Beiträge von Lucius Duccius Ferox

    Marga


    Die alte Marga, die in ihrem gemütlichen Schaukelstuhl neben dem Ofen saß, sah wohlwollend ihrer Enkelin beim Werkeln in der Küche zu. Lange, lange Jahre hatte sie selbst hier gestanden und für das leibliche Wohl der Familie gesorgt, und das machte sie auch heute noch – sie war verantwortlich für die Küche, da brauchte noch keiner kommen und versuchen ihr irgendwas vorzumachen. Eine Zeitlang hatten die Wolfrikssöhne versucht, ihr irgendwen an die Seite zu geben, aber erstens war das eine Beleidigung – so alt war sie nun auch noch nicht! –, und zweitens war niemand, einfach niemand gut genug. Und so hatten sie alle entnervt aufgegeben, weil Marga immer und sehr ausdauernd an ihnen rumgekrittelt hatte. Wenn überhaupt duldete sie Hilfen, aber niemanden, der auch nur annähernd auf den Gedanken kommen könnte, halbwegs gleichberechtigt neben ihr zu sein und vielleicht irgendwann mal von ihr übernehmen zu dürfen. Bis die Wolfrikssöhne ihr schließlich ihre Enkelin präsentiert hatten. Sie war ein Goldstück, ein Schatz, der nichts falsch machen konnte, keine bessere könnte es geben in der Küche, und wenn es jemals jemanden geben würde, der eines fernen Tages das Zepter von ihr überreicht bekommen würde, dann war sie es. Marga achtete seither wie ein Luchs darauf, dass ihr niemand in die Quere kam, was es für die verschiedenen Küchenhilfen nicht einfacher machte.


    Sie schüttelte nur den Kopf, während ihre immer noch guten Ohren dem Gespräch folgten. Das war einer ihrer zahlreichen Vorteile: sie hörte nach wie vor gut, aber sie war alt genug, dass sie sich einfach schwerhörig stellen konnte. Was sie mit großer Freude tat. Hatte nur Vorteile – wenn sie etwas nicht hören wollte, hörte sie es nicht, und weil die Menschen sowieso glaubten, sie würde nichts verstehen, bekam sie unfassbar viel mit. So wie jetzt, wo sie sogar noch extra die Ohren spitzte. Diese Geschwister! Schon als Kinder hatten sie immer in der Küche herumgehangen. Was Marga jedes Mal dazu gebracht hatte sich aufzuregen und ihnen im Zweifel mit einem großen Kochlöffel hinterher zu jagen, aber insgeheim immer gefreut hatte, weil es zeigte, dass die Küche in der Villa Duccia das war, was jede Küche sein sollte: das Herz des Hauses. Deswegen waren die zwei auch jetzt hier: weil wichtige Diskussionen im Herz stattfinden mussten. Marga wusste das. Aber diese Brüder! Es hatte einen Grund gegeben, warum Witjon ihnen zu Lebzeiten keinen verantwortungsvollen Posten in der Freya gegeben hatte, obwohl beide bereits seit Jahren mitarbeiteten, ihm geholfen und durchaus inoffiziell bereits Verantwortung getragen hatten. Weil die zwei sich dann in die Haare gekriegt hätten. Aber wenn Witjon sich noch darum gekümmert hätte, hätte er einfach irgendwann ein Machtwort sprechen können. Und jetzt mussten sie selbst schauen, wie sie das auskartelten, was aber nicht sonderlich von Erfolg gekrönt war bislang. Es sah so aus, als bräuchten sie... einen Schubs. Marga lächelte sachte ein zahnlückiges Lächeln und begann in ihrem Schaukelstuhl zu schaukeln.


