Woher sollte er denn wissen, wie Celerinas Sklaven geheißen hatten? Er wusste noch nicht einmal, wie die verdammte Puppe seiner jüngsten Schwester geheißen hatte, obwohl sie ihm das Ding so lange unter die Nase gehalten hatte und von ihm wollte, dass er salve zu ihr sagte oder ähnlich albernes, bis das Ding irgendwann mal im hauseigenen Brunnen schwimmen gelernt hatte. Und der unterschied zwischen Sklaven und Puppen bestand nach Sextus Auffassung hauptsächlich darin, dass manche Sklaven schwimmen konnten im Gegensatz zu Stoffpuppen. Aber weder das eine noch das andere war ihm wichtig genug, sich von sowas den Namen zu merken.
Aber für solche Fragen hatte er ja die Tafeln. Wer merkte sich schon solche Nebensächlichkeiten? Also griff er danach, suchte die, auf der Grieche und Leibwächter stand und bestätigte dann: “Cleomedes. Derjenige welche, der sich unsäglicherweise in der Villa Tiberia umgebracht hat. Ich hoffe, der Abtransport machte keine allzu großen Umstände?“ Sextus hatte sich bislang gar nicht danach erkundigt, aber man wollte ja höflich sein. Sextus wollte nicht, dass wegen diesem Blödsinn ein noch tieferer Groll entstand, als er wohl ohnehin wegen Laevinas unrühmlichen Abganges noch bestehen mochte. Ja, die Aurelier waren gerade wirklich nicht vom Glück verfolgt. Nichtmal mit den angeheirateten Damen hatten sie besonders viel Glück, wie es schien. Blieb nur zu hoffen, dass er bei seiner Damenwahl etwas mehr Glück hatte. Ansonsten musste er wirklich einmal die Haruspizien lesen, also, so richtig und fundiert, und nicht nur das sagen, wofür der andere ihn bezahlte. Sextus würde auf solcherlei lieber verzichten, vor allem da dabei meist sowieso nichts brauchbares geschweige denn zukunftswirksames herauskam und er, obwohl er es gelernt hatte, nicht unbedingt daran glaubte.
Im Gegensatz zu Avianus aber glaubte Sextus nicht, dass es wirksam wäre, der Inquisitio mehr als nötig zu verheimlichen. Sie sollten möglichst offen zeigen, dass sie nichts zu verbergen hatten und ihnen die Geschehnisse im Hain auch am Herzen lagen. Wenn sie hier mauerten, machten sie sich nur verdächtig. Wenn sie nichts zu verbergen hatten, warum sollten sie etwas verbergen? Hätte Sextus Gedankenlesen können, er hätte vermutlich auch noch näher darauf hingewiesen, dass nur Charis NACH Celerina und im Haus der Aurelier das Zeitliche gesegnet hatte und somit nur dieser eine Zufall von den Aureliern hätte arrangiert werden können. Nur konnte er das ja nicht, so blieb ihm nur die Offenheit bei den anderen Fragen.
Die Kunst einer wohlplatzierten Lüge bestand darin, sie mit genug Wahrheit anzufüllen, als dass sie glaubwürdig war. Denn irgendwas wusste immer irgendwer, und wenn das gerade dieser eine Funken Wahrheit im ansonstigen Gespinst aus Lügen war, hatte man schon fast gewonnen. Und so dachte sich Sextus sehr wohl etwas dabei, als er seine Vettern korrigierte.
“Auch, wenn der Tod von Corvinus nichts mit den Vorfällen im Hain der Diana zu tun hat und sicher auch nicht für die Untersuchung desselben von Belang ist“, was die höfliche Umschreibung dafür war, dass dies nicht zu interessieren hatte, “... er hat ein paar private Zeilen an seine Nichte verfasst. Doch ist es nicht nötig, sie damit zu behelligen. Ich versichere bei meiner Ehre, dass dies nichts zu den Vorfällen im Hain beitragen kann.“ Das war die große Kunst, offen zu sein und eine Erklärung zu liefern, ohne eine Erklärung zu liefern. Es sei denn, die Vestalin und sein eigener Patron zweifelten tatsächlich, noch dazu im Haus der Aurelier, sein Ehrenwort an. Dann allerdings stünde die ganze Untersuchung hier auf einer anderen Stufe des menschlichen Zusammenseins, denn beleidigen ließ sich Sextus sicher nicht.
“Flavia Celerina hat selbstverständlich nichts verfasst, außer sie hat es auf dem Weg vom Hain zur Villa Tiberia oder dort getan.“ Die Frage kam Sextus seltsam vor. Wie sollte sie denn etwas schreiben, wenn sie nicht vorausgeplant hätte, sich das Leben zu nehmen? Auch für einen so misstrauischen und manipulierenden Menschen wie Sextus war das etwas, das er kategorisch ausschloss. Die Flavia war ihm zwar melodramatisch, aber nicht im eigentlichen Sinne lebensmüde erschienen.
“Und Ursus hat recht, der Grieche war ihr Custos Corporis. Bei einem so friedlichen Anlass wie das Fest zu Ehren der Diana hielt sie es nicht für nötig, mehrere Wächter mitzunehmen. Wer konnte schon so eine Tat ahnen? Im Hain der Göttin der Unschuld...“ Sextus schüttelte den Kopf. Nun, er war im Grunde nicht halb so empört, wie er sich gab. Eigentlich war er noch nicht einmal übermäßig überrascht. Er war Mensch, nichts menschliches war ihm fremd, und anderen Menschen ungeachtet der Ortschaft Gewalt anzutun war definitiv menschlich. Selbst ein Stelldichein an so einem Ort hätte ihn nicht wirklich in seinen Grundfesten erschüttert, aber zu Celerinas (und letztlich auch seinen eigenen) Gunsten ging er davon aus, dass die Vergewaltigungsgeschichte stimmte.
Dann allerdings sagte Ursus noch etwas, das wirklich ein Problem sein könnte. Auch wenn Sextus sicher nicht abergläubisch war und nicht mehr Elan den Göttern entgegenbrachte, als es sitten- und standesgemäß war, es schien wirklich fast so, als wären ein paar Gottheiten nicht gerade erfreut über sie.
“Wir werden Haruspizien einholen, und ich werde sie persönlich lesen. Wir werden es wieder bereinigen.“ Er sah kurz und selbstsicher zu seinem Vetter hinüber. Es gab keine wissenschaftlichere Methode, den Willen der Götter und das zukünftige Schicksal zu ergründen, als Haruspizien. Und er hatte notgedrungen Jahre damit verbracht, sie zu lernen. Auch wenn das meiste nur ein Weg war, um Bestechungsgelder fließen zu lassen, ab und an musste es doch auch einmal wirklich sein.