Beiträge von Sextus Aurelius Lupus

    Die Umstände der letzten Zeit hatten es nötig gemacht, ein wenig Korrespondenz zu tätigen. Kontakte, die man hatte, musste man nutzen. Vor allem, wenn das weitere Überleben davon abhängen mochte, wen man kannte und wer zu einem hielt. Und zwar war sich Sextus bei einigen der Briefe, die er schrieb, ganz und gar nicht sicher, dass sie an eine Fraktion gehen würde, die letztendlich auf seiner Seite stand, doch war er gewillt, darauf zu spekulieren, dass sie zumindest nicht gegen ihn stehen würden. Und Nicht-Feinde waren ihm in seiner ganz konkreten Situation schon durchaus etwas wert.


    Der erste Brief ging selbstverständlich wie schon angekündigt an seinen alten Mentor. Und ebenso selbstverständlich in etruskischer Sprache und Schrift, dass nicht jeder trottelige Bote mitlesen konnte.



    Sextus Aurelius Lupus suo Marco Cilnio Lanato s.d.


    geehrter und geachteter Freund, deine Nachricht erreichte mich in schwerer Stunde. Gewiss hast du schon von der Proskription gehört, und noch sicherer weißt du, welche Schatten diese Dinge in die Zukunft werfen.
    Ich muss dich herzlich danken für die Aufnahme meines Sohnes. Er wird sich beizeiten sicher als fleißigerer Schüler als ich erweisen und sich der Ehre bewusst sein, von einem weisen Mann wie dir zu lernen und an deiner Erfahrung und Weitsicht teilzuhaben. Meine tiefste Dankbarkeit sei dir für all das stets sicher.
    Auch weiß ich deine Bemühungen zu schätzen, den verbleib meiner Frau zu erfahren. Doch hast du mich stets gelehrt, Realist zu sein und die Dinge zu sehen, die da sind, und nicht die, die ich vielleicht sehen möchte. Ich weiß deine noble Geste durchaus zu schätzen, doch wenn die Zeichen auf ihren Tod deuten, wie sie es jetzt tun, dann wäre es zu viel Kostenaufwand, dennoch weiter zu suchen. Dennoch danke ich dir für deine Fürsorge, die eines echten Patriziers und etruskischen Edelmannes mehr als würdig ist.


    Und dennoch komme ich nicht umhin, dich um mehr zu bitten. Ich weiß, die Freundschaft zu mir fordert von dir schon mehr, als es unter Freunden ziemlich ist, aber mir bleibt keine andere Wahl, als dich dennoch zu ersuchen. Mir bleibt nur die Hoffnung, dass du die Dringlichkeit meiner Bitte auch darin erkennst, dass ich sie überhaupt an dich richte. Ich kann von dir nicht verlangen, dass du meiner Bitte nachkommst. Auch bei aller Freundschaft verstehe ich, mehr noch, fast hoffe ich, dass du ihr nicht nachkommst und dich so nicht in Gefahr begibst. Dennoch ist es auch meine Pflicht, die Worte niederzuschreiben:
    Ich bitte dich, mit den ehrwürdigen Decuriones von Tarquinia zu reden. Du siehst die Zeichen, sie stehen auf Krieg. Auch sie werden die Zeichen sehen, vor allem, wenn sie ihnen ein so weiser Haruspex wie du sie ihnen vorlegt. Ein Saeculum geht zuende, und wie immer wird es das mit Blut und Tod tun.
    Ich kann nicht verlangen, dass sich Tarquinia auf die Seite eines geächteten stellt. Ich kann nicht verlangen, dass es auf unserer Seite steht. Aber ich hoffe, dass du die Stadtväter überzeugen kannst, die Tore der Stadt zu schließen und zumindest nicht dem Usurpator Vescularius Gefolgschaft zu leisten. Überzeuge sie, zumindest den Ausgang des Krieges abzuwarten. Ich bin sicher, dass sie sehen, dass dies in jedem Fall zu ihrem Vorteil sein wird. Und wenn es dir möglich ist, richte dies auch in den anderen Städten des alten, etruskischen Bundes aus. Das Wort Tarquinias hat unter allen Städten Etrurias nach wie vor das meiste Gewicht.


    Zuletzt noch ein paar persönliche Worte. Ich hoffe, dass du, mein Freund, die kommenden dunklen Tage mit all deinen Lieben heil überstehst. Ich werde Turms ein Opfer darbringen, dass er unsere Wege wieder zusammenführt, wenn diese Zeit vorüber ist.


    Lebe wohl



    Ähnliche Briefe gingen - selbstverständlich ebenfalls in etruskisch - auch an die Männer des Collegium Haruspicium, die mit ihm aus Rom geflüchtet waren. Praktischerweise nicht nur nach Tarquinia, sondern auch Veji, Caere, Chiusi und Pisa. Mit etwas Glück konnte Sextus Norditalia zumindest dazu bewegen, nicht gegen sie zu sein. Überhaupt war die Aussicht für die meisten Städte vermutlich sehr verlockend, sich aus dem ganzen möglichst herauszuhalten und niemanden zu unterstützen, um am Ende nicht auf der falschen Seite gestanden zu haben.
    Allerdings lag Etruria praktischerweise direkt nördlich von Rom, so dass, sollte Salinator stadtrömische Truppen gen Norden schicken, diese mit etwas mehr Glück vor verschlossenen Toren auf ihrem Weg stehen würden, was ihr vorankommen und vor allen Dingen ihren Nachschub deutlich erschweren konnte. Eine kleine und überdies unbegründete Hoffnung, wie der realistische Teil von Sextus' Verstand durchaus realisierte, aber den Versuch war es wert.


    Nach also zehn Briefen und tintenschwarzen Fingern – und der immer immanenter werdenden Frage, welche Boten er damit wohl beauftragen konnte – kamen noch ein paar persönlichere Briefe hinzu.
    Sextus schrieb natürlich auch nach Rom. An siene Kontakte, an seine Zweckverbündeten, an jeden, der weit genug von Salinator entfernt war, um seinen Brief anzunehmen, ohne dass er darin genauere Details preisgab. So schrieb er unter anderem auch an entferntere Bekannte.



    Sextus Aurelius Lupus Purgitio Macre s.d.


    Ich kann nur hoffen, dass diese Zeilen von dir nicht sofort dem Feuer überantwortet werden, ehe du sie gelesen hast. Und ich könnte es dir nicht verübeln, wenn du genau dies tun würdest, schreibt dir hier doch ein Mann, der öffentlich gebranntmarkt wurde. Ich bin sicher, dass es auch Gerüchte meine Flucht betreffend gibt, die mich mit dem Tod des Kaisers in Verbindung bringen wollen, und ich bin mir ebenso sicher, dass wir beide wissen, von welcher Quelle diese Andeutungen oder auch offenen Anschuldigungen stammen mögen.


    Ich will von dir keine Absolution oder Verständnis für meine Flucht. Darüber mögest du dir dein Urteil bilden, wie auch immer es ausfallen mag. Ich habe meine Gründe, die dir angesichts der Lage in Rom vor meiner Abreise plausibel erscheinen mögen oder auch nicht. Ich denke nicht, dass ich dich, solltest du sie für unredlich halten, davon würde überzeugen können, dass sie nicht aus Selbstsucht oder gar berechtigter Furcht aufgrund einer Missetat geschah. Ich kann dir nur mit meinem Wort versichern, dass nichts von dem, was mir zur Last gelegt wird, zutreffend ist, was du glauben kannst oder nicht. Diese Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen.


    Doch dies ist nicht der Grund dieses Briefes. Vielmehr schreibe ich dir, da mein Patron, der Mann meiner geliebten Cousine Aurelia Flora, der Consular Tiberius Durus auch mit deiner Familie verbunden war durch deine Ehefrau. Ebenso wie mein Vetter Aurelius Ursus mit ihm verbunden war durch die seine. Und der durch Vescularius ermordet wurde. Ja, ich schreibe ermordet, auch wenn ich um die exakten Umstände seines Todes vermutlich genauso wenig weiß, wie du. Dennoch war er ein redlicher, aufrechter Römer, Consular Roms, Pontifex, langjähriges Senatsmitglied, und wie auch immer sein Tod vonstatten gegangen sein mag, er hatte besseres verdient, als sein Haus von Prätorianern auf Befehl des Vescularius erstürmt zu wissen, so dass nicht nur er, sondern auch Teile seiner Familie und seiner Getreuen den Tod finden mussten.
    Ich weiß, auch wenn du als ebenso aufrechter Römer mit mir darin sicherlich übereinstimmst, dass uns dieses Wissen nicht zu Verbündeten und auch nicht zu Freunden macht. Dennoch hoffe ich, dass du über dieses Wissen verstehst, dass die folgenden Taten, die so unabwendbar sind wie der Lauf der Gestirne, nicht aus Niedertracht oder Gier geschehen werden, sondern zu ehren eines großen Mannes, der besseres verdient hat als die Behandlung, die ihm zuteil wurde. Vor kurzer Zeit verkündeten die Zeichen, dass die Götter nicht zulassen würden, dass der Schuldige am Tod des Kaisers seinen Thron mit noch blutigen Händen ergreift. Nun, die Götter werden es nicht zulassen, auch wenn es Menschen sein werden, derer sie sich als Werkzeug bedienen.
    Ich möchte, dass du weißt, dass ich nicht ein Cnaeus Marcius Coriolanus bin. Ich tue Dinge nicht aus übertriebenen Stolz oder gekränkter Eitelkeit. Niemand von uns wird sich mit Roms Feinden verbünden, um gemeinsam Rom anzugreifen, auf dass unsere Mütter und Ehefrauen uns erst wieder zur Vernunft bringen müssten um einzusehen, welche Frevel wir zu begehen uns anschicken.
    Ich kann von dir nicht erwarten, auf unserer Seite zu stehen. Ich kann vor dir noch nicht einmal erwarten, dass du mir glaubst. Und dennoch habe ich die Hoffnung, dass wir uns nicht als Feinde wiedertreffen müssen, und vielleicht, wenn die Götter das Schicksal zu seiner Erfüllung gebracht haben, uns als Freunde wiedertreffen können.


    Mögen die Götter ihre schützende Hand über dich und deine Familie legen.




    Und schließlich kam noch ein Brief, bei dem Sextus wirklich lange überlegen musste, wie er diesen befördern könnte. Über den Cursus Publicus ging es in keinem Fall. So dämlich, solche Korrespondenz über die Staatspost zu verschicken, welche den Prätorianern unterstand, konnte wohl kein Mensch sein.



