Beiträge von Flavia Nigrina

    Als sie schließlich eintraten und Nigrina nicht nur einen Scriba sah, sondern auch ein paar Wachen, fuhr sie sich unwillkürlich – und nervös – durch ihre Haare, versuchte sie ein wenig zu glätten, und strich sich ihre Kleidung glatt. Ziemlich nutzlos, und sie ärgerte sich gleich darauf über sich selbst, aber sie konnte auch nicht aus ihrer Haut, und hier fühlte sie sich einfach unwohl. Sie hätte sich zwar so oder so unwohl gefühlt, selbst wenn sie aufs Feinste herausgeputzt gewesen wäre... aber es war einfacher, sich an diese Äußerlichkeiten festzuklammern als über das nachzudenken, was darunter lauerte.


    Trotzdem ärgerte es sie, dass sie diesem Impuls zunächst nachgegeben hatte, und so verschränkte sie beinahe trotzig die Arme und versuchte den Scriba wortlos nieder zu starren, während sie sich bemühte, Haltung zu wahren.



    ~~~


    Sulca indes lächelte den Scriba jovial an und ignorierte die Wachen im Raum. „Mein Name ist Ennius Sulca... und die... Dame hier ist Flavia Nigrina. Meine Männer und ich haben sie und ihre Begleitung vor ein einigen Tagen angetroffen, auf dem Weg nach Norden.“ Wenn die Sklavin die Wahrheit gesagt hatte, dann würde dem Scriba der Name wohl ein Begriff sein, vermutete Sulca. Unnötig also, noch mehr zu erwähnen, jedenfalls für den Moment – wenn der Mann Fragen hatte, konnte er sie immer noch stellen. „Ich bin hier, um sie auszuliefern... und hoffe auf die Großzügigkeit einer Belohnung für meine Männer und mich.“ Wieder ein Lächeln – aber gesagt werden musste, was er wollte. Nicht dass am Ende noch der Irrtum aufzuklären war, dass er das für lau tat, weil er ein achsoaufrechter Bürger war.

    Nigrina bemerkte den Blick, den der Soldat ihr zuwarf, aber sie reagierte nicht darauf – sie ließ sich nicht einmal anmerken, dass sie ihn gesehen hatte. Genauso wenig würdigte sie ihren Leibwächter noch eines Blickes, als sie hörte, dass er nicht mit hinein gehen würde. Sie hätte ihn gern um sich gehabt, weil es ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben hätte... aber sie wusste, dass das völlig irrational war. Er mochte seinen Nutzen bewiesen haben inzwischen, aber auch er würde ihr in der Castra nicht helfen können. Und irrationale Anwandlungen behinderten sie nur – wenn sie etwas von ihrem Mann gelernt hatte, dann das. Nicht dass sie bislang darauf wirklich viel gegeben hätte, wenn ihr der Sinn nach etwas anderem stand, nur... sie hatte das sichere Gefühl, dass es besser war, wenn sie sich von jetzt an ein Beispiel an Sextus nahm. Und davon mal ganz abgesehen: es hätte von Schwäche gezeugt, und sie wollte nichts weniger als schwach wirken.


    Immer noch schweigend und mit hoch erhobenem Kopf betrat sie also die Castra. Mit einer unwilligen Bewegung hatte sie noch die Hand versucht abzuschütteln, die auf ihrer Schulter lag, aber das war vergebens – der Griff verstärkte sich nur noch etwas. Also beließ sie es dabei und versuchte unabhängig davon, so stolz wie möglich zu wirken. Es gab da allerdings noch etwas, was ihr in zunehmendem Maß einen weiteren, ziemlich dicken Strich durch die Rechnung machte. Mehr und mehr wurde ihr bewusst, wie sie aussah – erschöpft, verdreckt, mit strähnigem Haar und mit Schmutz und getrocknetem Blut befleckter Kleidung. Ihre Haltung war und blieb die gleiche, und unter all dem, was die vergangenen Tage mit ihrem Äußeren angerichtet hatten, war doch zu erkennen, dass sie schön war. Und sie war eine Flavia! Das war es was zählte. Nicht wie sehr man sehen – oder riechen – konnte, dass sie dringend ein Bad brauchte, und eine lange Nacht voll Schlaf, und ganze Heerscharen an Sklaven, die sie verwöhnten, massierten, sich um ihre Haare und ihre Haut und ihre Nägel und alles mögliche andere kümmerten, und zu guter Letzt neue Kleidung. Sie redete sich ein, dass das alles nicht zählte, aber Fakt war: es spielte eine Rolle. Für sie. In den letzten Tagen, unter Männern, die so weit unter ihrer Würde standen, dass sie sie normalerweise nicht einmal bewusst bemerkt hätte, wären sie ihr auf der Straße begegnet, war das noch nicht so wichtig gewesen, abgesehen von dem Fakt dass sie sich schlicht und ergreifend nach Schlaf, Wärme, einem Bad gesehnt hatte. Aber hier, wo sie wieder Menschen gegenüber stehen würde, denen sie so oder so mehr Achtung geschenkt hätte, störte es sie. Und das einzige was sie tun konnte war, sich davon nichts anmerken zu lassen, während sie durch die Castra gingen und schließlich das Vorzimmer zum Büro des Vescularius betraten.

