leise wie er. Hatte sie nicht? Hatte sie nicht. Ihr Status und ihre Familie waren einflussreich genug, dass sie sicher war, keine Angst haben zu müssen, er könnte sich in dieser Ehe ungebührlich verhalten. Als Frau hatte sie nicht die dieselben Möglichkeiten wie er, dennoch: sie unterstand nach wie vor ihrem Vater und war nach wie vor eine Flavia. Wenn er sich daneben benahm, würde sie Konsequenzen ziehen, auf die ein oder andere Weise, und das musste auch ihm bewusst sein. Sie war keines der diversen Weibchen, mit denen sich ihr Vater mit Vorliebe umgab, und mit denen er nahezu immer umspringen konnte wie er wollte. Sie war eine Flavia – eine Frau von dem Kaliber, mit denen sich ihr Vater wohlweislich selten eingelassen hatte, und wenn er es doch getan hatte, hatte er sich für gewöhnlich anders arrangieren müssen, wenn er ihrer überdrüssig geworden war. Letztlich ging es darum, sich zu arrangieren, dass sie beide zufrieden waren – so dass sie beide in Ruhe ihre Vorteile aus dieser Verbindung ziehen konnten, ohne sich gegenseitig etwa an die Gurgel zu gehen oder sich sonst wie das Leben zum Tartaros zu machen. Sie hatte also tatsächlich keine Angst. Sie war nur... unruhig. Ein wenig nervös. Genau.
Was sie aber nicht daran hinderte, selbst aktiv zu werden, denn das, bei allen Göttern, war ihre Hochzeitsnacht. Ihre Hand legte sich auf seine, die wiederum auf ihrem Wollgürtel lag, und übte leichten Druck aus, um sie tiefer zu geleiten, wenn er das zuließ. Die zweite gesellte sich dazu, blieb jedoch beim Gürtel, und sie begann – ungeachtet der Tatsache, dass das traditionell eigentlich seine Aufgabe war, oder sein Vorrecht, je nachdem wie man es auslegte, aber sie hatte ja auch bei den übrigen Hochzeitsaktivitäten nicht sonderlich Wert auf Tradition gelegt, wenn es sich vermeiden ließ –, an dem Knoten zu nesteln. „Ich glaube trotzdem, dass die Jagd zu Ende ist. Oder wie nennst du es, wenn die Beute nicht nur gestellt ist, sondern schon in der Hand des Jägers?“ Womit sie ihm indirekt zugestand, dass sie die Beute war. Was aber nicht hieß, dass sie auf den Jäger keinen Einfluss ausüben könnte. Sie bewegte sich leicht, presste sich noch enger an ihn. „Eine Gegenwehr aussichtslos...“