    Sextus Aurelius Lupus Quintilio Sermo s.d.


    Wie du unzweifelhaft erkennen kannst, lebe ich noch. Sogar gut genug, einen Boten zu dir nach Ägypten zu schicken, um dich um Nachricht zu bitten.


    Ich weiß nicht, wie dein Kenntnisstand da unten ist, aber im Sinne unseres Bündnisses, auf das ich mich mit diesen Zeilen auch berufe, kläre ich dich auf, soweit das in meinen Fähigkeiten liegt. Der Kaiser ist tot, ermordet durch Gift. Mein Patron Tiberius ist tot, ermordet durch Vescularius. Letzterer mordet und verhaftet sich auch fröhlich weiter durch die Reihen des Senats, vor allem der Nobilitas und des Patrizierstandes, von welchen man im Anschluss üblicherweise nichts mehr hört. Ein Umstand, der mich dazu veranlasst hat, Rom zu verlassen, trotz – oder gerade wegen – der Todesdrohungen, die Vescularius auf ein Verlassen der Stadt geäußert hat.
    Im Moment bin ich in Mantua bei meinem Vetter und seiner Legion. Ich muss dir wohl nicht erklären, welche Aussichten sich daraus ergeben und was in Zukunft passieren wird. Auch habe ich Grund zu der Annahme, dass der mir bekannte Senator Cornelius Palma, der ebenso zum Verräter erklärt wurde, sich zu seinen Truppen nach Syria abgesetzt hat. Hierzu hast du vermutlich bessere Informationen als ich, teilt sich der Osten des Reiches doch einige Handelswege und damit Informationswege.


    Und nun komme ich auch zum Kern, weshalb ich dir schreibe: Wo steht Ägypten? Ich weiß, du wirst vermutlich nichts ausrichten können, Ägypten auf die eine oder andere Seite zu ziehen – aber sei dir versichert, wenn dein Legat sich überlegt, sich gegen Vescularius zu richten, wäre JETZT die Gelegenheit dazu.
    Doch ich benötige DRINGEND Informationen, wo Ägypten stehen wird. Meiner Einschätzung nach wird dies ein Spiel zwischen Vescularius und Cornelius, und auf welcher Seite ich zu stehen habe, wird klar sein. Ich verlange von dir keine Entschiedung, auf welcher Seite du dich aufhalten wirst, dir stehen wohl beide Möglichkeiten durchaus offen, da du Plebejer bist und deine Gens nicht der Nobilitas des Reiches angehört. So erwachsen dir aus beidem Möglichkeiten.
    Aber im Zuge unseres Bündnisses und für die Informationen, die ich dir hier zuteil werden lasse, hoffe ich, dass du mir den Gefallen erwiderst und mich, sobald es dir möglich ist, über einen Boten in Kenntnis setzen lässt. Sofern wir dann noch hier in Mantua verweilen, weshalb ich auf rasche Antwort oder einen intelligenten und vertrauenswürdigen Boten hoffe.



    Jetzt blieb nur noch die Frage nach den Boten zur Überstellung dieser Nachrichten.

    Im Grunde war es nicht Sextus' Gastfreundschaft, sondern eine praktische Erwägung, denn er würde Zeit zum Aufsetzen eines ordentlichen Schriftstückes benötigen. Zeit, die er im Grunde genommen nicht hatte. Und letztendlich war das hier auch nicht sein Heim, sondern eine Legio, die wohl als solche keine Gastfreundschaft aussprechen konnte. Und so bedeutete der Dank nicht mehr als eine Floskel, die Sextus schon bereits wieder im gehen abwinken wollte, als der Bote doch noch etwas sagte. Etwas dummes. Nicht für Sextus, sondern für ihn.
    “Ich weiß“ sagte er kurz und hielt in seinem ursprünglichen Vorhaben, den Raum zu verlassen, noch einmal kurz inne. Da Sextus nicht an die Nettigkeit der Welt glaubte, folgerte er, dass der Bote dies aus einem Grund gesagt hatte. Vermutlich, um seine Reaktion darauf zu sehen und Geld daraus zu schlagen. Immerhin konnte er ja auch losziehen und aller Welt sagen, dass Ursus einen Staatsfeind beherbergte. Vielleicht wäre irgendwem diese Information etwas wert, so dass die Frage eigentlich die implizit gestellte Frage war, wieviel es Sextus wert war, dass niemand erfuhr, dass er hier war. Die Antwort hierauf war sehr einfach: Nichts. Jeder, der nicht vollkommen idiotisch war, würde sich denken können, wohin er wohl geflohen war, wenn ein Verwandter die nächste Legion zu Rom hinter sich hatte. Im Grunde wunderte sich Sextus noch immer über sein unverschämtes Glück, offenbar trotz Ausrufung zum Staatsfeind so uninteressant zu sein, noch nicht längst zumindest eine Kohorte hinter sich hergehetzt zu wissen.
    Was allerdings nun ganz und gar nicht hieß, dass er es schätzte, erpresst zu werden, selbst wenn dieser Versuch nicht erfolgreich war.
    “Ich wünsche, dass du morgen sehr früh losreitest, mein Diener wird dir die Nachrichten überbringen.“ Mit diesen Worten verließ Sextus den Raum. Oh, er hatte vor, Nachrichten zu schreiben, aber nicht diesem Burschen mitzugeben. Wer wusste schon, wo die am Ende landete? Und dafür waren sie zu wichtig. Nein, der Mann würde Besuch erhalten. Von einer Klinge, die ihn zum Schweigen bringen würde.


    Nein, Erpressung schätze Sextus wirklich überhaupt gar nicht. Und im Moment war jede Überreaktion besser, als einmal zu wenig reagiert zu haben.

    Es waren keine guten Nachrichten, die der Bote da brachte. Er hatte Velanius genug Geld gegeben, um eine ausreichende Truppe aufzustellen, um eben solche Überfälle unwahrschienlich zu machen. Welche Räuberbande legte sich schon freiwillig mit einer zehn Mann starken Reisegruppe an, wo zu fürchten war, dass die eigenen Verluste ähnlich hoch war wie bei den Angegriffen? Aber ganz offenbar hatte ihr Weg sie genau zu dieser einen Räuberbande geführt, der das egal war.
    Seine Frau wurde 'vermisst'. Das hieß nichts anderes wie, dass sie entweder gefangen worden war und freigekauft werden musste – was er sich momentan so wenig leisten konnte wie die Flavier, was Nigrina also zu einer wertlosen Geißel in den Händen ihrer Entführer machte und damit zu einer toten Geißel – oder dass seine Frau schon tot war. Sextus nahm die Nachricht gefasst auf und nickte nur einmal mit einem leichten “Ah“, während er überlegte. Nigrinas Tod würde natürlich die Beziehungen zu den Flaviern schwächen, was sich seine Familie im Moment nicht leisten konnte, weshalb er sich gezwungen sah, die gesamte Benachrichtigung für sich zu behalten. Wäre Nigrina am Leben, würde sie sich wohl am ehesten an ihren Vater verweisen lassen, wenn sie auch nur halbwegs Grips hatte, und Gracchus musste unterdessen nichts davon erfahren. Zum Glück verstanden er und Nigrinas Vater sich nicht besonders, auch wenn seine Frau außer kleinen, spitzen Anmerkungen dann und wann nie etwas wirklich hatte fallen lassen, was Sextus als Grund verwerten könnte.
    Und wenn sie tot war, musste Gracchus erst recht nichts davon erfahren, bis der Krieg vorüber wäre. Vielleicht würde Sextus dann erneut eine Flavia heiraten, oder um des möglichen Bündnisses zu den Claudiern, an das Ursus ja zu glauben schien, auch eine Claudia. Doch darüber konnte er sich Gedanken machen, wenn er selbst das Ende dieses aufkommenden Gewittersturms überlebte.
    Zunächst einmal war aber sein Sohn und Erbe in Sicherheit und Cilnius noch immer in Freundschaft mit ihm verbunden. Der alte Mann hatte wohl doch eine leicht sentimentale Ader und seinen ehemaligen Schüler noch immer in positiver Erinnerung. Darauf musste sich Sextus vornehmlich konzentrieren.
    “Lass dir ein Bett zeigen und etwas zu essen geben. Ich werde dir morgen ein Schreiben an die Cilnii mitgeben.“ Diese Verbindung war zu wertvoll in einer Welt ohne jegliche Verbündete, als dass Sextus sie ungenutzt lassen wollte. Und auch andere Schrieben musste er dringend aufsetzen. So lange seine Botschaften noch ihr Ziel erreichen mochten und nicht abgefangen werden würden.

    Es dauerte eine Weile, bis Sextus auch kam, den Boten in Empfang zu nehmen. Im Grunde erachtete er dieses Treffen angesichts der jüngsten Ereignisse eher als Zeitverschwendung und er gedachte nicht, es außerordentlich in die Länge zu ziehen, ehe er sich wieder den naheliegenderen Problemen zuwenden würde. Obwohl Sextus in seinem Leben vermutlich mehr Bildung erhalten hatte als die meisten seiner Zeitgenossen – als Haruspex hatte er schließlich nicht nur die Libri haruspicini studiert, sondern auch Astronomie, Zoologie, Ornithologie, Metereologie, Botanik, Geologie und sogar Themen der Hydraulik, oder schlicht alles, was man irgendwie wissen konnte – hatte dieses Wissen ganz und gar eklatante Lücken, sobald es zu Fragen der militärischen Ordnung ging. Und alles Wissen über Vögel, Tiere, das Wetter, die Sterne und die Wolken brachte ihm im Moment leider weniger als das Wissen, wie viele Männer in einem Zelt schliefen und wer welche Cohorte befehligte und wozu welches Feldzeichen da war. Oder kurzum: Er hatte für Botschaften nicht viel Zeit zu erübrigen.


    Und so kam er auch recht zackig ins Atrium und überging die üblichen Höflichkeitsfloskeln – überhaupt, sein gegenüber war ein bezahlter Bote, da erübrigten sich überschwängliche Reden oder Gastfreundschaft – und kam gleich zum Punkt der Sache. “Du hast Nachrichten für mich, dann berichte.“

    Sextus versuchte in zunehmendem Halbschlaf noch den Worten seines Vetters zu folgen, aber er konnte regelrecht mitverfolgen, wie sie in seinem Kopf weniger und weniger Sinn ergaben. Es war enervierend, den eigenen geistigen Verfall beobachten zu können, noch fähig, sich darüber zu ärgern, aber nicht mehr fähig, etwas aktiv dagegen zu unternehmen. Und so fehlte ihm gänzlich eine sinnige Erwiderung zu Ursus' Verkündigung, er wolle erst auf mehr Informationen zu Tiberius Durus' Tod warten.