    „Jetzt reißt euch mal zusammen! Ich lass euch nicht meine Küche bevölkern, nur damit ihr euch gegenseitig die Köpfe einschlagen könnt, ich dachte das hätt ich euch schon eingebläut, als ihr noch halb so groß wart wie jetzt!“ Sie schüttelte den Kopf und schaute mit exakt dem strafenden Blick, der normalerweise mit einem erhobenen Nudelholz in ihrer Rechten einherging – und genoss insgeheim, wie die beiden jungen Männer kurzzeitig erstarrten und sie mit exakt demselben Blick ansahen, den sie auch früher aufgesetzt hatten, als sie noch Kinder gewesen waren. Manches änderte sich nie, und das war auch gut so, fand sie. Einen Moment ließ sie sie schmoren – dann entspannte sie ihren Gesichtsausdruck. Ein wenig. „Du!“ Ihr Finger stach Richtung Iring. „Nur weil dir von deinen Geschwistern der Papyruskram am meisten liegt, heißt das noch lange nicht, dass du dir darauf was einbilden brauchst. Das ist wichtig, jemand muss es erledigen, aber es ist nicht das einzige, was man braucht, um so etwas wie die Freya am Laufen zu halten. Und sei bloß vorsichtig mit deiner Wortwahl hier in meiner Küche!“ Auf Rhabans Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, aber das verging ihm im nächsten Augenblick, als er selbst dran war. „Und du! Du kannst andere Dinge besser als Iring, das weißt du auch. Ein Curator muss so viel mehr machen als das, was dir in die Wiege gelegt worden ist. Glaubst du ernsthaft, da bleibt keine Verwaltungsarbeit an dir hängen? Glaubst du, du könntest guten Gewissens weiter herumreisen, anstatt hier zu sein und dich um die Geschäfte zu kümmern?“ Sie schüttelte den Kopf. „Und ihr alle beide vergesst außerdem, dass ihr nicht alleine seid. Was ist mit Dagny, die euch jetzt schon seit Monaten hilft? Was ist mit Dagmar, die am längsten schon dabei ist? Was ist mit Octavena, die im Moment all das verwaltet, was Witjon zuvor verwaltet hat? Vielleicht solltet ihr auch mal mit denen reden!“

    Die Küche war für manch einen der Wolfrikssippe das inoffizielle Herzstück das Villa Duccia. Zwar nicht als Speiseraum ausgestattet, verfügte sie dennoch über einen großen Tisch, an dem man beieinander sitzen konnte. Darüber hinaus war sie mit allem ausgestattet, was eine Küche brauchte, die eine ganze Sippe mitsamt Muntlingen zu versorgen hatte, und bot auch entsprechend Platz für jene, die darin hantierten. Nach wie vor, trotz ihres inzwischen etwas höheren Alters und der Tatsache, dass ihr von den Duccii die ein oder andere Hilfe zur Seite gestellt worden war, gab es immer noch nur eine, die hier das Sagen hatte: Marga.

    Mit der Nachricht über Sabacos Fast-und-dann-doch-nicht-Braut sowie der Ankunft von Cimbers Onkel fing das Gespräch an ein bisschen durcheinander zu gehen. Wenn Cimber vorgehabt hatte, den Matinier aufzuheitern, dann war das ein absoluter Reinfall – Sabaco war erkennbar nicht amüsiert. Und Umbrenus Nero reagierte fast wie Hadamar, als er dann auch noch davon hörte, nur mit dem Unterschied, dass er seinen Met gleich quer über das Feuer prustete und ein paar Flammen höher lodern ließ – und dass er zuerst ebenso wenig wie Sabaco amüsiert drein blickte, bevor er dann schließlich doch anfing zu grinsen. Und diese Madara in etwas anderem Licht präsentierte als Cimber zuvor.


    Hadamar stellte in diesem Moment fest, dass er ziemlich froh war, bei derlei Familiengeschichten bislang außen vor gewesen zu sein, selbst bei seinen engsten Familienangehörigen – Eldrids Hochzeit hatte Alrik eingefädelt. Dann allerdings ging ihm auf, dass er sich auch dabei in Zukunft nicht mehr zurückziehen würde können. Dagny war im heiratsfähigen Alter. Und bisher hatte er noch nichts davon gehört, dass irgendjemand schon was eingefädelt hatte für sie, oder auch nur angedacht. Für einen kurzen Moment suchte sein Blick seine Schwester und fand sie schließlich im Gespräch mit Octavena und einem jungen Mann, der ein wenig verloren aussah. Vielleicht, nein, sicher sollte er mal nachfragen, wie da der Stand war. Aber nicht jetzt, und so trank er einfach noch schnell einen Schluck Met, um die Gedanken wegzuspülen.