    Ja, warum nur gleich nicht? Sulca sparte es sich, darauf eine Antwort zu geben, sondern winkte nur ab und wartete dann. Und tatsächlich, als der Soldat zurückkam, hatte er gute Nachrichten. „Na also. Geht doch!“ Sulca grinste breit, als er hörte dass sie vorgelassen werden würden – gut, zwar nur er und seine Beute, aber: falls die Urbaner ihn tatsächlich würden festsetzen wollen – oder ihm seine Beute einfach so abnehmen – würden ihm seine Leute da drinnen auch nichts nutzen. Nein, dieses letzte Stück würde er darauf vertrauen müssen, dass die Urbaner und der Praefectus Urbi fair waren... was für sie selbst allerdings auch nur sinnvoll war. Wenn sich rumsprach, dass sie jeden hintergingen, der ihnen irgendwas von Vorteil brachte, würden sie bald niemanden mehr haben, der das tat.


    Er gab seinen Männern also einen kurzen Wink, dass es in Ordnung wäre, streifte den anderen Gefangenen mit einem kurzen Blick und beschloss, später zu entscheiden, was er mit dem tun würde – da das nur ein Sklave war, würde der Praefect für den wohl weniger Verwendung haben, aber wer wusste das schon... aber möglicherweise zahlte sein Ludus was für ihn; oder vielleicht wollte er ja sogar bei ihnen anheuern, einen Gladiator konnte man immer brauchen. Dann legte er der Frau eine Hand auf die Schulter und schob sie halb vor sich her, um dem Urbaner zu folgen.

    Sulca zögerte kurz und tauschte einen Blick mit einem seiner Leute. Dann allerdings gab er sich einen Ruck. Dass er hier, an der Porta der Castra, würde sagen müssen wen er da hatte, um überhaupt eine Nachricht zum Officium des Praefecten zu bekommen, war ihm klar gewesen – nur weil sich nach wie vor ausgerechnet dieser Miles um sie kümmerte, hieß das nicht, dass sich daran etwas änderte. Mit einem angedeuteten Achselzucken also sagte er, allerdings erneut mit gesenkter Stimme, so dass ihn niemand außer dem Soldaten vor ihm würde verstehen können – musste ja nicht jeder gleich mitrkiegen, wen er da hatte: „Flavia Nigrina. Verwandt mit dem einen und verheiratet mit nem anderen auf eurer schönen Liste.“ Und grinste selbstgefällig. Wenn er für die keine Belohnung bekam, wusste er nicht wofür sonst – außer man lieferte tatsächlich einen der Verräter direkt ab. Aber es hieß ja, dass man auch für Hinweise etwas bekam... insofern war Sulca definitiv optimistisch.

    Als sie angekommen waren, überlegte Sulca kurz, ob er nicht lieber darauf bestehen sollte, dass gleich jemand zum Büro des Praefecten ging. Er wollte mit jemandem sprechen, der ihm sicher sagen konnte, ob und was für eine Belohnung er kriegen konnte... Andererseits: er hatte keine Lust auf noch ein Wortgefecht mit diesem Miles. Und mit einem Centurio war er vermutlich erst mal besser bedient als mit dem. Also nickte er nur knapp – und wartete.

    Nigrina war hin- und hergerissen. Während der gesamten Zeit hatte sie beinahe schon verzweifelt überlegt, was sie tun sollte. Was sie tun könnte. Sie war mehr als einmal dicht daran gewesen, die Soldaten einfach anzusprechen, herauszuschreien, dass sie nicht freiwillig hier war... Aber etwas warnte sie davor, das zu tun. Was konnte sie schon erreichen, wenn sie jetzt versuchte die Wachen dazu zu bringen, sie zu befreien? Das waren Urbaner. Sie unterstanden direkt dem Vescularius. Und Nigrina bezweifelte, dass sie eine Chance haben würde ihnen irgendwie glaubhaft zu machen, sie wäre irgendjemand völlig uninteressantes. Schon allein weil da die Dreckskerle waren. Die würden sicher irgendwas unternehmen, kaum dass sie den Mund aufgemacht hatte, und zur Not würden sie den Wachen sagen, wer sie war. Um dann darauf zu bestehen, dass sie sie zur Castra würden bringen können. Und entweder würden die Soldaten dann nachgeben, oder sie würden die Kerle fortjagen und sie da behalten... und dann würden sie sie auch zur Castra bringen. Wenn auch nur der leiseste Verdacht bestand, sie könnte tatsächlich von Interesse sein, würden sie kaum ein Risiko eingehen. Das konnten sie sich gar nicht leisten. Nein, die einzige Chance die sie theoretisch hätte wäre zu fliehen... vor beiden Parteien, ihren Entführern genauso wie den Urbanern. Aber das war absolut lachhaft. Selbst wenn sie die Gelegenheit für einen Versuch bekam, käme sie nicht einmal drei Schritte weit.