    “Wenn es wichtige Neuigkeiten gibt, lass mich bitte wecken. Achja... Vorschriften... also militärische Vorschriften, wenn du da ein Schriftstück hast oder einen Mann abstellen kannst, der verhindert, dass ich mich als Tribun dann lächerlich mache, dann lass es mir bitte zukommen.“ Auch wenn Sextus nie vorgehabt hatte, sich mit militärischen Dingen zu befassen, in diesem speziellen Fall war er aber mehr als nur bereit, von seinen ursprünglichen Plänen abzurücken. In jenen war nämlich auch kein Bürgerkrieg und keine Flucht aus Rom vorgesehen gewesen, geschweige denn die Möglichkeit des eigenen Todes. Und wenn Sextus schon Krieg führen und vielleicht sterben musste, wollte er das wenigstens so kompetent wie möglich angehen.


    Und so verabschiedete er sich sehr müde von seinem Vetter und stolperte mehr als dass er ging zum Praetorium und dem erstbesten freien Bett, das er fand, um wie ein Stein zu schlafen. Ohne sich vorher auszuziehen. Oder sich zu waschen. Einfach nur süßen, himmlischen Schlaf genießend.

    Eigentlich war es Sextus schon klar gewesen, dass Ursus nicht unbedingt seinen Männern sagen würde, dass sie einem Kaisermörder dienten, wenngleich Ursus nicht selbst die Klinge geführt hatte. Allerdings war es doch auch ganz beruhigend, dass Ursus sich um die Details schon Gedanken gemacht hatte und offenbar schon die ersten Schritte unternommen hatte. Und so nickte Sextus nur schläfrig. “Ich bin am überlegen, Tiberius' Tod ebenfalls für diesen Zweck zu nutzen, als weiteres Opfer gegen Vescularius. Immerhin hat er öffentlich gegen ihn Stellung bezogen. Und so könnte man auch eventuellen Gerüchten vorweggreifen, die den Flaviern oder uns in Bezug auf Ulpius' Tod schaden könnten. Ich bin sicher, dass Vescularius sämtlichen Patriziern oder auch dem ganzen Senat die Schuld geben wird. Du kannst es dir ja einmal durch den Kopf gehen lassen, ob wir den Onkel deiner Frau ebenfalls vor deinen Männern als Opfer des ganzen darstellen wollen. Ist ja nicht einmal ganz falsch.“
    Sextus stellte seinen halbleeren Weinbecher auf Ursus' Tisch und merkte, wie furchtbar müde er war. In Luxus schwelgen? Für Sextus wäre ein dünner Teppich als Schlafunterlage im Moment schon ein höchst willkommener Komfort, für weiteren Luxus, als zu schlafen, hatte er wohl die nächsten zehn Stunden nicht die rechte Kraft. Danach konnte er sich um schöne Dinge wie ein Bad, eine Rasur, etwas zu essen und vielleicht eine Sklavin Gedanken machen. Ob für das alles Zeit blieb, war die andere Frage. “Vielleicht könnte einer deiner Männer mich noch zu einem Bett führen. Ich fürchte, ihr findet mich sonst morgen irgendwo in den Gängen auf einem Teppich eingerollt wie ein Hund und schnarchend.“

    Kurz überlegte Sextus, ob er Ursus von seiner zweiten Idee erzählen sollte, den Flaviern bei der Rückerlangung der Kaiserwürde vielleicht zu helfen. Allerdings war Sextus trotz Müdigkeit soweit zurechnungsfähig, dass er das Argument seines Vetters als richtig einschätzte: So viel militärischen Rückhalt wie Cornelius oder Vescularius hatte wohl sonst niemand im Moment. Von daher lief es auf eine Entscheidung zwischen diesen beiden hinaus, und da war die Wahl durchaus sehr, sehr einfach.
    Abgesehen davon, dass Sextus keine Ahnung hatte, was mit den Flaviern nun letztendlich geschehen war und wo sie hingelangt warne. Geschweige denn, ob sie auch nur annähernd derartige Ambitionen hegten. Gracchus war Sextus bislang als eher bescheiden und zurückhaltend gegenübergetreten, zwar sehr pflichtbewusst, aber nicht unbedingt ambitioniert. Und Furianus war in der Zeit, in der Sextus das tirocinum bei ihm absolviert hatte, auch stets sehr ruhig gewesen.


    Mit welcher Sicherheit Ursus aber für den Claudier sprach, konnte Sextus nicht nachvollziehen. Er glaubte kaum, dass die beiden bei derartig großen Entfernungen und einem derartigen Missverhältnis der beiden Familien zueinander durch einen – wie Ursus selbst sagte – gelegentlichen Kontakt sich ein derartiges Vertrauensverhältnis begründen ließ. Allerdings war er definitiv zu müde, seinem Vetter die Augen zu öffnen, dass die Welt nicht ein wunderbarer Ort war, bevölkert von rechtschaffenen Menschen, die sich an alle Gesetze von Anstand und Ehre hielten. Meistens war die Welt ein dreckiger, stinkender Ort mit unbequemen Schlafplätzen, schlechtem Essen und Menschen, die einem lieber die Klinge in den Rücken rammten, als auch nur mit einem zu sprechen.
    Es war nicht so, als ob Sextus den Claudiern misstraute – und hätte wohl laut gelacht bei Ursus' Interpretation seiner Worte, wenn er sie nur wüsste. Sextus traute nur schlicht niemandem, denn dafür kannte er die menschliche Rasse zu gut. Und doch erkannte er die Sinnlosigkeit darin, dies seinem Vetter zu erklären. Sollte er an die Ehre glauben, auch an die der Claudier. Sextus stellte keine Erwartungen an seine Mitbürger und wurde darin auch nur selten enttäuscht.


    Doch schließlich war es der letzte Punkt, der Sextus wirklich vor Augen führte, wie müde er doch in Wirklichkeit war. Den Gedankengang von Ursus konnte er nicht nur nachvollziehen, im Grunde ehrte es ihn, was Sextus sehr wohl verstand. Zwar war er für Schmeicheleien aller Art nicht besonders empfänglich – Jahre des Komplimente-Machens bei allen möglichen passenden und unpassenden Gelegenheiten stumpften die eigene Seele gegen derlei äußerst effektiv ab – dennoch honorierte er es durchaus. Mehr noch, es revidierte seine ursprüngliche Annahme, Ursus würde ihm nicht trauen.
    “Nein, nicht dumm, Titus. Es tut mir leid, ich bin wohl wirklich zu müde, derlei Gespräche sinnig zu führen. Dein Vertrauen in mich ehrt mich. Lass uns noch einmal darüber reden, wenn ich ausgeschlafen bin. Ich denke, das wäre wohl das beste. Dann kannst du mich auch deinen Offizieren vorstellen, ohne dass ich aussehe wie der Unterwelt entsprungen.“

    Wie meinte Ursus jetzt diese Frage? Ob es Sextus gefallen würde, an den Fäden einer Marionette zu ziehen? “Nun, wenn du mich ganz ehrlich fragst und ich mir etwas wünschen dürfte vom Schicksal, dann wäre mir ein Kaiser Aurelius weitaus lieber als jede Marionette. Doch fürchte ich, dass unsere Gens dafür nicht den nötigen Rückhalt haben dürfte, weder beim Militär, noch in der Bevölkerung. Leider sind wir trotz allem in den Augen des Plebs wohl noch immer syrische Händler, auch nach drei Generationen.“
    Sextus bewegte sich ein wenig im Raum, als er merkte, wie seine Glieder immer bleierner zu werden schienen, je länger er stand. Das Aufstehen hatte geholfen, die Müdigkeit erst einmal zurückzudrängen, aber die Erschöpfung machte sich doch bemerkbar. Wenn er aber in Bewegung blieb, ließ sich hier auch noch ein wenig Wachheit herausschlagen. Und solange er nur langsam durch den Raum schlenderte – sofern das mit müden, toten Bewegung 'schlendern' genannt werden durfte – sah er nicht aus wie ein Wolf im Käfig.
    “Aber so, wie es im Moment ist, ist mir schon ein patrizischer Kaiser mit vernunftbetonter Gesinnung und den Göttern gefällig lieber als so ein plebejischer Homo Novus, der meint, über den Göttern und den Traditionen zu stehen und schlimmer als Sulla zu herrschen.“ Ja, in der momentanen Lage wäre wohl so gut wie alles besser als ein Potitus Vescularius Salinator, dem jetzt nicht einmal mehr ein Kaiser im Weg stand, der ihn zur Mäßigung hätte rufen können.


    Dass Ursus und der Claudier Briefkontakt pflegten, wunderte Sextus im ersten Moment, im nächsten jedoch nicht mehr allzu sehr. Ursus' Mutter war eine Claudia, da war es nicht allzu ungewöhnlich, zu deren Gens Kontakt zu haben. Auch wenn Sextus keine Ahnung hatte, wie nah oder weit entfernt Ursus' Mutter mit Claudius Menecrates verwandt war.
    Dennoch war es eine Information, die ihm früher mehr genutzt hätte als jetzt im Moment, änderte es doch nichts an der derzeitigen Situation.
    Noch dazu, wo Ursus ganz offen bestätigte, dass Menecrates die Aurelier hasste. Hass war eine starke Emotion, die normalerweise in unguten Handlungen gipfelte. “Er kann sich auch einfach neutral verhalten und abwarten und den Vescularius dann schlagen, wenn er nach seiner Schlacht gegen uns – der wir kaum ausweichen können – geschwächt ist. So hat er sowohl die verhassten Aurelier als auch den Vescularius los“, gab Sextus daher zu bedenken. Er sah das ganze nicht so blauäugig in schwarz und weiß aufgeteilt, und enthielt sich daher auch Kommentaren über die claudische Ehre. Hatte ihr berühmtester Namensvertreter nicht seine Kaiserherrschaft hinter einem Vorhang versteckt begonnen, nachdem er an einer Verschwörung zur Ermordung seines Vorgängers höchstwahrscheinlich Anteil hatte? Der überdies mit ihm verwandt war?


