Beiträge von Marcus Marius Madarus

    Sönke trat gerade mit der kleinen Naha auf seinen Schultern durch die große Tür zum Garten, als Witjon mit einem Bündel im Arm die Treppe hinuntergestapft kam. Seine Miene deutete auf gutes hin, auch wenn Sönke ob der Worte Nahas ein gewisses Gefühl der Beklemmung beim Anblick des neuen Ober-Duccius verspürte.


    Stumm hörte er die Verkündung des Namens des Nachwuchses, und nur halbherzig fiel er in den Jubel ein, der im Atrium aufbrandete.
    "Na schau...", rief er zu Naha hinauf, "..du hast ein Brüderchen bekommen. Herzlichen Glückwunsch, das ist ein gutes Zeichen, die Nornen sind euch anscheinend wohlgesonnen!"

    "Weil er...", fragte der mehr als nur verwirrte Sönke. Was war das jetzt schon wieder für eine Geschichte? Witjon hatte Lando... nunja... Aua gemacht? Während er die Blumen des kleinen Mädchens automatisch annahm, überlegte er, was das zu heißen vermochte. Aber.. es waren doch alle dagewesen. Es war ein offenes Geheimnis, dass Lando in einem Kämpferkreis gefallen war... wie passte das da jetzt rein?
    Er entschloss sich, den Gedanken beiseite zu schieben und sich auf die neu aufkommende Stille oben zu konzentrieren.


    "Ich glaube, da hat sich was getan..", murmelte er, packte Naha unter den Armen und hob sie auf seine Schultern während er auf die Casa zuging, "..lass uns mal nachsehen ob dein Geschwisterchen schon da ist."

    "Oh ja...", murmelte Sönke, "..sehr böse."
    Auf einmal machte er sich Sorgen um die Grand Dame der Duccii. Wenn sie bei der Geburt starb, war Ostgermanien offen. Landos Tod hatte schon für erhebliche Probleme gesorgt, gerade weil er mitten in den Arbeiten der Rekonsolidierung der duccischen Wirtschaftlage gestorben war. Jetzt hing alles an Witjon, und den kannte Sönke nicht halb so gut wie den überall präsenten Lando. Letztendlich würde er darauf pokern müssen, sein Anliegen gut genug als Gewinn für die Kernsippe verkaufen zu können.


    Etwas irritiert blickte er das kleine Mädchen dann auch an, als sie ihn eine spur zu hoffnungsvoll danach fragte, ob er eben diesen Witjon verhauen wollte.
    "Verhauen? Wieso sollte ich ihn verhauen, Naha?"

    Na großartig. Da rettete man dem Kind zumindest alle Knochen, und wurde dafür bestraft. Eine kleine Wildkatze konnte nicht widerspenstiger sein, und Sönke fragte sich, ob er der Liste der Bitten an Witjon auch noch eine Schere für Nahas Fingernägel hinzufügen sollte. So auf jeden Fall wurden seine Arme von roten Striemen gezeichnet. Nicht, dass es ihm viel ausmachen würde, als Bauer war man sowieso daran gewöhnt ständig irgendwo Macken und Blessuren zu haben. Aber so ein kratzbürstiges junges Ding war dann doch was anderes.


    "Dein Geschwisterchen kommt?", fragte Sönke schließlich die sehr offensichtlich und sehr überflüssige Frage. Dass Elfleda schwanger war, war bekannt, und jeder hatte sich Sorgen um sie gemacht, als Lando gestorben war. Aber Elfleda hatte sich davon nicht unterkriegen lassen, was Sönke ziemlich beeindruckt hatte, er selbst hatte einen Verlust nicht ganz so gut weggesteckt. Svea hatte sie geheißen, und seine Eltern hatten mit Landos Einverständnis mit ihren Eltern alles in trockene Tücher gebracht, bis das vierzehnjährige Mädchen einen Monat vor dem Termin der Hochzeit an Fluss gestorben war. Sönke hatte sie geliebt, zumindest hatte er das geglaubt, und dann war sie ihm genommen worden. Alleine die Tatsache, dass keiner der anderen Männer weinte, als sie verbrannt wurde, hatte ihn davor bewahrt Rotz und Wasser zu heulen wie das kleine duccische Mädchen es gerade in seinen Armen tat.
    "Na, wenn das so ist, wünschen wir..", wollte Sönke gerade die Götter milde bitten, als von oben ein heftiger Fluch und lautes Geschrei durch die Luft schallte, "...oh.. eh.. ja. Dann wollen wir ihr aber den Segen der Götter wünschen, auf dass Frigg sie sicher und gesund durch die Geburt bringt und deinem Geschwisterchen ein gutes Leben schenkt, ja?"