    Und so schwieg sie. Während der gesamten Unterhaltung. Als der Soldat plötzlich vor ihr stand und sie ansprach – ein Moment, der ohnehin nicht sonderlich lange währte. Und auch danach, als sie sich endlich einig zu werden schienen. Es gab einfach nichts, was sie tun konnte. Nichts. Außer ohnmächtig zuzusehen.



    ~~~


    Sulca presste die Kiefer aufeinander, als der Soldat sie nun doch begleiten wollte. Langsam wurde es ihm zu bunt. Aber: er wollte da rein, er wurde rein gelassen, wunderbar – und zwei Soldaten würden es kaum fertig bringen, ihn auf dem Weg zur Castra übers Ohr zu hauen. Eher schon, wenn sie da waren... aber dort würde er weiter sehen.
    „Natürlich“, antwortete er, nun wieder mit einem Grinsen, das jetzt allerdings etwas gezwungen wirkte. „Es geht doch nichts darüber jemanden zu haben, der einem den Weg zeigt.“ Mit einer schroffen Kopfbewegung orderte er seine Leute nach vorn, die ihn hierher begleitet hatten, und der Reihe nach gaben sie die Waffen ab, die sie bei sich trugen, ließen die zwangsläufige Durchsuchung über sich ergehen und sammelten sich danach. Sulca blickte die zwei Soldaten ein wenig abschätzig an, die sie offenbar nun begleiten würden. „Also? Wohin, die Herren?“

    Sulcas Augen verengten sich, als sich in seinen Augen die Hinweise immer mehr verdichteten, dass der Kerl von der Wache ihm seine Beute abluchsen wollte. Und das würde er ganz sicher nicht zulassen. Vorher verschwand er von hier und versuchte es an einem anderen Tor, zu einer anderen Zeit – oder arrangierte sich irgendwie eine ungesehene Passage in die Stadt hinein. Oder schickte noch mal einen seiner Männer alleine vor, damit der eine Botschaft zur Castra brachte.
    Beim letzten Satz der Wache allerdings kam Sulca der Verdacht, dass der möglicherweise doch nicht daran interessiert, sich selbst was dazu zu verdienen... was nicht so ungewöhnlich war, weder bei Soldaten noch bei sonst wem. Die meisten waren irgendwie bestechlich. Vielleicht war der hier die Ausnahme... Nun, Sulca blieb freilich trotzdem misstrauisch, er war zu lange in diesem Geschäft und zu gut darin, um irgendetwas anderes zu sein. „Nein...“ machte er gedehnt. „Offensichtlich habe ich keinen davon dabei. Aber jemanden, der vielleicht trotzdem gut genug für eine Belohnung ist. Jemanden, der vielleicht Aufschluss über den Verbleib von mindestens zwei von den Verrätern geben kann. Also?“ Sulca zog die Brauen hoch und machte eine Kopfbewegung zum Tor hin. „Lässt du uns jetzt rein, damit wir unser Glück bei der Castra versuchen können?“ Er versuchte erst gar nicht, den Kerl noch mal eine Wegbeschreibung rauszuleiern oder gar seine Dienste als Fremdenführer zu bekommen. Ob bestechlich oder nicht, zumindest von ihm schien er nichts annehmen zu wollen, oder falls doch, würde er das wohl noch sagen – aber Sulca bezweifelte das. Wahrscheinlicher war da schon, dass er doch noch versuchen würde ihm seine Beute abzujagen. Oder tatsächlich einer von den ehrlichen war... Und in beiden Fällen wollte Sulca ihn ganz sicher nicht als Begleitung dabei haben auf seinem Weg zur Castra.