    Die nächste Frage aber dann überraschte Sextus doch. So sehr, dass er stehen blieb und Ursus erst einmal reichlich verwirrt anschaute. “Wo sollte ich denn sonst sein, wenn nicht an deiner Seite?“ Welches Bild bei allen Göttern hatte Ursus von seinem Vetter, wenn er daran auch nur eine Sekunde lang zweifelte, und wie hatte er dieses Bild von ihm erlangt? Hatte Sextus sich auch nur einmal irgendwie feige, kriecherisch oder ungerecht seiner Gens gegenüber verhalten? Er wüsste nicht, wann das gewesen sein sollte...
    Verwirrt schüttelte er leicht den Kopf, um etwas Ordnung in die abstrusen Gedanken zu bringen. “Ich hatte gedacht, du ernennst mich am Einfachsten zu einem Tribun. Schlimmer als ein junger Kerl zwischen Vigintivirat und Quästur kann ich auch nicht sein“, scherzte er leicht, um die Stimmung zu lockern, die Ursus mit seiner Frage hervorgerufen hatte. Nichts desto trotz würde er sich dieser Worte wohl erinnern.


    Vor allem, wenn er die nächsten Worte hörte. Hatte er Ursus nicht eben noch erklärt, dass sowohl Claudius Menecrates als auch Annaeus Modestus keinen besonderen Grund hatten, ihn auch nur annähernd freundlich zu behandeln? Gut, letzterer konnte die Erbschaftssache vergessen haben, aber riskieren musste man es ja nicht unbedingt.
    “Nun, ich könnte sicherlich nach Germania reisen. Allerdings sollte das doch eher jemand machen, dem die besagten beiden Männer neutraler oder besser noch freundlicher gegenüberstehen, meinst du nicht? Immerhin geht es darum, dass sie im besten Fall auf deiner Seite stehen. Das sollte besonders im Falle von Claudius doch besser nicht von persönlicher Antipathie seinerseits verhindert werden, oder?“

    Zitat

    Original von Titus Aurelius Ursus
    „Du wirst schneller tot sein, als Du denkst, wenn Du Dich nicht ausruhst. Jetzt ist noch Gelegenheit dafür. Wir wissen nicht, was die nächsten Tage bringen. Du wirst Deine Kraft noch brauchen.“ Lupus war kein Soldat, ein solcher hätte gewußt, daß man in Zeiten der Gefahr um jede Stunde froh sein mußte, in der man schlafen konnte.


    „Wenn Du den Cornelier schon getroffen hast, dann bist Du mir einen Schritt voraus. Was ist er für ein Mann? Was hältst Du ganz persönlich von ihm?“ Er hatte sich ganz auf das Urteil von Durus verlassen müssen. Es gab nur wenige Menschen, denen Ursus so viel Vertrauen entgegen bringen konnte, doch Durus war eindeutig jemand gewesen, dem er hatte folgen können. Sein Tod war ein unglaublicher Verlust. „Wenn Cornelius entkommen ist, wird er dorthin gehen, wo er die meisten Truppen hinter sich vereinen kann. Britannien kann ich mir kaum vorstellen. Zu weit weg von allen anderen Kontakten und anderen Truppen. Ich an seiner Stelle würde eher Syrien wählen. Oder Germanien, wenn ich dorthin Kontakte hätte. Ich habe keine Ahnung, wo die Kommandanten in Germanien stehen. Nur von Claudius kann ich ziemlich sicher sagen, daß er gegen Vescularius steht. Annaeus... Ich kann es Dir nicht sagen. Er scheint sich damals gut mit Flavius Furianus verstanden zu haben, als er als Quästor nach Hispania ging. Der Flavier ist ganz sicher kein Freund von Salinator. Wenn es da noch Verbindungen gibt, dann könnte Modestus auf unserer Seite stehen.“ Zu viele Unsicherheiten. Viel zu viele Unsicherheiten.


    „Ja, meine Frau ist noch hier. Aus dem einfachen Grund, daß es momentan scheinbar keinen sichereren Ort gibt. Wo soll ich sie hinschicken? Die Landgüter der Tiberier sind in dieser Zeit so wenig sicher wie unsere eigenen. Da scheinen mir fünftausend Soldaten doch der bessere Schutz zu sein.“ Er vertraute auf die Treue seiner Männer. Wenn er das nicht mehr konnte, nun, dann war sein Leben eben verwirkt. Und auch das seiner Familie. Manchmal mußte man eben das eine oder andere Risiko eingehen. „Natürlich, ich werde es ihr ausrichten. Die Nachricht wird sie schwer mitnehmen. Sie hat ihren Onkel sehr geliebt.“ Ja, er mußte dringend mit ihr sprechen. Es war besser, sie hörte es von ihm als von einem anderen.


    Ja, Sextus würde seine Kraft sicher noch brauchen, da war er mit seinem Vetter einer Meinung. Allerdings glaubte er bei aller Eile dann doch nicht, dass er nicht mehr zum schlafen kommen würde, ehe Salinator hier aufmarschieren würde. So schnell war dann wohl doch keine Legion. Doch trotz aller Müdigkeit und aller daraus resultierenden schlechten Laune wusste er, wie kontraindiziert ein Streit mit Ursus hierüber wäre.
    “Eine Stunde mehr wird mich nicht umbringen. Die halt ich jetzt schon noch durch“, meinte er also auf seine charmante Art und Weise mit einem leichten Lächeln, auch wenn er im Moment damit wohl eher aussah wie Pluto auf Socken.


    Und das hier war im Moment auch wichtiger als sein persönliches Wohlbefinden. Und je mehr er mit Ursus jetzt noch klären konnte, umso länger konnte er im Anschluss schlafen, ohne sich dabei ständig zu fragen, was er verpassen würde.
    “Der Cornelius ist... ruhig. Gesetzt. Etwas unscheinbar vielleicht, so dass er zur großen Heldenfigur eher weniger taugen mag, auch wenn sein Lebenslauf wohl für sich spricht. Der Mann hat mehr Auszeichnungen als Tiberius, Flavius und du zusammengenommen. Ein angenehmer Gesprächspartner ohne großartige auslassende Emotionsausbrüche wie bei Vescularius, und auch ohne dieses Gierige... Ein Politiker, würde ich sagen. Vernunftsmensch. Römer, im guten Sinn des Wortes. Kein Idealist oder Träumer, kein Gutmensch. Er hat sich durchaus berechnend auch geäußert, ohne dabei aber ins Vulgäre zu verfallen. Er gäbe einen passablen Kaiser ab, mit dem man arbeiten kann.“ Arbeiten, wohlgemerkt, nicht ihn lenken. Der Mann war sicher keine Marionette, dafür hatte er dann doch zu viel Erfahrung.
    “Und ich hoffe, dass du recht hast. Ich bin kein Soldat und kenne Taktik eher von der Landkarte und aus Büchern, daher vertrau ich auf deine Einschätzung. Ich hoffe nur, dass die Antipathie des Claudius zu Salinator größer ist als die gegen die Aurelii, so dass er an unserer Seite stehen würde und nicht wartet, wie wir mit unseren Problemen fertig werden, um sich dann um die Reste zu kümmern.“ Immerhin schlug der Mann so zwei Fliegen mit einer Klappe. Und nach der geplatzten Hochzeit von Claudia Deandra mit Marcus Aurelius Corvinus und der Ablehnung seines Enkels bei den Salii Palatini waren die Claudier durchaus sehr verschnupft ihrer Familie gegenüber gewesen. SEHR verschnupft.
    “Vielleicht wäre es an der Zeit, da genaueres herauszufinden und Kontakt aufzunehmen. Vielleicht auch nach Osten zu den Legiones, die zuvor dem Cornelius gedient haben. In jedem Fall sollten wir nicht hier bleiben und einfach abwarten, bis wir am Ende allein dastehen mit einer mickrigen Legion.“ Er sah kurz zu seinem Vetter auf und verbesserte sich noch halbherzig. “Selbst wenn es die beste Legion von allen ist.“ Sextus war zwar kein Soldat, aber in Mathematik war er gut. Und drei Legionen waren mehr als eine.


    Als das Gespräch dann aber auf Septima kam, konnte Sextus seinen Vetter beim besten Willen nicht verstehen. “Du wirst doch auch Freunde außerhalb unserer oder ihrer Familie haben, die sie und deinen Sohn aufnehmen würden?“ fragte er schon fast resignierend zurück. Das konnte doch nicht sein, dass Ursus so absolut gar kein Sozialleben pflegte. Er war Kommandant einer Legion, als solcher musste er doch Klienten haben!
    “Titus... ich will dich in deiner Entscheidung nicht kritisieren. Aber wir werden in einem Krieg bald sein. Wir werden hier weg müssen, marschieren müssen. Kämpfen müssen. Ein Feldlager ist kein Platz für eine Frau. Wie soll sie reisen? Wohl kaum zu Pferd an deiner Seite, oder willst du, dass deine Männer dich auslachen? Und du wirst auch nicht auf einen Wagen Rücksicht nehmen können, nicht Rücksicht nehmen dürfen, wenn wir ein Schlachtfeld erreichen müssen. Wir werden nicht die ganze Zeit auf ebener Straße unterwegs sein können. Und ich glaube kaum, dass du im Ruf stehen willst, keine Entscheidung ohne deine Frau an deiner Seite treffen zu können.“
    Die Welt war sehr einfach aufgeteilt, wenn man sich das ganze mal grob ansah. Die Männer waren dazu da, Politik zu machen, Krieg zu führen und die Familie zu beschützen. Die Frauen waren dazu da, das Heim zu hüten, Kinder zu bekommen und großzuziehen. Männer mischten sich nicht in die Bereiche der Frauen ein und Frauen blieben aus denen der Männer fern. Und wenn es einmal anders war, gab es mehr als hämische Kommentare. Solcherlei Gerüchte hatten schon mehr als eine politische Karriere zerstört.
    “Im Moment hast du noch die Möglichkeit, sie überall unterzubringen, wo du es in der Hand hast. Später sind die Möglichkeiten vielleicht nicht mehr so groß. Was ist, wenn wir nach Norden über die Alpen müssen, um zu den Truppen in Germania aufzuschließen? Das ist nichts für Frauen und Kinder.
    Und es besteht auch die Möglichkeit, dass wir verlieren. Und in so einem Fall wünsch ich deiner Frau nicht, dass sie einer Cohorte vom Kampf aufgeputschter und vom Blutrausch beseelter Männer in die Hände fällt, für die sie weder Patrizierin noch Geißel ist, sondern nur eine Frau, an der sie ihre aufgestaute Lust ausleben können.“

    Sextus wusste wirklich nicht, wie er es seinem Vetter sagen konnte, dass dieser ihn so verstand, wie Sextus das meinte. Er hatte Nigrina ja aus eben jenen Gründen nicht hierher mitgenommen, und er hatte diese Entscheidung nicht aus einer Laune heraus gefällt. “Deine Frau ist die Mutter eines Aurelius, Titus. Ich wünsche nicht, dass ihr ein Leid geschieht. Es ist deine Entscheidung, in die ich dir weder hineinreden kann noch möchte. Aber vielleicht solltest du es noch einmal überdenken, ehe dir diese Entscheidung von den Umständen abgenommen wird. Krieg ist kein Platz für Frauen.“

    Verdammt, er war wirklich zu müde. Sein verstand funktionierte nur mehr mit Schneckengeschwindigkeit. Dennoch wusste er um die Wichtigkeit der Dinge, die Ursus fragte, und wenn er seinen Vetter zu schneller Handlung drängen wollte, dann sollte er das jetzt in Angriff nehmen.
    “Ausruhen kann ich mich, wenn ich tot bin“, knurrte er hauptsächlich auf Wut auf seine eigene Schwäche und stand einen Moment auf. Im Stehen war es bedeutend schwerer, einzuschlafen, als auf jedem auch noch so unbequemen Stuhl.