    Und auch Cimber versuchte nun, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, weg von Verkupplungs- und Heiratsplänen, nachdem er einen weiteren Versuch gestartet hatte, den Matinius zu besänftigen. Hadamar trank einen weiteren Schluck, als sie anstießen, überging dabei, dass sie auf ihn als Gastgeber anstießen – was ihm immer noch wirklich seltsam vorkam –, und knüpfte dann mit einem leichten Grinsen wieder an das Thema Cappadocia an. „Naja. Nichts gegen Anwesende und ihre Heimat, und interessant ist es allemal da, find ich. Aber Elysium auf Erden würd ich’s jetzt nicht unbedingt nennen.“

    Hadamars etwas skeptischer Blick wandelte sich zu einem vergnügten Funkeln, als er seiner Schwester zugrinste auf ihr Zwinkern hin. Er nahm einfach an, dass sie Geschichten genug über ihn gehört hatte, um sehr genau zu wissen, dass er bisher eher nicht zuständig gewesen war für positive Überraschungen. Er hatte auch nicht ständig für Ärger gesorgt, so war es nicht gewesen, aber wenn er irgendwie aufgefallen war, dann in der Regel negativ, schon allein weil er sich immer gegen die Erwartungen seiner Mutter gewehrt hatte. Allein dass er bei der Legio war, gehörte ja auch schon dazu, das hatte sie nie gewollt, weder für ihn noch für einen seiner Brüder. Aber nun ja... Iring und Rhaban machten sie ziemlich sicher stolzer als er. Die hatten sich wenigstens vom Exercitus ferngehalten und mit ihrer Arbeit in der Freya tatsächlich was Verwalterisches gemacht.


    „Ach, nee, chaotisch ists deswegen trotzdem net. Sie müssen nur eingeschliffen werden.“ Er zuckte die Achseln. „Auch wenn das ziemlich herausfordernd ist gerade, Chaos lassen wir deswegen noch lange net ausbrechen.“ Wäre ja noch schöner, wenn es so weit käme – ganz davon abgesehen, dass dann er selbst dran sein würde, wenn er es nicht schaffte seine Centurie im Zaum zu halten. Im Zweifel musste er sie halt zurecht peitschen, wenn es sein musste, und genau das würde er tun, bevor es tatsächlich chaotisch wurde.


    Bei der nächsten Frage lachte er leise. „Rekrutiert wird, weil die Legio nach wie vor nicht bei voller Sollstärke ist.“ Das war kein großes Geheimnis – es fiel einfach auf, ob da fünf- bis sechstausend Mann vor Ort waren oder knapp über die Hälfte davon. „Wir sind genug, sonst wäre die Vexillation der II nicht abgezogen, aber das heißt nicht, dass wir deswegen nicht weiter unsere Reihen füllen.“ So ganz sicher war Hadamar sich dessen nicht... angesichts der Tatsache, dass die XXII eben gerade so war, wie sie war, aus sehr vielen Soldaten bestand, die hier neu waren, gleich ob nun Veteran oder Tiro, machte er sich ja selbst Gedanken. Es ließ sie auf jeden Fall weniger schlagkräftig sein als eine eingespielte Legio mit vergleichbarer Mannstärke. Aber das würde er seiner Schwester nicht unter die Nase reiben. Sie sollte sich sicher fühlen, und beschützt, und nicht anfangen sich Sorgen zu machen. Und das war etwas, was er sowieso schon immer recht gut konnte und im Lauf der Jahre dann perfektioniert hatte: was er dachte in sich zu verschließen, und etwas anderes auszustrahlen. Hatte ihm beim Spielen immer geholfen. Und jetzt hieß es halt in der Regel: Zuversicht ausstrahlen, selbst wenn er sie nicht ganz so empfand, überzeugend wirken, auch wenn er selbst nicht oder nur teils überzeugt war. Brachte das Dasein als Centurio so mit sich, es hatte mehr als nur eine Situation gegeben, in der es nötig gewesen war sich genau so gegenüber seinen Männern zu geben. Mehr als nur einen Kampf, den sie gewonnen hatten, weil sie ihm geglaubt hatten.