    Sulcas Lächeln erlosch wie abgeschaltet. Dass ihm die Wachen hier dumm kamen, die Möglichkeit hatte zwar bestanden, aber tatsächlich damit gerechnet hatte er nicht. Zumal die doch eigentlich selbst größtes Interesse daran haben mussten, das in die Finger zu bekommen, was er zu bieten hatte – denn dass er nicht mit nichts zum Praefectus Urbi gehen würde, war ja wohl klar. Einen Mann von der Macht versuchte man besser nicht an der Nase herum zu führen... Aber vielleicht wollte der Kerl ja gerade das? Ihm seine Beute abnehmen, um die Belohnung allein zu kassieren?


    Als der Soldat dann allerdings seine Beute direkt ansprach, wurde es Sulca zu bunt. Das fehlte ja gerade noch! Bevor die Flavia etwas sagen konnte, schob er sich mit einer schnellen Bewegung zwischen sie und den Soldat, während er seinen Männern einen Wink gab, und mit einer fast noch schnelleren Bewegung reagierten diese – einer schnappte sich die Frau und zog sie außer Reichweite des Soldaten, zwei verfuhren mit einem Kerl so, der an seinen Handgelenken die für Gladiatoren typischen Tätowierungen trug. „Ich sagte, die Lieferung ist für den Praefectus Urbi. Nicht für seine Wachen. Und ich bin mir sehr sicher, dass er Interesse daran haben wird. Gerade weil es eine Überraschung ist.“ Sulca musterte den Mann vor ihn finster. „Ich würd sogar so weit gehen zu sagen, dass du Schwierigkeiten bekommen wirst, wenn er erfährt, dass du ihm das vorenthalten hast. Oder ist die Proskription etwa aufgehoben?“ Er machte einen Schritt auf den Soldaten zu und senkte seine Stimme. „Ich werd mich von dir nicht um die Belohnung bringen lassen, die ich für die da kriegen kann. Aber ich könnt mich vielleicht dazu überreden lassen, dir einen Teil davon abzutreten, wenn du uns jetzt ohne Scherereien zur Castra bringst.“

    „Natürlich ist euch nichts davon bekannt... ist ja auch eine Überraschung.“ Sulca grinste unverändert, auch wenn es ihn jetzt schon nervte, dass der Typ von der Wache sich überhaupt mit ihnen unterhalten wollte – anstatt sie ohne weitere Umstände in die Stadt zu lassen. Er sah kurz zu seinen Männern und gab sich dabei weiterhin jovial, aber sein Blick streifte auch den, den er bereits gestern nach Rom geschickt hatte... und der ihm erzählt hatte, dass an den Toren zwar deutlich verschärfte Kontrollen herrschten, es aber nicht wirklich ein Problem sein dürfte, in die Stadt zu kommen. Die Ausgangssperre war aufgehoben worden, und Senatoren waren eigentlich die einzigen, die sich vor den Kontrollen wirklich in Acht nehmen mussten – und das eigentlich auch nur, wenn sie die Stadt verlassen wollten, ohne eine Erlaubnis zu haben. Wenn sie jetzt hier allerdings wirklich aufgehalten wurden, würde der was zu hören bekommen, so viel war sicher. „Ihr könnt uns helfen, in dem ihr uns einfach in die Stadt lasst“, wandte Sulca sich wieder lächelnd an die Wachen. „Eine Wegbeschreibung zur Castra wäre natürlich perfekt, aber keine Sorge, wir finden auch so dahin. Und was unsere Lieferung betrifft, bin ich mir sicher, dass wir das auch mit den Wachen vor Ort klären können. Und gegebenenfalls warten, bis sie im Büro des Präfekten nachgefragt haben, ob er Interesse daran hat. Oder...“ Sulca tat so, als überlege er kurz, „... werden die Wachen der Castra nicht auch von euch Urbanern gestellt? Wie wäre es, wenn du uns gleich hinbringst und selbst nachfragst?“

    Die Männer fackelten nicht lange, als sie sich dem Tor näherten. Die Kontrollen waren nach wie vor scharf genug, dass sie nicht so ohne weiteres hineinkommen würden, und das wussten sie auch... aber sie hatten ja auch nichts zu verbergen, ganz im Gegenteil. Entsprechend bewegten sie sich jetzt ohne irgendwelche Umstände auf die Wachen zu. Sulca grinste sie an. „Salvete, die Herren. Wir haben eine kleine Lieferung für den Praefectus Urbi... könnt ihr uns den Weg zur Castra erklären?“

