Okhaton ließ den letzten Ton des Nachspiels sanft ausklingen. Er spürte bereits ein leichtes Kratzen im Kehlkopf, er würde seine Stimme etwas schonen müssen, wenn er noch länger durchhalten wollte. Hier war es kühl - es wurde Abend, und die Sonne war schon nicht mehr zu sehen. Er dachte an die Abende, an denen er auf dem Dach seines Elternhauses sitzend singen und spielen gelernt hatte - gerade mal zwei Jahre war es her, warm war es gewesen in jenem Sommer, bevor sein Leben in die Brüche ging. Beide Eltern am bösen Fieber gestorben, innerhalb von Wochen, ohne einen Berg von Schulden abgetragen zu haben...
Über Umwege war er bei seiner jetzigen Besitzerin gelandet. Sie und ihr Mann ließen ihn ab und zu spielen und singen, ansonsten bediente er Gäste oder diente als Wächter, wenn nicht der alte Judäer Aaron den Herrn oder die Herrin begleitete. Okhaton sah zwar aus, als könne er kein Wässerchen trüben, aber unter der schlichten Tunika verbarg sich ein kraftvoller Körper, nachdem er ein halbes Jahr in einem Steinbruch gearbeitet hatte. Der Mitsklave, der ihm im Steinbruch sein Stück Brot hatte abknöpfen wollen, lief seit dem Versuch mit einer schiefen Nase und einem viel besseren Sinn für Mein und Dein herum. Eigentlich tat Okhaton die Sache leid - aber er hatte ihn nunmal überrascht, er hatte reflexartig reagiert.
Er warf einen kurzen Blick auf seine Herrin; die schätzte ihn zwar, kümmerte sich aber sonst nicht großartig um ihn. Er fühlte sich oft einsam, aber das war ihm letzten Endes recht, so musste er nichts erklären, alles ging seinen Gang, ohne dass er dazu kam, um Chancen zu trauern, die ihm ein ungünstiges Schicksal geraubt hatte. Sein Blick schweifte weiter.
Die Gastgeberin, Flavia Celerina hieß sie wohl, wirkte wie die meisten feinen Damen, die er gesehen hatte - geradezu überirdisch schön mit den ganzen aufwändigen Mitteln, die ihnen dafür zur Verfügung standen, aber auch verdammt weit weg von ihm selbst. Sie war aber keine von den ganz Üblen - sie hatte ihm sogar einen kleinen Wasserkrug geben lassen, damit er sich die Kehle befeuchten konnte. Die Herrin hatte seinen Blick bemerkt: "Spiel das Lied vom Wandern...mit den Sternen das..."
Okhatons lateinischer Wortschatz speiste sich vor allem aus Liedtexten, die er leidenschaftlich und inzwischen in erheblichem Tempo auswendiglernte. Er nahm noch einen Schluck, nickte und richtete den Blick zum Himmel.
"Ein Wanderer auf der Straße
Kennt nicht den Weg, kaum noch sein Ziel
Es wird schon Nacht, die Venus blinkt
Und er bräuchte doch gar nicht so viel,
um zufrieden zu sein..."
Das Lied gelang ihm prächtig, überhaupt hatte er das Gefühl, schon lange nicht mehr so schön gesungen zu haben. Vielleicht war dieses Lied leichter als die anderen, weil er sich selbst so sehr darin wiederfand...
Als auch dieses Lied verklungen war, fing er den Blick der Hausherrin auf; die schien er wirklich zu erfreuen, obwohl sie müde wirkte, traurig irgendwie. Gut! Womöglich ließ ihm seine Herrin dafür morgen ein Stück Kuchen geben, wie es manchmal vorkam.