    Und jetzt verstand auch Sextus, was Ursus mit dem Cornelier meinte. Kurz kam der Gedanke in seinen Sinn, dass diese Rückfrage wohl bedeutete, dass Ursus sich dem Mann anschließen würde. Was den Alternativplan, doch vielleicht einen Flavier oder gar sich selbst auf den Thron zu hieven natürlich ins Unerreichbare schob. Sextus ordnete seine Gedanken, so gut es eben ging, ehe er versuchte, so leise wie möglich zu antworten. “Doch, natürlich hat er mit uns gesprochen. Beim letzten Zusammentreffen in Rom war der Mann auch anwesend, um sich allen beteiligten vorzustellen. Tiberius und Flavius Gracchus wollten auch das Testament dergestalt verändern, dass es den Cornelius als Erben benennt. Ich denke, dass sie dies noch getan haben werden. Aber der Mord am Kaiser war etwas zu schnell, als dass es wirklich dem Plan entsprochen hätte. Eigentlich hätte Tiberius noch die Einheiten hinter sich bringen wollen, so dass wir den Vescularius gefangennehmen können, ehe so etwas passiert wie das hier jetzt.“ Sextus fragte sich zwar durchaus, ob sein Verhältnis zu Durus wirklich so gelitten hatte, wie es den Anschein hatte, und ob sein Patron ihn in Kenntnis gesetzt hätte. Aber andererseits hatte er genauso wenig Beweise dafür, dass Durus ihn informiert hätte, wie dafür, dass er ihn ausgeschlossen hätte. Von daher war die logischere Wahl, dass Durus sie alle in Stellung gebracht hätte, um Salinator dingfest zu machen.
    “Der Cornelius hat sich schon an dem Tag abgesetzt, als der Tod des Kaisers verkündet wurde. Am nächsten Tag kam er nicht zur Senatssitzung und war dann unauffindbar. Wenn er also nicht in irgend einem Kerker verrottet oder abgeschlachtet wurde wie Tiberius, ist er wohl entkommen. Seine letzten Ämter waren in Syria und Asia. Sein Bruder sitzt in Britannia. Ich weiß nicht, ob er eher zu alten Bekannten oder eher der Familie flüchtet, so gut kenn ich ihn nicht.“ Was wirklich ein Jammer war. Das würde einige Dinge erleichtern.


    “Und ich bin mir sehr sicher, dass die Stadteinheiten hinter ihm stehen. Auch die Prätorianer. Oder welchen Grund sollten sie sonst haben, brav wie große, schwarze Hunde die Tiberii umzubringen und die Vinicii einzukerkern? Das waren keine Cohortes, das waren die Schwarzröcke. Wenngleich der Terentius, der sie jetzt anführt, mit der Nichte von Decimus Livianus verheiratet ist, der ja bekennender Gegner des Vescularius war. Dennoch denke ich, dass wir bestenfalls mit seiner Neutralität rechnen können. Bei den Cohortes und den Vigiles ist es ganz aussichtslos. Da hat der Vescularius sehr treue Männer an die Spitze gesetzt. Der Sohn des Praefectus Vigilium war zuletzt Ädil, nachdem Vescularius ihn schon durch alle vorangegangenen Ämter komplimentiert hat.“ Sextus war vielleicht kein Militärs, aber er war ein hinreichend guter Beobachter der politischen Strukturen.
    “Was die Truppen in Germania angeht, könntest du aber recht haben. Wissen wir denn, wo sie stehen? Kennst du die Kommandeure dort? Oder den Annaer?“ Ein kurzes Zögern. “Vergiss die letzte Frage“, schüttelte er über sich selbst den Kopf. Verdammt, Müdigkeit war schlimmer als Alkohol, wenn man nachdenken wollte. Da vergaß man Dinge, über die man soeben noch gesprochen hatte.


    “Deine Frau ist noch hier, oder? Kann sie denn reisen? Die Zeit, sie in Sicherheit zu bringen, könnte knapp sein. Zumal ihre Verwandten dezimiert wurden. Hast du einen Ort, an den du sie schicken könntest?“ Sextus hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er jetzt ausgerechnet auf die Tiberia kam. Sollte Ursus ihn fragen, er hatte keine Antwort. Vielleicht, weil er sich einen Moment gefragt hatte, ob seine Frau schon in Tarquinia war, als er sich mögliche Marschrouten durch den Kopf gehen ließ. Vielleicht auch ein anderer Grund. Es war auch gleichgültig, wie er darauf kam. “Und richte ihr bitte mein Beileid aus, sollte ich noch schlafen, wenn du ihr den Tod ihres Onkels berichtest.“

    Jetzt, da er angekommen und in relativer Sicherheit war, als sich nach und nach die Furcht legte, nicht mehr aufzuwachen, würde er einschlafen, wurde die Müdigkeit geradezu erdrückend. Sextus wusste, dass er wach bleiben musste, dass jede Minute, die er an Vorsprung für sie herausgeholt hatte, eine Minute war, die sie nutzen mussten. Schlafen konnte er, wenn er tot war, noch lange genug. Nur irgendwie war sein Körper da zunehmend anderer Meinung als sein Verstand. Und letzterer boykottierte auch noch seine vernünftigen Denkprozesse, indem er wirre Traumbilder immer wieder in die so bemüht zurechtgelegten Worthülsen einschob.
    “Irgendwas ist schief gelaufen. Ich nehme an, Tiberius hätte uns noch gewarnt, bevor sein Mann tätig wurde. Es war zu schnell und zu überstürzt“, antwortete Sextus so gut es ihm möglich war auf die leise Frage seines Vetters. “Ich weiß nicht, ob Vescularius einen Informanten hat oder nur auf gut Glück alle politischen Gegner ausschält. Tiberius und die Vinicii haben durchaus öfter gegen ihn Partei ergriffen. Vinicius Lucianus hatte bei seiner letzten Rede vor dem Senat zu seiner Kandidatur ja noch betont, dass er die Senatoren gegen Vescularius wieder stark machen wolle. Worte wie Hochverrat sind damals ja schon gefallen. Aber ich würde momentan nicht wetten.“
    Vielleicht kam es dem Vescularius gar nicht ungelegen, dass Valerianus gestorben war, und vor allem sein Sohn mit ihm. So hatte er jede Legitimation, alle ihm unliebsamen Feinde aus dem Weg zu räumen und als Mörder zu präsentieren. Dass er dabei sogar recht hätte, war da schon beinahe nebensächlich. Er brauchte nicht einmal zwingend die Wahrheit wissen, um sich selbst in Position bringen zu können.


    Avianus... Avianus... Sextus Gedanken drifteten wieder weiter in Richtung Somnus' Reich. Er zwang sich, die Augen weit zu öffnen und auf die Frage zu antworten. “Welchen Grund sollte er haben, zu diesen Zeiten mehrere Tage lang nicht nach Hause zu kommen? Meinst du, er wäre gegangen, ohne seine Verwandten zu warnen oder mitzunehmen?“ Sextus hätte ihn auch mitgenommen. Einfach aus Prinzip, weil sie denselben Gensnamen trugen.


    “Wie kommst du jetzt ausgerechnet auf den Cornelier?“ fragte Sextus zurück und versuchte, zu eruieren, ob er nur einen Moment weggenickt war und vergessen hatte, dass sie sich über den Cornelius unterhalten hatten, oder ob sein Vetter da gerade tatsächlich aus heiterem Himmel gerade auf den zu sprechen kam.
    “Den Annaer kenn ich gar nicht. Oder... stimmt nicht, er war beleidigt, weil ich den Prätor nicht überreden konnte, ihm eine Erbschaft zuzusprechen, als ich Vigintivir war. Ist aber schon Jahre her.“
    Einen Moment schien die Müdigkeit wieder nonexistent zu sein, als Setus einen wachen Punkt erreichte. Es würde sich vermutlich gleich umso schrecklicher rächen, da war er sicher, aber im Moment fühlte er sich aufnahmefähig. Oder zumindest so etwas ähnliches, hatte das beständige Brummen hinter seiner Stirn einem fast rauschartigem Hochgefühl Platz gemacht.
    “In Rom hat Vescularius die Cohortes, die Vigiles und die Prätorianer hinter sich. Mit denen hält er die verdammten Mauern einen ganzen Monat, wenn es sein muss. Schutzlos würd ich das nicht nennen. Wenn ich er wär, wär mein erster Bote zu meinen Truppen nach Pannonia gegangen, und mein zweiter an Marius Turbo. Und wenn die nicht schlafen, dürften die auf dem Weg hierher sein. Allzu viel Zeit würd ich uns nicht einräumen.“

    Sextus erwiderte die Umarmung rudimentär. Eher könnte man sagen, er hielt sich einen Moment an Ursus fest und partizipierte an dessen Standfestigkeit, ehe er sich dankbarerweise auf den angebotenen Stuhl niederließ und den Wein entgegennahm. Ja, brauchen konnte er ihn ganz sicher. Nur trinken sollte er ihn erst später, denn auf dermaßen nüchternen Magen würde dieser eine Becher ihn zweifelsohne lallen lassen. Als Schlafmittel für später wäre es aber mehr als wirkungsvoll.