    Rom also. Als Nigrina klar geworden war, dass die Kerle sie tatsächlich nach Rom zurück brachten, hatte sie angefangen zu toben. Angefangen, wohlgemerkt. Ihr Leibwächter brachte sie ziemlich schnell wieder zur Räson. So schnell sogar, dass die Kerle kaum Zeit hatten darauf aufmerksam zu werden, dass Nigrina eigentlich Radau hatte machen wollen. Obwohl sie schon wieder die Klappe hielt, schnauzte sie trotzdem irgendjemand an und verpasste ihr eine Kopfnuss, aber das war es dann dankenswerterweise schon. Am liebsten hätte sie weiter gemacht, eigentlich, alles... alles, nur um nicht nach Rom zurück gebracht zu werden. Um den Kerlen begreiflich zu machen, dass es wirklich, wirklich besser wäre, wenn sie sie nach Ravenna brachten, zum Landgut ihres Vaters, und nicht nach Rom.
    Aber was sie im Grunde ohnehin schon gewusst hatte, hatte sie nahezu sofort auch bewusst begriffen. Es brachte nichts, wenn sie sich jetzt aufführte – im Gegenteil, es würde alles nur noch schlimmer machen. Sie würde die Kerle nicht davon überzeugen können, sie nach Ravenna zu bringen. Sie würde ihnen nur klar machen, dass sie einen Grund hatte, nicht nach Rom zu wollen. Einen gewichtigen. Und das war etwas, was sie besser nicht erfuhren... und erst recht, was für ein Grund das war. Nein, sie konnte nur hoffen, dass sie in Rom feststellten, dass von ihrer näheren Familie keiner erreichbar war, und sie sich dann doch für Ravenna entschieden.


    Eine vergebliche Hoffnung, wie sich herausstellte, als sie Rom nach ein paar weiteren Tagen – Tagen, die ihrem ohnehin nicht gerade blendenden Gesundheitszustand noch mehr zusetzten – endlich erreicht hatten. Sie machten irgendwo außerhalb Halt, und jemand wurde vorgeschickt, um vorzufühlen... und als er wiederkehrte, kam Nigrina in den unsagbaren Genuss eines weiteren Gesprächs mit dem Anführer, der diesmal zu ihr kam und vor ihr stehen blieb. Und schon wieder am Kauen war, und natürlich passgenau ausspuckte.
    „Keiner da bei dir zuhause. Weder bei den Flaviern noch bei den Aureliern.“
    Obwohl Nigrina genau das befürchtet hatte, wurde sie trotzdem ein wenig blass, als sie das hörte. Andererseits war genau das die Chance, auf die sie gehofft hatte. Auf die sie noch hoffte. „Ich habe dir gesagt, dass Ravenna-“
    „besser wär?“ unterbrach er sie mit einem Grinsen, das sie Übles ahnen ließ. „Woher willst du überhaupt wissen, ob dein Vater noch in Ravenna ist? Wo deine Familie doch Hochverrat begangen hat. Und die von deinem Mann auch, wie’s aussieht.“
    Jetzt wurde sie wirklich bleich. „Das... das ist eine Lüge. Das stimmt nicht! Und mein Vater ist mit Sicherheit noch in Rave-“
    Sie wurde wieder unterbrochen, und ein Teil von ihr war sogar dankbar dafür – weil es passierte, bevor sie ins Betteln geriet. „Unwahrscheinlich. Dafür werd ich nicht durch das halbe Land reisen.“ Wieder dieses Grinsen, noch ein wenig intensiver. Diesmal verursachte es ihr Bauchschmerzen. „Mal sehen, welche Belohnung für dich geblecht wird.“

