Xanthias sackte wieder etwas zusammen, hatte sich wohl zu große Hoffnungen gemacht ... wäre auch zu schön gewesen, hätte er zufällig bereits am ersten Tag seines neuen Lebens als Sklave jemanden kennengelernt, mit dem er gemeinsam von Griechenland schwärmen und in alten Erinnerungen schwelgen könnte. Aber Aristea sprach Griechisch .... und nicht schlecht fand Xanthias, auch wenn ihre Aussprache etwas seltsam, ungewöhnlich, man könnte auch sagen außergewöhnlich klang, nicht schlecht, nur eben ungewohnt, wie das eben ist, wenn man Sprachen nicht tagtäglich benutzt. Nichtsdestotrotz fand Xanthias ihr Griechisch schön, sie schien Gespür für die Melodie der Sprache, die Poesie, die Lyrik, die griechischen Worten unweigerlich innewohnt, zu haben - kein Wunder war es doch im wahrsten Sinne des Wortes ihre Muttersprache.
Aristea war also in Rom aufgewachsen - schade, denn so hatte sie nie das Paradies auf Erden, wie Xanthias seine Heimat gerne nannte, kennengelernt, die im Sonnenschein strahlenden Kykladen, die sanften Weinhänge, die Berge in Phokis. Und wieder glitt der Grieche ab ins Reich seiner Erinnerungen, in das Meer von Bildern seiner Heimat, seiner Familie. Erst eine weitere Frage von der anderen Seite des Raumes holte Xanthias wieder auf den harten Boden der römischen Realität zurück.
Am Sklavenmarkt ... es schien für ihn bereits eine Ewigkeit her zu sein. Was hatte er gesagt? Ah, sie meinte wohl die Beleidigung, die er dem römischen Senator an den Kopf geworfen und die Ode die er zitiert hatte. Kurz besann er sich ob er die Frage wirklich beantworten sollte, doch eigentlich war ihm bereits alles relativ egal und womöglich war Aristea ohnehin die einzige Person, der er sich anvertrauen konnte, also begann er langsam: "Ja, ... heute am Markt war mir womöglich wirklich alles egal, ich war einfach unglaublich zornig. .... Aber lass mich von vorne beginnen, vielleicht kannst du mich dann verstehen." Wahrscheinlich hatte sie weder Interesse an seiner Geschichte noch an all den anderen Sachen, die jetzt kommen würden, doch Xanthias hatte beschlossen sich zu öffnen also gab es jetzt kein zurück mehr.
"Ich stamme aus Phokis, meine Eltern besaßen dort ein großes Landgut waren hoch geehrt in der Region und auch weit über Delphi hinaus. Mein Leben war wunderbar, ich konnte mich zur Gänze auf meine Studien konzentrieren, die ich auch intensiv betrieb. Religion, Geschichte, Philosophie, Poesie, Musik - meine Interessen waren vielfältig und umfassten wohl alle Bereiche griechischer Kultur. Je weiter ich eindrang in die Geschichte und Philosophie Griechenlands, umso bewusster wurde mir, dass eigentlich nicht Rom es verdient hatte, als "urbs aeterna" und Nabel der Welt bezeichnet zu werden, sondern Athen. Hier wurden bereits unglaubliche geistige Leistungen vollbracht, als die Römer nichts weiter taten als ihre Felder zu bestellen. Dennoch hatte sich das römische Reich zu einem ungeheuren Monster entwickelt, das andere Länder und Kulturen verschlang und sich in rasantem Tempo rings um das ganze Mittelmeer ausbreitete. Nicht genug, dass sie den Griechen ihre Freiheit nahmen, nein auch unsere Kultur, unsere Philosophie, ja selbst unsere Götter haben sie gestohlen und als ihre eigenen ausgegeben."
Hier musste Xanthias eine kurze Pause einlegen und sich auf sein eigentliches Vorhaben besinnen, zu leicht geriet er in hitzige Gemütsausbrüche, wenn es um Rom ging. "Aber genug davon. Vor einigen Wochen also, unternahm meine Familie eine Reise nach Paphos, vor der Küste Karpathos' allerdings geriet unser Schiff in ein Unwetter, bei dem meine gesamte Familie ums Leben kam, nur durch ein Wunder - nein - eher einen Fluch der Götter überlebte ich, strandete auf Karpathos und schlug mich einige Tage in freier Wildnis durch, ohne einer Menschenseele zu begegnen, bis ich eines morgens aufwachte und mich umringt von einer Gruppe übel aussehender, brutaler Männer wiederfand, die mich schließlich auf ein Schiff zerrten und nach Rom - ausgerechnet nach Rom brachten, wo ich dann durch dreckige Gassen auf den Markt geführt und wie eine Ware auf einem Podest feilgeboten wurde. Ich, der ich mein ganzes Leben selbst bedient wurde, der man mir den größten Respekt, wegen meiner Abstammung aber auch wegen meiner eigenen Leistungen, entgegenbrachte. Als dann dieser Senator eine Darbietung meines Könnens forderte, wie wenn man von einem dressierten Tier Kunststücke sehen will, explodierte ich. Ein Römer, so wichtig und mächtig er auch sein mochte, wagte es doch tatsächlich einen Griechen, einen Abkömmling jenes Volkes, dem sie nahezu alle Bereiche ihrer Existenz verdanken, wie ein dressiertes Tier zu behandeln. - Nun, ich machte meinem Ärger Luft. Wie, hast du ja selbst bemerkt."
Xanthias hielt inne. Jetzt war es geschehen und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden, er hatte seine Lebensgeschichte einer nahezu wildfremden römischen Sklavin anvertraut, allein aufgrund der Tatsache, dass sie schönes Griechisch sprach und Anteil an seiner misslichen Lage zu nehmen schien.
Noch bevor Aristea antworten konnte hatte Xanthias sich allerdings schon wieder gefasst und besann sich seiner epikureischen Einstellung. "Aber genug von mir." begann er aufmunternd "Erzähl mir doch bitte ein wenig von dir, aber nicht von deiner Vergangenheit." - Die sicherlich schrecklich gewesen war, und schreckliche Dinge konnten seine Stimmung jetzt sicherlich nicht bessern. "Erzähl mir lieber von Dingen, die du gerne tust, von Menschen die du liebst, von schönen Momenten."
"Natürlich nur, wenn du willst." fügte er hinzu, denn das letzte was er wollte war sich anderen Menschen aufzudringen. Insgeheim jedoch wünschte er im Moment nichts mehr, als dass Aristea wenigstens ein bisschen erzählen würde, egal wovon, doch es war schön, ihrer Stimme zu lauschen und sich in der Dunkelheit eigene Bilder zu formen.