    „Was hast du gegen unseren Winter?“ grinste er zurück. „Der ist wunderbar! Ich bin so froh, endlich wieder einen hiesigen zu erleben, in Cappadocia hast du das Gefühl auszutrocknen, obwohl um dich rum Schnee liegt. Der Caesar kann froh sein, ihn zu erleben.“ Dann zuckte er die Achseln. „Er wird demnächst irgendwann den Adler übergeben, aber wann genau steht noch nicht fest.“ Hadamar war sich nicht ganz so sicher, was er davon halten sollte, dass der Caesar hier war. Für die Provinz war es eine Ehre, für die Einheiten hier bedeutete es aber vor allem mehr Arbeit. Es war schlicht ein Sicherheitsrisiko mehr, das im Moment bei der Ala weilte, aber irgendwann auch zur Legio kommen würde. Darüber hinaus wusste er nichts über den Mann. Und auch herzlich wenig über seinen Vater. Der war der vierte Kaiser, den es gab seit Hadamar sich den Adlern verpflichtet hatte, und obwohl sein Eid ihm galt, diesem nicht greifbaren Mann im fernen Rom, und dem Reich, war das, was ihn antrieb, doch etwas anderes. Die Legion, die Kameraden, die Gemeinschaft. Und auch, gerade hier in seiner Heimat wieder: die Menschen der Provinz, in der er stationiert war. Die die Legion letztlich schützte. „Doch, eingelebt hab ich mich da. Cappadocia ist ganz anders als hier, aber auch schön, und vor allem interessant, fand ich. Interessant is ja erst mal nix Schlechtes“, neckte er sie grinsend. „Aber ich bin froh, wieder hier zu sein. Ist halt Heimat, das ist was anderes, das merkt man. Das Land, die Leute... und die Familie. Vor allem die Familie.“ Sein Grinsen wurde zu einem versonnenen Lächeln, und er sah sie an. „Ich hab euch vermisst.“

    Hadamar holte sich ebenfalls einen Met und etwas zu essen, während Sabaco für einen Moment so aussah, als hätte er auf etwas nicht sehr Appetitliches gebissen. „Die Reise war in Ordnung. Ging recht flott“, überging er die Miene jedoch, genauso wie er dezent untertrieb was ihr Reisetempo anging – und einfach unterschlug, dass er das selbst vorgegeben hatte. „Ja, man könnt wirklich meinen die Welt wär ein Dorf. Ich hab auch einen... kleinen Ziehbruder, wenn man so will, bei der Ala.“* Ein Schmunzeln glitt über sein Gesicht, als Cimber über den Tribun sprach, der ihre Versetzungsbefehle abgezeichnet hatte, und wie er ihn charakterisierte. Hadamar indes hielt sich zurück mit Kommentaren über den Tuccius, wenn es blöd lief, dann würde der Mann auch hier sein Vorgesetzter werden – da war es besser, die Strategie aus Satala einfach weiterzufahren: neutral verhalten, Befehl befolgen. Es brachte nichts, sich mit Männern wie dem Tuccius anzulegen, solange er nicht wirklich bei einem wichtigen Thema komplett falsch lag. Und selbst dann konnte man als Offizier vielleicht seine Meinung anbringen, musste aber am Ende trotzdem den Befehl ausführen, wenn der sich nicht änderte.


    Und dann sagte Cimber etwas, das Hadamar unterdrückt prusten ließ. Was unproblematisch gewesen wäre, hätte er nicht gerade etwas von seinem Met getrunken. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil des Getränks geriet plötzlich in seine Luftröhre, und er drehte sich zur Seite, während er für ein, zwei Augenblicke von Husten geschüttelt wurde, bis er den Reiz im Hals einigermaßen wieder unter Kontrolle hatte. Der Vorteil daran war: der Husten kaschierte sein Lachen immerhin komplett. Er hatte auf der Reise schon gemerkt, dass Cimber sehr offenherzig war und frei von der Leber weg sprach – und Hadamar mochte das sehr, das war einer der Hauptgründe, warum er sich mit dem Mann angefreundet hatte, und das recht schnell. Aber das, was er jetzt gerade erzählte, war dann doch so offenherzig, dass Hadamar nicht anders konnte als sich zu amüsieren. Dass Cimber überhaupt davon erzählte, dass Stilo und er eine Ehefrau für den Matinier ausgesucht hatten, dass Sabaco davon offenbar gar nichts gewusst hatte bisher, weil Cimber das als neue Information präsentierte, dass sie ihm diese wunderbare Frau schon wieder quasi weggenommen hatten, weil Stilo sie für sich selbst wollte... die Geschichte war einfach lustig, und zugleich ein bisschen bizarr.