    „He, du.“ Irgendetwas stieß Nigrina in die Seite, nicht fest genug, um wirklich schmerzhaft, aber genug um ziemlich unangenehm zu sein. Sie verzog das Gesicht und schlug unwillig die Augen auf, blinzelte in den Fackelschein und versuchte einzuschätzen, wie viel Zeit wohl vergangen war, seit sie eingedöst war – aber da von den Männern noch kaum einer zu schlafen schien, konnte es nicht sonderlich lang gewesen sein.
    Viel mehr Zeit allerdings um ins Wachsein zu finden hatte sie nicht, denn im nächsten Augenblick wurde sie schon gepackt und grob auf die Beine gerissen. Und nach einem ersten, rein instinktiven Wehren, das – obwohl ziemlich ineffektiv, weil sie gefesselt war - ihr trotzdem eine Ohrfeige einbrachte, ließ Nigrina sich widerstandslos mitzerren.
    Sie wurde zum Feuer gebracht, und wie von selbst ging sie davon aus, dass der Kerl, der dort saß und ihr entgegen sah, der Anführer sein musste. Trotzdem konzentrierte sie sich zunächst nicht auf ihn, sondern ließ ihren Blick schweifen, über das provisorische Lager, versuchte so viele Details wie möglich aufzunehmen.
    „Hier unten bin ich, Vögelchen...“ Das ertönte in einem unmelodiösen Singsang. Kombiniert mit der Hand in ihrem Rücken, die sie zuerst mit einem heftigen Stoß einen Schritt nach vorne taumeln ließ und sie dann nach unten zwingen wollte, war das genug, um ihre Aufmerksamkeit von dem Lager ab- und auf den Mann vor ihr zu lenken.
    „Schon gut“, maulte sie, versuchte die Hand abzuschütteln und konnte ihr doch nur entgehen, als sie sich zu Boden sinken ließ, um sich zu setzen. Mit einem finsteren Gesichtsausdruck, von dem sie hoffte dass er verbarg, wie sehr die Panik schon wieder an ihr nagte, musterte sie den Mann. „Was willst du?“
    Er tat ihr nicht den Gefallen, zu antworten, nicht sofort jedenfalls, sondern betrachtete sie zunächst einen Moment lang schweigend. Sein Mund befand sich in einer unablässigen Kaubewegung, die Nigrina schon bald anwiderte. Und bevor er schließlich sprach, tat er etwas, was sie noch viel mehr anwiderte – und wofür sie fast dankbar war, weil der Ekel davor etwas war, woran sie sich klammern konnte, was sie ablenkte von der Panik: er spuckte aus. So knapp an ihr vorbei, das ein paar Spritzer ihr Gesicht trafen. „So. Flavia.“ Er biss von etwas ab, was er in der Hand hielt, und begann wieder zu kauen. „Sag mir, was ich mit dir machen soll.“
    Nigrina runzelte flüchtig die Stirn, fragte sich, was das jetzt sollte... und wie sie am besten darauf reagieren sollte. Nachdem sie allerdings keine Ahnung hatte, nahm ihr übliches Wesen die Zügel in die Hand, ihre Arroganz, gepaart mit Trotz. „Mich freilassen“, zischte sie.
    In Ordnung. War wohl kaum die beste Reaktion. Aber trotz ihrer Angst brachte sie es nicht über sich, unterwürfig zu sein. Das lief ihr so sehr zuwider, dass es ihr zumindest im Moment noch nicht vorstellbar war.
    Der Kerl lachte allerdings. Was in Nigrina einerseits die Reaktion auslöste, die sie darauf so naturgemäß zeigte wie die Nacht dem Tag folgte – es regte sie auf. Andererseits jedoch war ein Teil von ihr erleichtert, dass er nur lachte. „Wohl kaum“, grinste er anzüglich. „Da fallen mir doch ein paar andere Dinge ein, die ich mit dir anstellen könnt.“
    Er musterte sie, schien auf eine Reaktion, eine Antwort zu warten, aber Nigrina wusste nicht so recht, was sie darauf sagen sollte. Etwa fragen, was genau ihm da einfiel? Aber ganz sicher nicht. Sie setzte sich ein wenig aufrechter hin und bemühte sich darum, stolz zu wirken. Von oben herab. Das konnte sie gut, auch wenn sie kleiner war als die meisten ihrer Mitmenschen. „Wenn dir so viel einfällt, warum fragst du mich dann?“ kam endlich über ihre Lippen, und obwohl sie recht zufrieden war mit dem arroganten Tonfall, den sie zustande brachte, hörte sie doch auch die Angst, die in ihrer Stimme mitschwang. Und sie befürchtete, er konnte sie auch hören. Jedenfalls wenn sie nach seinem Grinsen urteilte.
    „Nun, so gern ich eines davon in die Tat umsetzen würde: ich möcht vorher doch gern versuchen, dein geschätzten Arsch zu Geld zu machen. Also... wer lässt deiner Meinung nach am meisten für dich springen?“
    Nigrina presste die Kiefer aufeinander. Sie war sich sicher, dass er das absichtlich so klingen ließ als sei sie eine Lupa – aber was viel wichtiger war: es schien da eine Chance zu bestehen, dass sie hier rauskam. Lebend. Das Problem war nur, dass es nicht mehr allzu viel Leute geben würde, die für sie etwas zahlen würden. Nicht wenn Sextus inzwischen auch geflohen war, und Gracchus, und wenn bekannt geworden war warum. Es gab eigentlich nur einen, den sie nennen konnte: ihren Vater. Sie hatte ihm zwar mit ihrer Abreise aus Rom eine Nachricht geschickt, eine unverfängliche, die ihn dazu veranlassen sollte fortzugehen... aber vielleicht hatte er die ja ignoriert, weil sie zu unverfänglich gewesen war. Und selbst wenn nicht: solange in Ravenna noch niemand aufgetaucht war, um seine Landgüter zu durchsuchen oder gar etwas zu beschlagnahmen, würden auch seine Verwalter Lösegeld für sie zahlen. „Mein Vater“, antwortete sie also schließlich. „Cnaeus Flavius Aetius.“
    „Und wo ist der?“
    „In Ravenna.“ Noch in dem Augenblick, in dem sie das sagte, konnte sie an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass das die falsche Antwort war.
    „Ravenna? Willst du mich verarschen, Schätzchen?“ Seine Brauen zogen sich zusammen. „Ich weiß von deiner Sklavin, dass du aus Rom kommst. Familie dort hast. Verheiratet bist. Also versuch nicht mir jemanden unterzujubeln, zu dem wir ne halbe Ewigkeit unterwegs wären. Du hast sowieso keine Chance zu fliehen, falls du darauf spekulierst.“
    „Ich mein's ernst. Mein Vater lebt in Ravenna, und er wird mit Sicherheit zahlen. Mehr als meine Verwandten in Rom.“ Sie bemühte sich, den flehenden Unterton zu unterdrücken, bemühte sich, nicht zu bettelnd zu klingen. Rom war keine Alternative, nicht für sie, nicht im Moment. Sie wusste nur nicht, wie sie ihm das klar machen sollte, ohne zu sagen warum – und das würde sie ganz sicher nicht erzählen.
    Ihre Worte brachten allerdings nur, dass seine Miene sich nun wirklich verfinsterte. „In Ordnung... ich dachte ja du würdest die Möglichkeit nutzen, dir mein Wohlwollen zu sichern. Aber wenn du darauf nicht angewiesen bist...“ Er machte eine Kopfbewegung, und im nächsten Augenblick wurde sie wieder von dem Kerl gepackt und hochgezogen, der sie hergebracht hatte. „Bring sie zurück.“