    Ursus brachte ihn auch gleich auf den Stand, den er hatte. Es ging nicht anders, Sextus entfuhr ein kleines Lachen, dass aber mehr von Verzweiflung denn von Humor zeugte. Aber es hatte beinahe schon eine tragische Komik, dass Salinator so dicht an der Wahrheit vorbeigeschrappt war, aber offenbar noch nichts gewusst hatte, als er seine Boten an die Legiones geschickt hatte. Senatoren, deren Namen nicht genannt wurden... das hieß nichts anderes, als dass der Vescularius sie noch nicht gewusst hatte. Im Endeffekt war es auch gleichgültig. “Der Praefectus Urbi ist wahrhaftig schnell“, spöttelte Sextus leise und blickte auf die hypnotisch spiegelnde Oberfläche des dunklen Weins.
    Er blickte einen Augenblick einfach nur vor sich hin, ehe er realisierte, dass er auf dem besten Wege war, hier und jetzt sofort einzuschlafen, ohne etwas gesagt zu haben. Von dieser Erkenntnis aufgeschreckt setzte er sich gerader hin und blinzelte einmal angestrengt. “Verzeih, ich habe die letzten vier Tage nur einmal ein paar Stunden auf hartem, gefrorenen Boden geschlafen.“ Er sammelte seine Gedanken und fing dann einfach an, zu sprechen, auch wenn er sich über die vernünftige Reihenfolge nicht ganz sicher war.
    “Tiberius Durus ist tot. Kaum war die Meldung vom Tod des Kaisers in Rom, hat Vescularius die Stadt abriegeln lassen und den Notstand aufrufen lassen. Es gab Unruhen auf den Straßen und viele Verhaftungen. Die Prätorianer sind zur Villa Tiberia marschiert. Keiner weiß etwas genaues, aber Tiberius ist definitiv tot. Und sie haben auch eine tote Frau aus der Villa geschafft.“ Sextus machte eine kleine Pause, um einen Schluck Wein zu nehmen. Die Gedanken in seinem Kopf waren etwas wirr, und so folgte auch der nächste, wie er ihm in den Sinn kam. “Ich habe von Flora nichts gehört. Oder von seinem Sohn. Ich gehe davon aus, dass alle, die in der Villa waren, getötet worden sind.“ Noch ein Schluck wein, ein größerer. Sextus wusste, dass er nicht zu schnell trinken sollte, aber egal, wie kaltschnäuzig er auch sein mochte: Flora war doch seine Cousine. Sein Fleisch und Blut. Und wenngleich es ihn weder in Trauer noch in Verzweiflung stürzte, so weckte es in ihm ein großes Bedürfnis nach Rache.
    “Bei den Viniciern waren die Prätorianer auch. Auch wenn ich da von keinen blutigen Leichen gehört habe. In den Reihen des Senats fehlen sehr viele Gesichter, und mit jedem Tag werden es mehr. Hauptsächlich die Nobilitas wird von Vescularius systematisch ausgelöscht, allen voran die Patrizier. Selbst bei den Claudiern sollen sie aufmarschiert sein. Aquilier. Antonier. Tarquitier. Manlier. Die Flavier sind auch vor einigen Tagen verschwunden, auch wenn ich hier nichts von schwarzem Besuch gehört habe.“
    Sextus stellte den Weinbecher ab, weil er ihm schwer wurde und er nicht noch mehr trinken wollte.
    “Von Avianus habe ich seit einigen Tagen auch nichts mehr gehört“ , fügte er an, leiser. Nicht, dass er und Avianus sich nahe gestanden hätten. Aber sie wohnten im selben Haus, in welchem der Vetter seit einigen Tagen nicht mehr zugegen gewesen war. Und in diesen Zeiten war das ein noch besorgniserregenderes Zeichen als sonst schon.


    “Selbst die etruskischen Patrizier sind in Angst. Der Hauptgrund, warum ich hier sein kann, denn das Collegium Haruspicium hat Vescularius davon überzeugen können, eine Prozession für die Götter zu veranstalten, die auch jenseits des Pomeriums entlanglief. Das war vor vier Tagen, und seitdem bin ich unterwegs. Vor sechs Tagen habe ich Nigrina und Lucius nach tarquinia geschickt, damit sie in Sicherheit sind. Ich bin mir sicher, es wird nicht lange dauern, bis Vescularius hierher marschiert.“
    Ursus hatte eine Legion, er war Patrizier, mit der Nichte von Durus, den Salinator ermordet hatte, verheiratet, mit Sextus zwar entfernt verwandt, aber dennoch verwandt, der Tutor der vermutlich ermordeten Aurelia Flora. Kurz gesagt, Ursus war gefährlich für Salinator, und er würde ihn mit Sicherheit ausschalten müssen.

    Ein hölzernes Pong ertönte, gefolgt von einem kindlichen Aua. Sextus drehte sich nur halb in die Richtung des Geräuschs, während der cornicularius pflichtschuldig verschwand und Ursus von seiner Ankunft unterrichtete. Es gab nicht sehr viele Möglichkeiten, woher das Geräusch kommen konnte, und der Legionär spielte auch gleich mit und nahm den 'Spion' in Gewahrsam, just als der cornicularius wieder zurück kam und Sextus weiterbat.
    Kurz fiel Sextus Blick auf den Gefangenen. Hagerer Bursche, sah seiner Mutter ähnlich. Fand er zumindest in seinem halbwachen Zustand. Doch längere Betrachtung der vermeintlichen Verwandtschaft – wessen Kinder sollten sonst groß in der Prinzipia rumschleichen, sofern Ursus nicht noch liberaler geworden war, als Sextus ohnehin schon annahm? - blieb ohnehin aus, da Sextus weiter in das Officium seines Vetters ging. Und bei dem folgenden Gespräch waren derart junge Zuhörer vermutlich nicht unbedingt ein passendes Publikum.


    Hatte er gedacht, beim letzten Mal hierher wäre seine Reise schrecklich verlaufen, wollte er es in diesem Moment zurücknehmen. Damals wollte er nur ein heißes Bad, etwas zu Essen und einen trockenen Platz zum Schlafen. Dieses Mal würde er auch nur mit letzterem zufrieden sein. Vorerst zumindest, hatte er die anderen beiden Dinge doch definitiv nötig.
    “Titus, verzeih meine unangekündigte Ankunft, aber du machst dir keine Vorstellung, was in Rom los ist“, fing Sextus auch sogleich an, als er den Raum richtig betreten hatte und die Tür hinter sich geschlossen war. Für das übliche Geplänkel zum Beginn einer netten Konversation unter Verwandten war jetzt definitiv keine Zeit. Und Sextus wäre dafür auch definitiv nicht wach genug gewesen.

    Dieses Mal wusste Sextus zum Glück, wo er hinmusste, auch wenn er dieses Mal gänzlich ungefragt eine Eskorte bekam. Was so ein bisschen Bart und abgetragene Kleidung doch für einen Unterschied machen konnten. Ein Umstand, den Sextus in seinem übermüdeten Zustand gar nicht richtig einzuordnen vermochte, geschweige denn daraus vernünftige Schlüsse ziehen. Das würde ihm wohl erst wieder einfallen, wenn er sich von einem Barbaren in einen Menschen zurückverwandelt hatte.


    “Er sagt es nicht nur, er ist es“, knurrte Sextus der Meldung fast hinterher. Er hatte nach der strapaziösen Reise keinen Nerv mehr, sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. “Und mein Vetter soll sich sofort Zeit nehmen. Ist mir egal, ob er in einer Besprechung oder auf dem Pott ist. Sollte er fragen, sag ihm, dass seine Verwandten in Rom abgeschlachtet werden.“
    Gut, vielleicht etwas übertrieben. Aber 1. würde es den cornicularius zur gebotenen Eile antreiben, 2. würde es allen hier anwesenden die Dringlichkeit der Nachrichten klar machen, 3. war es ja nicht gänzlich falsch, da zumindest Tiberius Durus – der zwar nicht verwandt, aber verschwägert war – wohl von den Prätorianern ermordet worden war und nicht klar war, ob es Flora nicht ebenso ergangen war und 4. hatte Sextus seit vier geschlagenen Tagen kaum geschlafen, fast nichts gegessen oder getrunken und daher dermaßen hundsmiserable Laune, so dass es ihm egal war, wie es wirken mochte.

    Mit abgerissener und absolut unstandesgemäßer Kleidung, durchgefroren und mehr als nur übermüdet, seit vier Tagen unrasiert, hungrig und durstig, absolut unpatrizisch und nicht nach Senator aussehend erreichte Sextus auf dem struppigen Pferd das Tor zur Castra der Legio I Traiana. Auch wenn er nicht glaubte, dass die Wachen ihn in diesem Zustand wiedererkennen würden, hoffte er doch darauf, möglichst sofort zu seinem Vetter vorgelassen zu werden.
    Er zügelte sein Pferd vor den wachhabenden und sah auf die Männer herunter. “Ich bin Senator Aurelius und muss augenblicklich mit meinem Vetter, Legat Aurelius Ursus sprechen. Ich trage Gladius und Pugio bei mir. Und jetzt führt mich zu ihm.“ Er hatte keine Lust, sich jetzt hier lange aufhalten zu lassen oder großartig zu erklären. Er streckte den Legionären einfach die Hand hin, an der er den Siegelring der Aurelier sowie seinen Senatorenring trug, und sollten sie ihm wirklich noch die Waffen abnehmen wollen, würde er sie ihnen auch noch aushändigen. Solange er nur sofort zu seinem Vetter vorgelassen wurde.