    Sönke setzte die Kleine wieder ab und sah sich suchend um. Die Frauen waren jetzt wahrscheinlich alle bei der werdenden Mutter, aber die Männer suchten bei so einer Gelegenheit gerne das Weite... und da entdeckte er auch schon den alten Albin, der gemütlich in einer schattigen Ecke vor sich hinschlummerte.
    "Sag mal, weißt du ob Witjon hier irgendwo ist? Ich müsste mal mit ihm sprechen.."

    In einer Zeit, da wegen fehlender Verhütungsmöglichkeiten die Frauen quasi ständig schwanger waren, und da wegen fehlender medizinischer Versorgung die Kindersterblichkeit enorm groß war, war man entsprechend auch an kleine Kinder gewohnt. In jeder gut funktionierenden Familie gab es mindestens eine handvoll von Menschen die jünger als fünf Jahre waren. Entsprechend war man an kleine Kinder und ihre Eigenarten gewöhnt, dummerweise aber auch an die Sterblichkeit dieser jungen Geschöpfe.
    Als Sönke mit sirenengleicher Stimme auf die Thronfolgerin des Hauses aufmerksam gemacht wurde, zog sich in ihm alles zusammen.


    "Bei Loki...", flüsterte er entsetzt, und fragte sich den Bruchteil einer Sekunde wieso eine dreijährige überhaupt schon in der Lage war in Bäume zu klettern. Beziehungsweise in einen Strauch. Schon fast automatisch setzten sich seine Beine in Bewegung, der Geist folgte in einigen Sekunden geschockter Entfernung während diesselbe zu dem Kind sich gegen jedes Naturgesetz zu verlängern schien je schneller er auf sie zurannte.
    "NAHA!!! HALT DICH FEST!!!", brüllte er noch mit der Inbrunst der Verzweiflung, und er sah das Kind schon fallen, als er es dann doch sicher in die Hände bekam und mit einem Ruck aus dem Strauch an sich zog.


    "Bei den Göttern, Kind!!!", jappste er, nicht etwa, weil er eine unermesslich lange Strecke zu rennen gehabt hatte, sondern weil der Gedanke, dass Elfledas und Landos Tochter sich ein Haar hätte krümmen können böse Vorahnungen hervorrief. Er drückte sie eine ganze Weile an sich, und versuchte ruhiger zu atmen, dann entsann er sich des eben Geschehenen... "Sag mal, Kind, was machst du da eigentlich? Wo ist deine Mutter? Passt niemand auf dich auf?"

    Er war nicht war nicht wirklich oft in dem Haus der Wolfrikssippe. Eigentlich kam er nur einmal die Woche her, wenn alle zusammen zum Mahl geladen wurden, wie es unter den Sippen einer Kyn nunmal Tradition war, aber ansonsten mied er es.
    Was Sönke in eine gewisse Zwickmühle brachte. Einerseits hatte er einen gewissen jugendlichen Narren an den Frauen in dem Haus gefressen. Nicht nur einmal war er nachts hochgeschreckt und hatte die Alben verflucht, warum sie ihn nicht mindestens zwei Momente länger hatten träumen lassen. Dummerweise hatten die Frauen fast alle was mit Lando zu tun, oder einen an der Klatsche, oder beides. Eila zum Beispiel, bei deren Anblick ihm das Sprechen schwerfiel, und die ihn deshalb wahrscheinlich für einen Idioten hielt, umschwebte der Ruf einer Valkyre, die mehr Männer getötet hatte als der älteste Veteran bei der Legion. Das konnte Sönke nicht bestätigen, das einzige, was er bisher zustande gebracht hatte waren ein paar Hiebe mit dem Holzstock auf einen störrischen Ochsen. Das WAS er allerdings nachvollziehen konnte, war das Gerücht, dass Eilas Schönheit Männern den Verstand raubte und oft sogar in den Wahnsinn trieb. War mit ihm ja auch nicht anders, zumindest hatte er das Gefühl. Wer es nicht besser machte, war Elfleda. Er hatte einmal rein zufällig miterleben dürfen, wie sie mehrere Männer in dem großen Raum mit dem Loch im Dach lang gemacht hatte. Nacheinander und gleichzeitig. Ein Wintersturm konnte nicht beeindruckender sein, und Sönke musste irgendwann beschämt erkennen, wie er sich selbst gewünscht hat von Elfleda ausgeschimpft zu werden. Paradoxerweise. Vor den Mädchen aus dem Dorf tat er immer als derjenige, der noch großes erreichen würde. Als Sohn eines Bauern. Die Mädchen kicherten und ließen ihn, bis zu einem gewissen Punkt zumindest, ran. Es brachte durchaus auch Vorteile mit sich, den Helden zu spielen.
    Dagmar, eine weitere Tochter aus dem Hause Wolfriks, kannte Sören nur aus der Zeit als er Mädchen doof fand, oder sich mit ihnen geprügelt hatte. Aber er war sich sicher, dass die Töchter Wolfriks allesamt wohl so ehrfurchtgebietende Geschöpfe waren, die einem mit Wort und Anblick alleine um den Verstand brachten. Nun, Ausnahmen bestätigten die Regel, aber über gewisse Fälle blickte Sönke wohlwollend hinweg.
    Andererseits. Vor diesem Aufsatz über die Wirkung der duccischen Frauen auf einen einfach gestrickten Mann war ja noch ein "einerseits". Sönke mied die Casa Duccia, weil sie ihn daran erinnerte, wie sein Vater sich entschieden hatte Thorleif Lando zu übergeben, damit dieser aus ihm einen brauchbaren Pferdeknecht machte. Und nicht ihn! Dabei war Thorleif als der Ältere DER Kandidat auf die Nachfolge seines Vaters, ER sollte auf den Feldern stehen und mit den Knechten schuften, nicht Sönke!


