Verdammt, wieso hatte er sich nur erwischen lassen?!
Für einen Moment wich der kühle Gesichtsausdruck des Jungen einer hilflosen Grimasse, in der sich erneut seine Lippen zu einem dünnen Strich verengten. Er durfte, durfte, durfte doch nichts sagen! Selbst den Kommentar, daß die Frauen ihm bloß einen Eimer hätten geben müssen, verkniff er sich lieber.
Im Versuch, seine eigenes Zögern zu überspielen, zog er die Hände aus den Taschen und nahm eine ähnliche Haltung wie Valerian ein.
Romaeus spürte, daß er buchstäblich mit dem Rücken zur Wand stand - naja, eigentlich zur Treppe - doch hier rauszukommen, ohne daß sein Geheimnis aufflog, war nahezu unmöglich. Haltsuchend krallten sich die Finger seiner rechten Hand in den linken Ärmel.
Irgendwas mußte er tun ... irgendwas sagen, das ihm weiterhalf. Dabei log er noch nicht mal richtig, er durfte eben nur die halbe Wahrheit sagen ...
Romaeus spürte einen Kloß im Hals, so einen wie damals, als Ingolf verschwunden war. Denn dies war es, was ihm solche Angst machte. Er wollte nicht, daß Lysandra oder Neco etwas passierte. Sie waren doch wie seine Geschwister und sie hatten sich gegenseitig versprochen, aufeinander aufzupassen!
Ingolf wüßte jetzt, was zu tun ist. Ein Gedanke, der ihm nun beinahe die Tränen in die Augen trieb. Romaeus traute sich kaum mehr zu blinzeln, und so wandte er den Kopf weg und blickte starr gegen die Wand neben sich. Daß er mal mußte, war in diesem Moment schlicht und einfach vergessen. Nicht jedoch die Ungeduld des Centurios. Das Kind konnte förmlich spüren, wie die Augen aller drei Erwachsenen in abwartend maßen.
Stumm gegen die aufsteigende Panik ankämpfend, biß Romaeus hart die Zähne aufeinander.
"Du würdest doch auch nicht deine Frau verraten!" stieß er plötzlich hervor. Vor lauter Aufregung vergaß er glatt die förmliche Anrede gegenüber Valerian. Obwohl er immer noch versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken, klang seine Stimme verdächtig weinerlich.
"Das wär' doch ungerecht!"
Es war einfach ungerecht. Die anderen würden Schläge kriegen, nur weil er nicht aufgepaßt hatte! Aber wenn er überhaupt nicht mehr zurückkam, konnte er sein Versprechen gar nicht mehr halten, genausowenig wie sein Vesprechen von damals an Ingolf, bevor dieser verschwunden war. Vor der Erinnerung an jene Nacht erschien Romaeus allein der Gedanke, die anderen Kinder zu verraten, ungeheuerlich. Es kam ihm vor, als würde er mit einem falschen Wort jenen unsichtbaren Handel brechen, der zwischen Varius und ihnen bestand, seit er denken konnte.
Ihr Herr hatte ihnen das Leben gerettet, ihnen allen erst ein Recht auf Leben gegeben und sie dienten ihm dafür. So waren die Regeln schon immer gewesen. Alles andere kam einem Vertragsbruch gleich, und wahrscheinlich würde Varius sie alle dann genauso verschwinden lassen wie Ingolf ...
Weiter wollte Romaeus gar nicht überlegen. Ihm wurde jetzt schon eiskalt davon. Schaudernd verschränkte er die Arme noch fester ineinander. Ingolf hatte sich damals für sie eingesetzt und furchtbar dafür büßen müssen. Dieses Opfer durfte doch nicht umsonst sein ...? Die Tränen, die an seinen Wimpern hingen, drohten nun doch zu fallen, weswegen er rasch den Blick zu Boden senkte.
"Und es wär ... feige", fügte er zittrig hinzu. "Denjengien zu verraten, in dessen Lebensschuld du stehst." Ein großes Wort für einen Achtjährigen und doch empfand er gegenüber beiden so - seinem Herrn und seinem früheren besten Freund.
"Und ich bin nicht feige!" In hilfloser Wut stampfte Romaeus mit dem Fuß auf. Er wollte kein Feigling sein, er war doch Ingolfs kleiner Krieger und Lysandras Beschützer und Necos bester Freund!