    Das erste Pferd hatte er angetrieben, bis auf seinen Flanken Schaum stand und er jeden Atemzug des Tieres als rasselnde Vibration zwischen seinen Schenkeln wahrnahm. Der Mann, der ihm das zweite Tier noch in den späten Abendstunden verkaufte – und ihm dafür ein mittleres Vermögen abnahm – wollte es zuerst gar nicht nehmen. “Taugt nur noch zum schlachten“, hatte er gesagt, und auch wenn Sextus von Pferden keine Ahnung hatte, wusste er, dass sein Gegenüber recht hatte.aber das war egal. In den ersten Stunden zählte nur, eine möglichst große Distanz zwischen sich und Rom zu kriegen, ehe jemand merkte, dass er weg war.
    Sextus hatte sich da keine Illusionen gemacht. Überhaupt war es ein kleines Wunder, dass die Prätorianer noch nicht vor seiner Tür aufgekreuzt waren. Natürlich hatte er Erkundigungen eingezogen, was mit seinen Verbündeten geschehen war, und auch, wenn er nichts allzu genaues wusste, waren die Informationen, die er erhalten hatte, eindeutig genug. Sein Patron war tot, ebenso wie seine Nichte. Beide waren gestorben, als die Prätorianer in ihr Haus eindrangen. Sein Sohn verschwunden, und selbst von Flora hatte Sextus keine Nachricht. Die Vinicier hatten ebenfalls Besuch von den Schwarzröcken bekommen und waren seitdem verschwunden. Sextus vermutete, dass sie wohl auch alle tot waren. Die Flavier waren auch seit einigen Tagen nicht mehr gesehen worden, auch wenn Sextus hier nichts von bewaffnetem Besuch gehört hatte. Selbst Avianus war verschwunden, ohne dass Sextus etwas von ihm gehört hätte.
    Das alles ließ nur einen Schluss zu: Salinator hatte jemanden gefunden, der vor seinem Tod geredet hatte. Und vermutlich noch redete. Sie waren aufgeflogen. Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis auch vor seiner Tür jemand mit einem Gladius stehen würde. Und Sextus hatte nicht vor, brav wie ein Opferlamm darauf zu warten, dass man ihm die Kehle durchschnitt.


    Mit dem zweiten Pferd war er noch in die Nacht hinein geritten. Noch vor Sonnenuntergang hatte er die Straße verlassen und hatte – wesentlich langsamer – den Weg querfeldein eingeschlagen. Auf der Straße, allein und im Dunkeln, da hätte er sich auch gleich ein Schild um den Hals hängen können: Raubt mich aus! Wenngleich seine Räuber das vermutlich nicht hätten lesen können. Dennoch war es sicherer, er ließ sein Pferd im Dunkeln fernab der Straße von Waldstück zu Waldstück trotten. Als die Sonne schließlich gänzlich untergegangen war und der Vollmond die einzige Lichtquelle war – Sextus hatte den Zeitpunkt seiner Flucht SEHR genau geplant – ging es langsamer voran, aber stetig. Durch Waldstücke führte er das Tier am Zügel. Er konnte sich nicht leisten, dass das Tier sich auf unwegsamem Boden ein Bein brach.
    In einem kleinen Hain stieß er auf einen Weihestein, der für Silvanus aufgestellt worden war. Auch wenn es gefährlich war, hielt er kurz an und nahm sich die Zeit für ein kleines Gebet. Er nahm ein wenig Wasser aus der Feldflasche an seinem Sattelzeug und wusch sich rudimentär die Hände. “Selvans“, sprach er den Gott auf Etruskisch an. “Gott, der du die Reisenden schützt, der du in den Wäldern wohnst. Bärentöter, Herr der Natur. Ich bin Sextus Aurelius Lupus, und ich verspreche dir einen prächtigen Weihestein, prächtiger als diesen hier, wenn du meinen Weg schützt. Lass mich wohlbehalten in Mantua ankommen. Verwirr die Hunde, die mir folgen werden, und verwische meine Spur. Lass deinen Hund mich auf sicherer Spur führen, bis ich bei meinem Vetter angekommen bin.“ Aus seinem Beutel holte Sextus einen Aureus und legte ihn auf den kalten, mondbeschienenen Stein. Do, ut des.
    Erst danach machte er sich auf den weiteren Weg. Schlafen tat er nicht, es war zu gefährlich.
    Mit dem nächsten Morgengrauen stieg er wieder in den Sattel und suchte die nächste Straße, immer Richtung Nordosten, Mantua zu. Er legte nur eine Rast an einer Wegestation ein, aß etwas schlechten Getreidebrei und erfand auf Nachfrage ein paar Neuigkeiten aus Asculum, wo er vorgab, herzukommen. Danach weckte er sein Pferd, das vor dem Haus schlief, und ritt auch schon weiter. Auch die zweite Nacht reiste er weiter, fernab der Straße. Einmal meinte er Stimmen zu hören und verbarg sich in einem Waldstück hinter stacheligem Dickicht. Sein Pferd tat ihm den Gefallen, ruhig zu bleiben, auch wenn er selbst nach einer Stunde nichts neues mehr hörte. Keine knackenden Äste, keine Stimmen, nur einen verirrten Kauz, der die Nacht mit seinen Rufen durchzog. Er reiste weiter, bis er meinte, keinen Schritt mehr wach machen zu können, und suchte sich einen Rastplatz. Auch wenn es bitterkalt war, hüllte er sich nur in die mitgenommenen beiden Schaffelle in eine Mulde unter einem Baum und schlief, betend, dass das Pferd keine Wölfe oder Bären anlockte. Er war nicht verrückt genug, sich mit einem wilden Tier auf einen Kampf einzulassen.


    Ob Silvanus ihn erhört hatte oder nicht, konnte Sextus nicht sagen. Er öffnete die Augen, als ihn die Sonne weckte. Der Morgen war schon weit vorangeschritten und er hatte länger geschlafen, als er wollte, aber er lebte noch, und das Pferd war auch noch da. Er rappelte sich hoch und verfluchte die steifen Knochen, versuchte etwas Wärme in seine Glieder zu bekommen. Aufgrund der winterlichen Temperaturen ein sinnentleertes Unterfangen. Feuer machte er immernoch keines. Er schüttete etwas frostiges Wasser in seine Handfläche und gab es so dem Pferd zu trinken, das zwar die Hälfte verschüttete, dennoch seinen Durst stillen konnte. Sextus selbst nahm nur einen kleinen Schluck. Er konnte sich nicht leisten, erst auf die suche nach einem Bach oder einem Brunnen zu gehen und musste daher mit seinem Wasser haushalten.
    Mit dicken Ringen unter den Augen machte er sich auch schon wieder auf den Weg. Inzwischen hatte er vermutlich alle Verfolger abgehängt, sofern diese nicht eine ebensolche Verbissenheit an den Tag legten wie er selbst. Dennoch war Sextus nicht gewillt, sein Tempo zu verlangsamen und sich in Sicherheit zu wiegen. Dass seine Abwesenheit auffiel, war er sich relativ sicher. Vielleicht nicht unbedingt am selben Tag seines Aufbruches, er hatte keine weiteren Termine gehabt. Mit Glück fiel seine Abwesenheit noch nicht einmal bei der Senatssitzung des folgenden Tages auf. Aber spätestens heute würde man sich wohl wundern, dass er gänzlich abgängig war, ebenso wie seine Frau. Vermutlich würde er noch eher in Mantua sein, als sie in Tarquinia, dennoch war sie aus der direkten Verfolgungsrichtung in jedem Fall hinaus. Denn dass er versuchen MUSSTE, zu seinem Vetter zu gelangen, wäre jedwedem Verfolger wohl klar. Und auch Salinator. Ursus war mit der Nichte von Tiberius Durus verheiratet. Nicht einer entfernten verwandten x-ten Grades, sondern der Tochter seines Bruders. Da musste man kein Genie sein, um einen Zusammenhang zu Tiberius Durus und Sextus, der dessen Klient und Ursus Verwandter war, zu erkennen.


    Den ganzen weiteren Tag trieb er sein ähnlich erschöpftes Tier zu erhöhtem Tempo an. An einer Station des Cursus Publicus tauschte er sein Pferd gegen ein frisches – was wieder einige Münzen obendrein kostete, damit der Stationarius auf den Tausch einging. Das letzte Tier schließlich brachte ihn schließlich mit einer weiteren schlaflosen Nacht einen Tag später in den Abendstunden nach Mantua.

    Wie zu erwarten gewesen war, nutzte der PU die Situation gleich einmal für sich. Sextus hatte es auch nicht anders erwartet und nahm es relativ gelassen hin. Auch die Reaktion des Publikums, die wohl als leicht verwirrt zu kategorisieren war, war nichts, was nicht in seinen Plan gepasst hätte. Alles lief im Grunde genau so, wie es sollte.
    Auch, als der Priester das Volk mit einem lauten “Missio“ entließ und damit das Ritual für beendet erklärte, war Sextus mehr als nur zufrieden mit sich. Er selbst schloss sich den übrigen Haruspices an, die sich in Richtung Tempelküche begaben, um dem Kochen und dem Verbrennen der Innereien des Schafes beizuwohnen, um aus dem Rauch noch gegebenenfalls weitere Zeichen abzulesen.


    Nun, das zumindest war der offizielle Grund, warum sich die Männer nun außerhalb der Sichtweite des Stadtpräfekten und der Priesterschaft der Concordia sowie des Volkes begaben. Von letzterem blieb noch ein guter Teil auch nach der Entlassung vor Ort und Stelle, um selbst einige Opfer an die Göttinnen zu bringen und damit ihren Willen zum Frieden demonstrierten, oder aber auf ein bisschen Fleisch des Opferschafes spekulierend.
    Inoffiziell kam rege Geschäftigkeit in einen Teil der Männer, sobald sie außer Sicht waren. Sextus war nicht der einzige Patrizier im Collegium, der nicht länger in Rom sein wollte. Und um seinen Plan durchzuführen war es das einfachste gewesen, eben jenen Teil der Männer einzuweihen, die ähnliche Ambitionen hegten wie er. So war die Last der Vorbereitungen geteilt und jetzt in diesem Moment keine Erklärungsnot vorhanden, als Sextus seine Kopfbedeckung abnahm und an einen Sklaven weiterreichte, den er schon am gestrigen Tag hierher geschickt hatte. Der Mann hatte in etwa seine Größe und Statur, weshalb Sextus ihn ausgewählt hatte. Auch sechs weitere Männer verfuhren ähnlich wie Sextus und schälten sich nach und nach aus ihren Amtstrachten. Eine einfache Tunika wiederum wurde an Sextus gereicht, ebenso wie ein dicker Wollmantel und ein einfacher Hut. Sogar seine Schuhe wurden gegen einfache Calcei getauscht, so dass er hinterher aussah wie ein – zugegebenermaßen gut gewaschener und gut genährter – Bauer.
    “Alles ist bereit?“ hakte Sextus noch einmal bei einem seiner Brüder nach, der mit einem nervösen Nicken antwortete. “Ja, Pferde stehen auch bereit. Danke, Aurelius.“
    Mit einem leichten und wohlplatzierten Lächeln nahm Sextus den Dank an und gab sich charmant. “Danke mir, wenn du in Pisae angekommen bist, Vetulonius. Und die Götter mit dir.“
    Fünfzehn Männer mit auffälligen Mützen und ledernen Überwürfen waren in Richtung Tempelküche gegangen. Fünfzehn Männer mit auffälligen Mützen und ledernen Überwürfen beobachteten, wie die inzwischen gekochten Innereien im Kohlenfeuer Verbrannten. Einige von ihnen unterhielten sich über die Form des Rauches und seine Farbe, während andere ruhig einfach dabei standen. Und Fünfzehn Männer mit auffälligen Mützen und ledernen Überwürfen würden sich auch dem Zug Richtung Stadt anschließen und erneut durch die Stadttore treten.