    Das alles waren Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen als er das schwere Gartentor aufschob und den grünen Garten betrat. Ihm selbst war das Prinzip eines Gartens ja suspekt. Wenn man sich erst Städte baute, die einen Garten notwendig machten, warum tat man es dann überhaupt? Oder warum ließ man nicht genug Platz für die Natur?
    Sönke selbst hatte die Gärten der Römer noch nie gesehen. Er hatte davon gehört, dass die reicheren Römer sich zurechtgestutzte Natur in und hinter ihre Häuser holten, aber die Lebenswelt der Reichen und oberen war sowieso ein für ihn unerreichbares Universum. Die einzigen reichen Leute, mit denen er zu tun hatte waren die Nachkommen des großen Wolfrik, der es fertig gebracht hatte die Sippe von Sönkes Ur-Urgroßvater an sich zu binden. Seitdem waren sie sie nicht losgeworden, und so stand auch Sönke in der Munt der Duccii. Was ihn dazu brachte, wegen jedem Scheiss um Erlaubnis fragen zu müssen. Nicht, dass er es nicht einfach hätte tun können, aber das hätte Komplikationen ergeben, mit denen er sich lieber nicht beschäftigen wollte. Also: lieb anklopfen und nachfragen.

    Das nur allzu bekannte Gefühl der Verbitterung und Enttäuschung wandelte sich binnen nur eines Augenblicks in das lodernde Feuer der Hoffnung. So sehr sein Vater sich dagegen sträubte, auch nur ein Argument zu benutzen, das nicht auf seiner Autorität als eben jener Vater und Vormund einer ganzen Familie lag, so hatte er doch gerade eben einen entscheidenden Fehler begangen: frag doch Witjon.
    Witjon war der neue Mann in der Stadt, nachdem Lando einen so heldenhaften und doch tragischen Tod gestorben war, dass Sönke beinahe schwindelig wurde, wenn er daran dachte wie sehr die Frauen der Casa, vor allem Eila, ihm zugejubelt haben mussten. Und wie groß die Trauer und Verzweiflung war, als das geschah, über das heute niemand mehr redete.
    Aber Witjon war ein anderer Mann. Lando hatte die Stadt zwar souverän im Griff gehabt, aber nie hatte er einen Hehl daraus gemacht, dass er mit dem römischen Militär nicht unbedingt freundliche Gedanken verband. Ganz im Gegenteil. Seine Schwester hatte ihm irgendwann verraten, dass Lando der Ansicht gewesen war, dass die Armee nur dafür gut war, die Söhne Wolfriks zu dezimieren. Aber nun war Lando tot, selber gestorben wie ein Soldat, was einer gewissen Ironie nicht unbedingt entbehrte.


    Witjon war der neue Mann. Sönke lächelte zufrieden als er sich zurück an die Arbeit machte. Lächeln, wie es nur jemand tat, der einen letzten Strohhalm sah, und seine vollständige Hoffnung auf ein für ihn gutes Ende auf diesen Strohhalm projizierte.

    Auch wenn diese Diskussion in den vergangenen Wochen schon mehrere Male geführt worden war, und er die Argumente ebenso oft und öfter gehört hatte: Wut stieg in ihm auf wie ein Gewitter aus einem Tal.


    "Aber... aber...", stammelte er, denn wenngleich er es gewohnt war sich zu streiten, so war es doch etwas anderes seinem Vater die Stirn zu bieten, "..das ist nicht gerecht! Thorgall sollte hier stehen und das Feld bewirtschaften. Und Iring wird nicht immer ein Kind bleiben, Vater! Und Lanthilda! Dieser junge Mann aus dem südlichen, der sich für sie interessiert könnte genauso gut auf die Ädalam ziehen.. oder wir könnten Lando bitten, mehr Knechte in der Erntezeit einzustellen, damit sie uns hier helfen können."


