Romaeus starrte weiterhin zu Boden. Seine Hände ballten sich, je weiter Valerian sprach, in hilfloser Angst zu Fäusten. Was der Centurio da sagte, stimmte einerseits und andererseits doch nicht.
Er wußte genau, daß er sich auf Neco und Lysandra verlassen konnte, daß sie ihn liebten als wäre er wirklich ihr Bruder. Anders als bei Varius, der ihnen zwar allen das Leben gerettet hatte, aber genau diese Tatsache ausnutzte, weil er schon immer ihre eizige Chance auf Überleben gewesen war. Varius liebte noch nicht mal Neco, obwohl er ihn als erstes gerettet hatte.
Aber noch bevor der Junge näher darüber nachdenken konnte, fühlte er sich von Valerian gepackt. Er versuchte noch nicht mal, sich zu wehren und fand sich wenig später im Abtritt wieder. Verstört blickte er gegen die Wand der Latrine, durch die von draußen dumpf die Warnung des Mannes klang. Und ob er wußte, was das für ihn bedeutete - genau das nämlich, wovor Varius ihn und die anderen immer und immer wieder gewarnt hatte. Seit er denken konnte, lautete die oberste Regel, sich nicht erwischen zu lassen ...
Nun, da ihn keiner sehen konnte, ließ Romaeus endlich die Tränen zu. Trotzdem schluckte er selbst jetzt noch dagegen an, so wie er abends manchmal heimlich auf seinem Schlaflager weinte.
Er selbst hatte die anderen Kinder lieb, sie waren genauso zu seiner Familie geworden, wie auch Ingolf ...
Leise vor sich hin schniefend, machte er sein Morgengeschäft, ohne wirklich die geringfügige Erleichterung wahrzunehmen. Zu sehr war er mit den Gedanken bei Ingolfs Verschwinden und der unansgesprochenen Angst, die ihn seither verfolgte. Nicht nur ihn, sondern auch Lysandra und Neco. Dabei konnten die anderen doch gar nichts dafür ... Romaeus war sich noch nicht mal sicher, ob Ingolf was dafür konnte, daß er zum Dieb geworden war. Denn all die Jahre hatte sein Freund ihn und die anderen beschützt, hatte sich vor sie gestellt, egal wie schlimm die Auseinandersetzungen mit dem Herrn am Ende wurden.
Stumm zog Romaeus seine Hose hoch, richtete fahrig seine zerlumpte Kleidung und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Wahrscheinlich würde Valerian trotzdem sehen, daß er geheult hatte, die meisten Erwachsenen sahen sowas.
Ohne ein Wort von sich zu geben, schlüpfte der Junge durch den Türspalt der Latrine nach draußen, wo er sich mit dem Rücken zu einer Mauer kauerte und erneut auf seine Füße starrte. Der Gedanke an Flucht erschien auf einmal wie weggeblasen.
Es gab nämlich was viel wichtigeres. Weder er noch eines der anderen Kinder durften bei den Behörden enden, aber er mußte auch dafür sorgen, daß ihr Herr ihnen nichts antat.
Es war ein kleines, unscheinbares Wort Valerians, das dem Knaben im Kopf herum ging. Das Wörtchen sonst. Sonst, das hieß immer noch, es gab einen Augsweg.
Konnte er vielleicht doch sein Versprechen halten?
Ganz langsam hob Romaeus schließlich den Kopf, um nachdenklich den Centurio zu betrachten.
"Klar ha'm mich die anderen lieb", setzte er im Brustton der Überzeugung zu einer Erklärung an. "So wie ich sie auch lieb hab. Wir sind wie Geschwister." Er machte eine Pause, scharrte nachdenklich mit dem nackten Fuß über den Steinboden.
"Und wir beschützen uns. Nicht so wie der Herr, sondern richtig. Ohne uns'ren Herrn wär'n wir alle schon tot, aber ihm isses bloß nich' egal, weil wir ihm dafür Geld bringen. Aber allen anderen isses egal, wenn wir sterben, weil wir sowieso nicht leben dürfen, und das weiß der Herr auch, darum beschützt er uns vor allen anderen, weil er uns're einzige Chance ist. Solang wir nichts dummes machen."
Wieder verfiel er einen Moment lang in Schweigen, stützte den Kopf auf die angewinkelten Knie und wackelte mit den Zehen.
"Sich erwischen lassen ist dumm ... oder ihm widersprechen. Oder ihn betrügen." Romaeus hatte nie erfahren, was genau zwischen Ingolf und Varius vorgefallen war, und doch hatte er die eine oder andere Ahnung. Zwar hatte er nie mit Neco darüber gesprochen, doch seit jener Nacht war sein älterer Freund anstelle von Ingolf ihr Beschützer - und machmal sagte ein warnender Blick, ein stummes Kopfschütteln mehr als alle Worte der Welt.
"Ingolf is' weg", fuhr er schließlich stockend fort. Die Arme eng um die Knie geschlungen, suchte er krampfhaft nach den richtigen Worten.
"Er wußte vorher, daß er nich' mehr wieder kommt. Aber er war kein and'res Kind. Er war schon sechsundzwanzig." Um ein Haar hätte der Junge aufs Neue losgeheult. Tief einatmend, zog er die Nase hoch und schluckte wie zuvor gegen die Tränen an, die ihm im Hals würgten. Aber es half nichts dagegen, daß sein Blick nun naß verschleiert war, als er zu Valerian hochsah.
"Du mußt versprechen ... daß den anderen zwein nichts passiert. Dann erzähl ich dir alles. Aber nur ... f- ... für Ingolf." Die letzten Worte wurden trotz aller Mühe von Schluchzern zerrissen. Irgendwo in seinem Bauch zwickte es, die Gedanken in seinem Kopf schossen total durcheinander hin und her. Am liebsten hätte Romaeus sich irgendwo verkrümelt und wäre vor Anbruch des nächsten Tages nicht mehr herausgekommen.
Aber das ging nicht. Er war erwischt worden und mußte nun wohl oder übel dafür gerade stehen. Im Augenblick konnte er noch nicht mal sagen, was das schlimmste für ihn war: Gegen Varius' Regeln verstoßen zu haben oder Lysandra und Neco zu enttäuschen. Sein Schicksal lag nun in Valerians Händen und er hatte ihm soeben auch zum Großteil das seiner Freunde ausgeliefert. Jetzt noch ihre Namen zu verraten, war im Grunde nur mehr der letzte entscheidende Hinweis. Und doch sträubte sich alles in ihm dagegen, die Namen seiner Freunde auszusprechen, ohne sich sicher zu sein, daß ihnen nichts geschehen würde. Weder durch den Herrn, noch durch die Behörden.