    Nigrina versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken. Es war dunkel geworden, und seit die Kerle sie erwischt und zu ihrem Lagerplatz gebracht hatten, hatte sich keiner mehr um sie gekümmert. Sie und ihr Leibwächter waren zu den zwei Sklaven gebracht worden, die offenbar die einzigen Gefangenen waren, die die Banditen gemacht hatten. Von den Männern, die ihr Mann angeheuert hatte um für ihren Schutz zu sorgen, war nichts zu sehen – tot oder geflohen, und Nigrina wusste nicht, was sie mehr hoffen sollte: tot, weil diese Idioten es fertig gebracht hatten, den einfachen Auftrag – ihre Sicherheit zu gewährleisten – komplett zu versauen; oder doch lieber geflohen, weil das die Chance erhöhte, dass sich bald irgendjemand auf die Suche nach ihr machte. Dass überhaupt jemand bemerkte, dass sie nicht da war, wo sie sein sollte. Im Grunde waren ihr die Männer des Velanius aber egal. Das einzige, was ihr wirklich Sorgen machte, war der Verbleib ihres Sohns... hier war er nicht, die beiden Sklaven wussten von nichts, und die Banditen würde sie ganz sicher nicht mit der Nase darauf stoßen, dass da womöglich noch einer mehr war, den es lohnte einzufangen. Weshalb sie die nicht fragen konnte, was aus dem Fratz geworden war.


    Was die Kerle hier allerdings von ihr wollten, was sie mit ihr vorhatten: davon hatte sie bislang nicht die geringste Ahnung. Sie wusste nur, dass die Kerle wussten wer sie war... es hatte nicht viel gebraucht, nur ein paar Fragen im Grunde an die beiden Sklaven, die seit dem Überfall in der Hand der Männer waren, und das Mädchen war weinend zusammengebrochen und hatte unter zahllosen Versicherungen, dass es ihr leid tue, gestanden, dass sie erzählt habe wer da auf der Reise gewesen sei. Wäre Nigrina nicht gefesselt gewesen, hätte sie sich auf die Sklavin gestürzt und ihr eigenhändig noch ein paar mehr Schmerzen zugefügt als sie ohnehin schon erlitten hatte. So allerdings hatte sie sich mit einem bösen Blick begnügen müssen – und im Übrigen damit, irgendwie die Zeit totzuschlagen und gleichzeitig ihre Fassung zu bewahren. Sie bewegte sich konstant an der Grenze zur Panik entlang, und es half dabei nicht im Mindesten, dass sie immer noch Unterleibsschmerzen und immer noch leichte Schmierblutungen hatte. Aber sie konnte jetzt nicht durchdrehen. Sie wollte jetzt nicht durchdrehen. Sie war eine Patrizierin. Sie war eine Flavia. Sie würde diesen Drecksäcken nicht die Genugtuung sie ausflippen zu sehen. Sie würde ihre Würde bewahren, und ihren Stolz. Auch wenn das einfacher gedacht als getan war.