    Es war zum Haareraufen, und Sönke war kurz davor, das auch wirklich zu tun.


    Schweiss tropfte ihm in die Augen, als er sich zum sicherlich tausendsten Mal heute bückte, um mit der groben Forke in das geschnittene Gras zu stechen und es mit eimem Ruck hinter sich warf, damit es da einen neuen Wall bildete, der sich zum Trocknen der Sonne entgegenrecken würde. Es war der mittlerweile fünfte Tag ohne Regen, bisher hatten sie erstaunliches Glück gehabt, und sein Vatter hatte bereits Freya ein kleines Opfer dargebracht um ihr für das gute Wetter zu danken. Einen Tag noch... ein Tag ohne Regen, und das Heu würde trocken genug sein, um es in Haufen mit geöltem Leinen abzudecken, um es so noch ein paar Tage trocken zu lassen und es gleichzeitig gegen das willfährige Wetter zu schützen. Dann erst, in etwa einer Woche, dann würde man das Heu mit einem neuerlichen Kraftakt auf die Karren und Rücken hieven, und es in die Schober der Ädalam bringen, oder in den Schober der Hros. Eintausendundeins.
    So weit vor der Stadt war es beinahe absolut still. Die Vögel sagen ihre Lieder, der Wind strich sachte durch die Bäume, die hier und dort noch standen, aber ansonsten war alles, was Sönke hörte das regelmäßige Auf-und-Ab seines angestrengten Atems. Eintausendundzwei.
    Er widerstand der Versuchung, sich den Schweiss im Gesicht mit dem Ärmel abzuwischen, weil er keinen trug und bis auf die Hose mit nichts bekleidet war. Warum auch? Es war ein heißer Sommer, und Sönke genoss das Gefühl der leichten Brise auf seiner Haut, welche den verdampfenden Schweiss davontrug und seinen Körper kühlte. Seine Mutter hasste es, wenn er quasi nackt auf den Feldern herum lief, hatte sie doch Angst, dass er sich trotz der Hitze erkälten könnte. Eintausendunddrei.
    Es roch nach Heu. Alles roch nach Heu. Nach Heu und Erde. Der Sommer hatte die Stadt der Römer und alles Land um sie herum vollkommen im Griff, eine Zeit, in der man von Morgens bis Abends auf den Feldern war um die Gunst der Stunde zu nutzen. Und nichts anderen taten sie, seit Wochen, Monden, wie jedes Jahr, seitdem er alt genug war den Hammer zu halten, um ihn seinem Vater reichen zu können. Eintausendundvier.
    Schnauffend stellte der Junge die Forke auf, und lehnte sich mit den Armen darauf um einen Moment auszuruhen und gedankenverloren in die Ebene vor der Stadt zu blicken, die Bahnen an aufgehäuftem Heu verfolgend, die sie schon vier Mal umgeschichtet hatten. Ein Wochenwerk.
    Er konnte beinahe die Sekunden zählen, die es brauchte damit sein Vater ihm von der anderen Seite der Weide wütend entgegenrief, dass er sich nicht auf die Forke lehnen sollte. Wenn sie zerbrach, würde das wieder nur Probleme geben, schließlich brauchte es einen ganzen Abend um Holz in Forkenform zu schnitzen, einen Abend, den man gut für anderes Werk gebrauchen konnte. Eintausendundfünf.


    Anstelle weiter zu machen warf Sönke die Forke ins Heu und stapfte zur Seite, wo sein Vater die Arbeit machte, die er seit gefühlten Ewigkeiten machte. Er bestellte das Land, aber nicht sein eigenes, sondern dass der Sippe der Wolfrikssöhne. Wie sein Vater es auch schon getan hatte. Und dessen Vater.
    Als er im Schatten der Bäume ankam, stapfte er schnurstracks zu dem Krug mit dem Wasser, und auch wenn dieses mittlerweile schon weit von der Brunnenkühle entfernt war, so war Sönkes Kehle doch dankbar für jeden Tropfen, der sie herunterrann. Eine kleine Menge warf er sich mit der hohlen Hand noch ins Gesicht, was ihn vermischt mit dem ganzen Staub und Dreck nurnoch schmutziger aussehen ließ.
    Sein Vater keuchte und ächzte, aber er machte das Werk weiter, weil es einfach getan werden musste, und Sönkes Brüder entweder an der Hros arbeiteten oder selbst noch nicht alt genug waren. Aber nicht mehr lange.


    "Vater.", sprach Sönke, der dem alten Mann den Krug entgegenhielt, und damit einen Gesprächsvorwand schaffte, "Vater... überleg es dir noch einmal."