Shayan war froh, wirklich froh, dass die Flavia nichts mehr sagte nach ihrer ersten kleinen Auseinandersetzung. Und erst recht erneut ankam mit Forderungen nach Pausen oder ähnlichem. So verwöhnt und biestig sie war, dumm war sie nicht, und der Ernst ihrer Lage schien ihr durchaus bewusst zu sein... wenigstens so weit es ihre möglichen Verfolger betraf. Er bezweifelte, dass sie sich Gedanken darüber machte, wo sie waren. Oder wie sie etwas zu essen auftreiben sollten. Selbst wenn sie irgendwohin kamen, in eine kleine Ortschaft hier irgendwo – sie hatten ja nichts dabei außer den Klamotten, die sie am Leib trugen. Und Shayan war nicht gewillt irgendjemandem zu verraten, wer sie waren, damit ein Schuldschein wirklich Wert bekam. Ganz davon abgesehen, dass ihnen vermutlich sowieso kaum einer glauben würde im Moment, war es zu gefährlich.
Nein, seine Herrin machte sich darüber keine Gedanken, vermutete er, aber es war wohl besser so. Und sie hielt lange durch, länger, als er geglaubt hätte, bis er sie schließlich auf seinen Rücken nahm und noch ein Stück durch die Gegend trug, so lange er konnte. Zum Glück war der Eisregen des vergangenen Tags gänzlich abgeklungen, und es war kurz vor Vollmond, weswegen auch in der frühen Nacht noch genug Licht vorhanden war, dass er nicht blind umher stolpern musste. Irgendwann hielt er allerdings an bei einer geeigneten Stelle. Es hatte keinen Sinn, die Nacht durchzulaufen, mit der Flavia auf den Rücken, bis er überhaupt nicht mehr konnte. Besser, jetzt eine Pause zu machen und sich wenigstens etwas auszuruhen. Auch wenn er nicht vorhatten wirklich zu schlafen. Er richtete eine provisorische Schlafstatt her, so gut wie möglich, brachte die Flavia an seinen Körper und legte seinen Mantel um sie beide, um sie zu wärmen, und war erneut froh, dass sie so erstaunlich ruhig war. Kein Gezicke, was ihm einfiel, sie zu berühren, sie gar so dicht an sich zu ziehen. Und kein Gejammer, dass sie Hunger hatte. Vermutlich war sie dafür einfach zu müde, schätzte er, aber spätestens morgen früh würde sich das ändern.
Die Nacht über hielt er Wache, größtenteils. Zwischendurch erlaubte er sich, in einen leichten Dämmerschlaf zu verfallen, aber der momentane Alarmzustand, in dem er sich befand, kombiniert mit alten Gewohnheiten aus Kriegszeiten, in denen man sich ebenfalls nie so ganz hatte sicher fühlen können, verhinderten, dass er wirklich in den Tiefschlaf abglitt. Sein Bewusstsein driftete nur stets in jenem unscharfen, trüben Grenzbereich zwischen Traum und Realität entlang, und jedes Geräusch katapultierte ihn ins Wachsein.
Nichts geschah jedoch. Wilde Tiere ließen sie in Ruhe, und auch von möglichen Verfolgern war nichts zu hören. Der Schlaf der Flavia war unruhig, aber immerhin schlief sie, trotz der Kälte... und wenn sie Glück hatten, begegneten sie im Lauf des Tages jemandem, der ihnen half. Reisende vielleicht, die froh waren um einen weiteren Mann, der sie beschützen konnte... Shayan presste seine Kiefer aufeinander. Die Hoffnung war unnütz. Sie würden hier im Wald keine Reisenden finden. Wer seine Sinne beieinander hatte – und keinen expliziten Grund – blieb auf einer der Straßen. Wenn er nur wüsste, wo sie sich befanden, wo was in ihrer näheren Umgebung war... aber er hatte nur ein vages Bild der Karte im Kopf, wusste nur grob die Richtung, die sie einschlagen mussten um nach Tarquinia zu kommen. Sonst war da nichts. Sie konnten in ein paar hundert Fuß Entfernung von einer Ansammlung von Hütten sein gerade und würden nichts davon bemerken. Und er-
Als seine Gedanken diesen Punkt erreichten, lenkte ihn etwas ab. Nichts aus dem Wald, nichts aus der Ferne – die Flavia. Shayan runzelte die Stirn und sah auf sie hinunter, wie sie an ihn gekuschelt da lag, ihr Körper halb auf seinem, um so wenig Kontakt mit dem kalten Boden zu haben wie möglich. Ihre ruhelosen Bewegungen hatte er bisher auf ihren unruhigen Schlaf geschoben, wie auch die ganze Nacht schon. Aber jetzt schien die Anspannung in ihrem Körper eine andere Dynamik bekommen zu haben. Sie stöhnte leise auf, und ihre Glieder verkrampften sich kurz. Entspannten sich wieder. Verkrampften sich erneut. „Herrin?“ murmelte er zunächst leise, bevor er sich ein wenig mehr aufsetzte. Ihre Augenlider flatterten, aber bevor sie wirklich wach zu werden schien, schauderte ihr Körper erneut, und ein weiteres leises Stöhnen kam über ihre Lippen. Shayan zog die Augenbrauen zusammen, berührte ihre Stirn, aber Fieber schien sie keines zu haben. Er fühlte sich zunehmend hilfloser. Auf rudimentäre Wundversorgung verstand er sich wohl, wie so viele Soldaten, aber mit Krankheiten kannte er sich nicht im Mindesten aus. Noch während er allerdings am Überlegen war, was er tun sollte, wachte sie dann doch auf – und verzog das Gesicht, als ihr Körper sich einmal mehr verkrampfte. „Iuno, nein...“ stöhnte sie in einem merkwürdig angewidert klingenden Tonfall, während sie unter dem Mantel – seinem, der nach wie vor sie beide bedeckte, und ihrem eigenen – ihre Hand auf ihren Bauch zu legen schien... Aber erst, als Shayan den schweren Stoff schließlich beiseite schlug und den roten Fleck sah, der sich nach und nach auf der Kleidung der Flavia bildete, dort, wo ihre Beine in den Torso übergingen und darunter, begriff er.
Und hätte am liebsten ebenfalls aufgestöhnt. Abgesehen davon, dass sie nichts, aber auch gar nichts gebrauchen konnten, was sie jetzt aufhielt – das da war nicht einfach nur irgendeine Krankheit, womit er sich ja auch schon nicht auskannte, aber womit er noch irgendwie... hätte umgehen können. Das da war schlimmer. Es war Frauensache. Und weit und breit keine andere Frau in Sicht, die ihm das hier nun hätte abnehmen können.