    Während sechs Männer sich im Getümmel der Massen heimlich, still und leise in verschiedene Richtungen absetze. Einige nach Nordosten, einige nach Nordwesten, einige direkt nach Norden.

    Der Opferhelfer fackelte nicht lange, und schnell ließ das Schaf blutend sein Leben. Das Blut wurde in einer Schale aufgefangen, während das Schaf zusammenbrach. Anschließend öffnete der Cultrarius mit geübten Bewegungen die Bauchdecke des Tieres, um die Innereien, vor allen Dingen die Leber, hervorzuholen. Diese wurde vorsichtig auf eine goldene Platte gelegt und ehrerbietig zu den wartenden Haruspices hinübergebracht.


    Sextus besah sich das blutende Stück Eingeweide ebenso wie seine Kollegen. Natürlich sahen nicht alle fünfzehn so genau darauf, war ja auch gar nicht möglich allein wegen der räumlichen Verteilung aller Beteiligten. Im Grunde war sowieso klar, wie die Botschaft zu lauten hatte, die hier gleich verkündet wurde, unabhängig von eventuellen göttlichen Zeichen auf der Leber. Sextus Blick war eher interessehalber, ob die Götter vielleicht doch etwas mitteilen wollten. Er hatte nicht vor, seinen so wohlgehegten Plan jetzt noch irgendwie zu gefährden. Dafür hatte er zu viel Zeit und vor allen Dingen Geld investiert, damit alles klappte, wie er es wollte.
    “Du weißt, was du zu sagen hast, Larcius?“ Noch immer sahen sie auf die dunkel glänzende Oberfläche der Leber, die passenderweise direkt vor dem angesprochenen in der Schale lag. Sextus hatte den Larcius aus drei Gründen ausgesucht, für das Collegium zu sprechen. Er war Etrusker aus altem Geschlecht, überdies Patrizier. Er hatte Schulden bei Leuten, bei denen auch ein Patrizier besser keine Schulden haben sollte, und daher war er sehr dankbar, dass Sextus das für ihn geregelt hatte. Und zu guter letzt, er hatte einen Sohn, der in Tarquinia ihre Kunst lernen sollte – wo Sextus rein zufällig einige sehr gute Freunde hatte, die den Jungen entweder emporheben konnten, oder in Einzelteilen zu seinem Vater zurückschicken.
    “Ja, aber... ich weiß nicht, ob es richtig ist, Aurelius. Es geht hier um den Willen der Götter bei einem Staatsakt...“
    Zum Glück stand der Mann auch direkt neben Sextus, so dass er ihm von Publikum und auch Opferherrn ungesehen an die Tunika packen konnte und ihn ganz leicht näher zu sich zu ziehen. “Jetzt hör mal zu, Larcius. Wir hatten eine Abmachung, die null und nichtig sein wird, wenn du jetzt nicht losgehst und deine verdammte Pflicht erfüllst. Und zwar Wort für Wort, was wir besprochen haben. Hast du mich verstanden?“ Die anderen Männer in Sextus' näheren Umgebung sagten nichts dazu. Sie gehörten zu seinen Getreuen, er hatte sie sich über die Jahre hinweg gewogen gemacht. Er würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass er ihnen vertraute. Aber zumindest hatte er bislang keinen triftigen Grund, ihnen offen zu misstrauen.
    “Ja... Gut. Aber du trägst die Verantwortung dafür!“ meinte er halb maulend. Sextus ließ den Mann los, damit dieser vor die gebannt wartende Menge treten konnte, um das Urteil der Götter – oder genauer den Ratschluss der Haruspices – zu verkünden. Und zwar Wort für Wort so, wie er es auswendig gelernt hatte, lange bevor die Prozession auch nur gestartet war.


    “Die Göttinnen haben das Opfer gnädig angenommen!“ verkündete er zuerst die Botschaft, die wohl die wichtigste für alle Anwesenden und wohl allen voran dem Opferherrn war. Erst, nachdem sich der kollektiv erleichterte Seufzer wieder gelegt hatte, fuhr er fort. Sextus beobachtete ihn aus dem Hintergrund wie eine Schlange ein Kaninchen, aber er machte seine Sache gut und beging nicht den Fehler, sich umzudrehen oder zu stocken.
    “Und sie senden uns Zeichen. Ein furchtbarer Frevel ist geschehen, und die Göttin sehen drohend hinab auf den Mann, der die Schuld daran trägt. Sie werden nicht zulassen, dass der Mörder unseres geliebten Kaisers mit blutigen Händen nach der Macht greift. Sie werden nicht zulassen, dass er den Platz des Kaisers, nach dem er strebt, lange hält. Sie werden ihren Segen dem wahren Erben dieser Würde schenken und Rom damit Frieden und Einigkeit zurückgeben.“


    Ganz leicht zuckte es um Sextus' Mundwinkel, als der Larcius sich mit diesen kryptischen Worten wieder zurückzog von der Öffentlichkeit. Die Weichen waren gestellt. Sextus hätte den Praefectus Urbi gern mehr herausgefordert, nur war ihm der schmale Grad zwischen Mut und Blödheit durchaus bewusst. Salinator vor dem ganzen Volk hier bloßstellen zu wollen wäre nicht mutig gewesen, sondern lebensmüde. So war es besser. Der Vescularius würde sich vermutlich als Retter Roms aus diesen Worten sehen. Zumindest solange, bis er das Testament des Kaisers in Händen hielt, das Tiberius Durus vor seinem Tod hoffentlich noch hatte austauschen können, und das Palma als Erben nach Maioranus nennen würde. Zwar bezweifelte Sextus, dass der Vescularius sich von ein paar Worten abhalten lassen würde, besonders religiös war er auch nicht. Aber vielleicht reichte es, um ihm etwas Angst ins Herz zu treiben, und vielleicht beging er aus dieser Angst heraus einen Fehler.
    Die Menschen da unten würden nichts davon merken. Egal, ob Sextus seinen Vetter überzeugen konnte, gegen den Vescularius anzutreten, egal, ob sie siegen würden – wobei die Chancen hier bei einem fehlerlos handelnden Salinator deutlich schlechter standen – für das Volk würde hinterher der richtige Mann auf dem Thron sitzen. Jetzt musste Sextus nur dafür sorgen, dass das nicht Potitus Vescularius Salinator sein würde, sondern irgend jemand, der ihnen deutlich günstiger gesinnt war. Vielleicht wirklich Cornelius Palma, sofern der nicht schon tot war. Oder Flavius Gracchus, immerhin hatten die Flavii schon einige Kaiser hervorgebracht. Vielleicht auch Aurelius Ursus, wenngleich sie wohl hierfür spektakulär würden siegen müssen, und Sextus fürchtete, dass sein Vetter keinerlei politisches Gespür hatte, um so etwas anstreben zu können.
    Aber die richtigen Weichen waren gestellt.

    Am Ara Pacis angekommen stieg die Priesterschaft noch weiter zu dem Altar hinauf. Die Haruspices sammelten sich im Hintergrund, während die Priester der Concordia das Kultbild noch immer gut sichtbar nun direkt die Stufen zum Bauwerk hinaufführten und oben vor den Türen zum Tempel platzierten. Das Volk sammelte sich am Fuß des kleinen Tempels auf dem Vorplatz und harrte gespannt der Dinge, die da noch folgen mochten.


    Ein weißes Schaf war schon vorbereitet worden als Opfergabe für die Göttin, die Hufe fein säuberlich nicht nur versilbert, sondern vergoldet, die weiße Wolle gewaschen und mit Kalkpuder durchstäubt, so dass es noch strahlender erschien. Concordia sollte keinen äußerlichen Makel an dem ihr geweihten Tier feststellen.


    Der oberste Priester wartete, bis die Menge aufgeschlossen hatte und der Praefectus Urbi als Opferherr sich auch auf eine gut sichtbare Position neben ihm gebracht hatte. Einer der ministri kam herbei mit einer großen, goldenen Schale voller Wasser, in der eine Rute mit Zweigen eines Ölbaums steckte. So früh im Jahr hatte sie natürlich leider keine grünen Blätter mehr, aber sie würde auch so ihren Zweck erfüllten. Der Priester nahm das Bündel, besprengte damit zunächst seine Mitpriester und die Haruspices, schließlich großzügig über die Menge, die auch noch ein paar Tropfen abbekam, und zuletzt über den wartenden Vescularius, um ihn rituell vor dem Opfer zu reinigen.
    Nachdem er den Zweig wieder zurückgelegt hatte und der Junge sich mit der Schale wieder entfernt hatte. schweifte der Blick des Priesters kurz über die Menge, ehe er seine beiden Hände gut sichtbar auf Kopfhöhe erhob und mit lauter Stimme – selbst noch nach all dem Singen – Ruhe verlangte.
    “FAVETE LINGUIS!“ erschallte es laut über die Köpfe der versammelten Menschen hinweg, und der Priester wartete auch, bis wirklich Ruhe in die Menge eingekehrt war, ehe er fortfuhr.
    “Oh, Concordia, du Vielgerühmte! Dir zu ehren versammeln wir uns hier am Altar deiner Schwester, der glorreichen Pax! Oh Pax, Göttin des Friedens, lächle auf die Bürger Roms herab, deren Herzen immer nach dir verlangen! Glorreiche Göttinnen, hört unsere Worte!“
    Und damit übergab der Priester an den Opferherrn, nachdem Menschen und Götter gleichermaßen darauf eingeschworen hatte, dem Vescularius ihre Aufmerksamkeit zu schenken.