„He, du.“ Irgendetwas stieß Nigrina in die Seite, nicht fest genug, um wirklich schmerzhaft, aber genug um ziemlich unangenehm zu sein. Sie verzog das Gesicht und schlug unwillig die Augen auf, blinzelte in den Fackelschein und versuchte einzuschätzen, wie viel Zeit wohl vergangen war, seit sie eingedöst war – aber da von den Männern noch kaum einer zu schlafen schien, konnte es nicht sonderlich lang gewesen sein.
Viel mehr Zeit allerdings um ins Wachsein zu finden hatte sie nicht, denn im nächsten Augenblick wurde sie schon gepackt und grob auf die Beine gerissen. Und nach einem ersten, rein instinktiven Wehren, das – obwohl ziemlich ineffektiv, weil sie gefesselt war - ihr trotzdem eine Ohrfeige einbrachte, ließ Nigrina sich widerstandslos mitzerren.
Sie wurde zum Feuer gebracht, und wie von selbst ging sie davon aus, dass der Kerl, der dort saß und ihr entgegen sah, der Anführer sein musste. Trotzdem konzentrierte sie sich zunächst nicht auf ihn, sondern ließ ihren Blick schweifen, über das provisorische Lager, versuchte so viele Details wie möglich aufzunehmen.
„Hier unten bin ich, Vögelchen...“ Das ertönte in einem unmelodiösen Singsang. Kombiniert mit der Hand in ihrem Rücken, die sie zuerst mit einem heftigen Stoß einen Schritt nach vorne taumeln ließ und sie dann nach unten zwingen wollte, war das genug, um ihre Aufmerksamkeit von dem Lager ab- und auf den Mann vor ihr zu lenken.
„Schon gut“, maulte sie, versuchte die Hand abzuschütteln und konnte ihr doch nur entgehen, als sie sich zu Boden sinken ließ, um sich zu setzen. Mit einem finsteren Gesichtsausdruck, von dem sie hoffte dass er verbarg, wie sehr die Panik schon wieder an ihr nagte, musterte sie den Mann. „Was willst du?“
Er tat ihr nicht den Gefallen, zu antworten, nicht sofort jedenfalls, sondern betrachtete sie zunächst einen Moment lang schweigend. Sein Mund befand sich in einer unablässigen Kaubewegung, die Nigrina schon bald anwiderte. Und bevor er schließlich sprach, tat er etwas, was sie noch viel mehr anwiderte – und wofür sie fast dankbar war, weil der Ekel davor etwas war, woran sie sich klammern konnte, was sie ablenkte von der Panik: er spuckte aus. So knapp an ihr vorbei, das ein paar Spritzer ihr Gesicht trafen. „So. Flavia.“ Er biss von etwas ab, was er in der Hand hielt, und begann wieder zu kauen. „Sag mir, was ich mit dir machen soll.“
Nigrina runzelte flüchtig die Stirn, fragte sich, was das jetzt sollte... und wie sie am besten darauf reagieren sollte. Nachdem sie allerdings keine Ahnung hatte, nahm ihr übliches Wesen die Zügel in die Hand, ihre Arroganz, gepaart mit Trotz. „Mich freilassen“, zischte sie.
In Ordnung. War wohl kaum die beste Reaktion. Aber trotz ihrer Angst brachte sie es nicht über sich, unterwürfig zu sein. Das lief ihr so sehr zuwider, dass es ihr zumindest im Moment noch nicht vorstellbar war.
Der Kerl lachte allerdings. Was in Nigrina einerseits die Reaktion auslöste, die sie darauf so naturgemäß zeigte wie die Nacht dem Tag folgte – es regte sie auf. Andererseits jedoch war ein Teil von ihr erleichtert, dass er nur lachte. „Wohl kaum“, grinste er anzüglich. „Da fallen mir doch ein paar andere Dinge ein, die ich mit dir anstellen könnt.“
Er musterte sie, schien auf eine Reaktion, eine Antwort zu warten, aber Nigrina wusste nicht so recht, was sie darauf sagen sollte. Etwa fragen, was genau ihm da einfiel? Aber ganz sicher nicht. Sie setzte sich ein wenig aufrechter hin und bemühte sich darum, stolz zu wirken. Von oben herab. Das konnte sie gut, auch wenn sie kleiner war als die meisten ihrer Mitmenschen. „Wenn dir so viel einfällt, warum fragst du mich dann?“ kam endlich über ihre Lippen, und obwohl sie recht zufrieden war mit dem arroganten Tonfall, den sie zustande brachte, hörte sie doch auch die Angst, die in ihrer Stimme mitschwang. Und sie befürchtete, er konnte sie auch hören. Jedenfalls wenn sie nach seinem Grinsen urteilte.
„Nun, so gern ich eines davon in die Tat umsetzen würde: ich möcht vorher doch gern versuchen, dein geschätzten Arsch zu Geld zu machen. Also... wer lässt deiner Meinung nach am meisten für dich springen?“
Nigrina presste die Kiefer aufeinander. Sie war sich sicher, dass er das absichtlich so klingen ließ als sei sie eine Lupa – aber was viel wichtiger war: es schien da eine Chance zu bestehen, dass sie hier rauskam. Lebend. Das Problem war nur, dass es nicht mehr allzu viel Leute geben würde, die für sie etwas zahlen würden. Nicht wenn Sextus inzwischen auch geflohen war, und Gracchus, und wenn bekannt geworden war warum. Es gab eigentlich nur einen, den sie nennen konnte: ihren Vater. Sie hatte ihm zwar mit ihrer Abreise aus Rom eine Nachricht geschickt, eine unverfängliche, die ihn dazu veranlassen sollte fortzugehen... aber vielleicht hatte er die ja ignoriert, weil sie zu unverfänglich gewesen war. Und selbst wenn nicht: solange in Ravenna noch niemand aufgetaucht war, um seine Landgüter zu durchsuchen oder gar etwas zu beschlagnahmen, würden auch seine Verwalter Lösegeld für sie zahlen. „Mein Vater“, antwortete sie also schließlich. „Cnaeus Flavius Aetius.“
„Und wo ist der?“
„In Ravenna.“ Noch in dem Augenblick, in dem sie das sagte, konnte sie an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass das die falsche Antwort war.
„Ravenna? Willst du mich verarschen, Schätzchen?“ Seine Brauen zogen sich zusammen. „Ich weiß von deiner Sklavin, dass du aus Rom kommst. Familie dort hast. Verheiratet bist. Also versuch nicht mir jemanden unterzujubeln, zu dem wir ne halbe Ewigkeit unterwegs wären. Du hast sowieso keine Chance zu fliehen, falls du darauf spekulierst.“
„Ich mein's ernst. Mein Vater lebt in Ravenna, und er wird mit Sicherheit zahlen. Mehr als meine Verwandten in Rom.“ Sie bemühte sich, den flehenden Unterton zu unterdrücken, bemühte sich, nicht zu bettelnd zu klingen. Rom war keine Alternative, nicht für sie, nicht im Moment. Sie wusste nur nicht, wie sie ihm das klar machen sollte, ohne zu sagen warum – und das würde sie ganz sicher nicht erzählen.
Ihre Worte brachten allerdings nur, dass seine Miene sich nun wirklich verfinsterte. „In Ordnung... ich dachte ja du würdest die Möglichkeit nutzen, dir mein Wohlwollen zu sichern. Aber wenn du darauf nicht angewiesen bist...“ Er machte eine Kopfbewegung, und im nächsten Augenblick wurde sie wieder von dem Kerl gepackt und hochgezogen, der sie hergebracht hatte. „Bring sie zurück.“