    Gut. Keiner von der Sorte, die dem Boten die schlechte Nachricht anlasteten. Foslius blieb regungslos stehen, während der Aurelier nachzudenken schien – und nickte dann. „Danke für deine Gastfreundschaft.“ Er würde irgendeinem Sklaven Bescheid geben müssen, dass der zum Tor lief und sich um sein Pferd kümmerte, das da noch rumstand, aber damit wollte er den Mann vor sich nicht belästigen. Wenn den Sklaven hier klar war, dass er für die Nacht Gast war, dürfte es kein Problem darstellen, dass auch für das Vieh gesorgt wurde. „Eines noch... ich hab auf dem Weg hierher läuten hören, dass dein Name auf ner Liste mit ein paar Staatsfeinden steht.“

    Es dauerte. Und dauerte. Und dauerte. Foslius blieb in der Zeit ungerührt im Atrium stehen, betrachtete hier und da das ein oder andere Detail und schlug einfach die Zeit tot.
    Als der Aurelier endlich erschien, neigte er den Kopf zum Gruß, aber sein Gegenüber hielt sich hielt sich nicht lange mit Grußfloskeln auf, deswegen beschloss er, dass er ebenfalls getrost darauf verzichten konnte. „Ich bin einer der Männer von Velanius Andronicus“, schickte er zunächst kurz voraus, damit der Aurelius wusste, worum es ging. Foslius ging mal davon aus, dass der Senator diesen Namen wohl kannte, auch wenn ihm wohl keiner der Namen seiner Männer ein Begriff war. „Wir sind überfallen worden. Gut zwei Tagesmärsche von Rom entfernt. Deinen Sohn konnte ich sicher nach Tarquinia bringen, von deiner Frau fehlt jeder Spur. Oder hat gefehlt, als ich von da aufgebrochen bin.“ Er machte eine kurze Pause und musterte den Mann, versuchte zu erkennen, wie er diese Neuigkeiten aufnahm. Als Bote war man besser beraten, beim Überbringen mancher Nachrichten vorsichtig zu sein. Trotzdem fügte er noch an: „Cilnius hat deinen Sohn bei sich aufgenommen. Und ein paar Männer zusammengestellt, um nach der Flavia zu suchen.“

    Foslius hatte nicht wirklich ein Auge für die Details des Atriums. Genauer gesagt hatte er gar keinen Blick dafür. Er hoffte einfach nur, der Aurelius war wirklich hier und würde rasch auftauchen, damit er hier nicht allzu lange warten musste. Und bald Bescheid wusste, ob er sich einfach so wieder auf den Weg machte und erst würde zusehen müssen, wo er als nächstes was zu tun herbekam, oder ob der Aurelius gedachte ihm noch weitere Aufträge zu geben.

    Wenn jemand da war, würde jemand ziemlich sicher mit ihm sprechen, spätestens wenn er den Namen Velanius hörte. Oder besser: Foslius war sich da ziemlich sicher. Aber er sparte es sich, das zu sagen, sondern folgte dem Sklaven nur wortlos hinein.

    Diesmal runzelte Foslius leicht die Stirn. Er hatte eigentlich gehofft, drum herum zu kommen den genauen Namen zu nennen – immerhin hatte es ja einen Grund, dass er mit seinen Kameraden Frau und Kind des Senators aus Rom hinaus hatte schmuggeln sollen. Allerdings musste er mit dem Mann reden. Jedenfalls dann, wenn er in Zukunft auch noch weitere – gut bezahlte – Aufträge von ihm bekommen wollte. Und immerhin war er jetzt ja schon im Lager, wenn der Aurelius also hier war wie er geplant hatte, würden zumindest die Sklaven des Praetoriums das wohl ohnehin wissen. Trotzdem senkte er leicht die Stimme, als er sagte: „Ich rede von Sextus Aurelius Lupus.“ Und nur für den Fall, dass das diesem misstrauischen Kerl immer noch nicht genügte, fügte er an: „Ich hab Neuigkeiten von seinem Sohn und seiner Frau. Kann ich jetzt mit ihm reden?“

    „Er selbst“, antwortete Foslius lakonisch und wiederholte in etwa das, was er auch schon der Torwache gesagt hatte. „Vor anderthalb Wochen ungefähr hat er Velanius Andronicus und seinen Leuten – dazu gehöre ich – in Rom einen Auftrag gegeben, kurz bevor er hierher aufbrechen wollte. Ich muss ihm Bericht erstatten drüber.“ Allgemein genug gehalten, um ungefährlich zu sein, falls ungebetene Ohren es hörten – und für Foslius zählte da im Grunde jeder außer seinem Auftraggeber selbst und vielleicht noch dem Legat dazu –, aber doch deutlich genug, dass zumindest Aurelius Lupus selbst klar werden sollte, dass es stimmte.