    „‘Tschuldigung. Falscher Hals“, brummte er, als er wieder zu Atem gekommen war, und trank einen Schluck hinterher, bevor er sich den Fragen nach dem Haus widmete. Ungefährliches Terrain, das war gerade ganz sicher besser, auch wenn Cimbers Kommentar dazu führte, dass sich irgendwo in ihm etwas zusammenzog. Dein Haus, echote es in seinem Kopf. Was sich falsch anhörte, für ihn. Es war Witjons Haus. Witjon war das Sippenoberhaupt. Davor war es Lando gewesen. Jetzt wären es Alrik, oder Phelan. Aber Lando war tot, seit Jahren schon, Witjon war nun auch tot, Phelan war die Götter wussten wo im Augenblick, und Alrik... Hadamar rang sich ein Lächeln ab und stoppte seine Gedanken, bevor diese zu jenem Zimmer in der Villa wanderten, in dem Alrik lag. Dem er bislang als einzigem der Familie noch keinen Besuch abgestattet hatte. „Es ist das Haus meiner Sippe“, erwiderte er. Was Besseres fiel ihm nicht ein, ohne tief in die Familiengeschichte – und seine eigene, ganz persönliche – einzusteigen und eine Menge erklären zu müssen, was er nicht erklären wollte, unter anderem warum er sich nicht als das neue Familienoberhaupt sah. „Der Bau ist noch nicht so alt, aber ich hatte kaum Anteil daran, das waren die Älteren der Familie. Aber ja. Genau das wollen wir eigentlich: aus beiden Welten das Beste nehmen und es vereinen. Man kann seinen Wurzeln treu bleiben und trotzdem neue Dinge dazu nehmen, wenn man sich nicht daran stört, dass es manchmal knirscht und ruckelt, bis es passt.“


    Er schüttelte leicht den Kopf bei der nächsten Frage. „Ich war davor in Rom und Carthago stationiert, von daher war ich was anderes schon gewohnt, bevor ich zur XV gekommen bin. Aber Rom war einer, definitiv.“ Er grinste kurz. „Nicht nur die Stadt selbst, die Größe, die Masse der Menschen – auch die Stadteinheiten waren nicht so meins, um ehrlich zu sein. Da war Satala dann eher eine Erleichterung im Vergleich dazu... normales Legionslager, normale Dienste, ne Grenze zum Schützen, das liegt mir mehr. Cappadocia war aber interessant. Zu trocken und im Sommer zu heiß für meinen Geschmack, aber die Landschaften, die man da sehen kann, sind der Wahnsinn, bei manchen Strukturen fragt man sich, ob die Götter irgendwelche Pilze intus hatten, als sie sie geschaffen haben. Und Feuer aus der Erde hab ich so auch noch nicht erlebt.“ Tariq und auch manch anderer Einheimischer hatten ihm erzählt, dass dahinter Dschinn steckten, übernatürliche Wesen aus Feuer und Rauch. „Und die Menschen. Deutlich mehr Freude am Handeln, am Reden generell, auch am sich-Rausreden. Aber unterm Strich sind zumindest die einfachen Leute gar nicht so anders als hier.“ Die Reichen vermutlich auch nicht, schätzte Hadamar, aber mit denen hatte er nun eher wenig bis gar nichts zu tun gehabt.


    Als dann ein weiterer Mann zu ihnen trat, grüßte Hadamar auch diesen freundlich. „Salve und frohes Julfest. Ich bin Lucius Duccius Ferox.“



    Sim-Off:

    * Wird aktuell ausgespielt, liegt zeitlich vor dem Julfest.

    Das Julfest war fast vorüber, die meisten Gäste waren bereits gegangen, übrig blieben nur die, die immer spät blieben, und wirklich enge Freunde der Familie. Auch Hadamar hatte sich irgendwann zurückgezogen, aber nicht, um zu gehen. Im Lauf des Abends war in ihm etwas gereift – die Erkenntnis, dass er sich nicht länger drücken konnte. Und so stand er jetzt da, in Alriks Zimmer, und starrte die Gestalt, die vor ihm auf dem Bett lag, reglos an. Sein Gesicht verriet nichts von dem, was gerade in ihm vorging, und selbst seine Augen spiegelten nur wenig wider. Dass sie aber überhaupt etwas verrieten, zeigte, wie sehr ihn der Anblick mitnahm. Er war mitten in der zweiten Hälfte seiner Dienstzeit, seit bald 15 Jahren also schon Soldat. Er hatte einen Bürgerkrieg erlebt, der noch dazu seine Bluttaufe gewesen war, seine erste Erfahrung mit Kampf, die nicht Drill und nicht Übung war. Seine erste Schlacht. Sein erster echter Kampf auf Leben und Tod. Das erste Mal, dass ein Gegner durch seine Klinge den Tod gefunden hatte. Und der war dabei zu so etwas wie einem ständigen Begleiter geworden, vielleicht mal abgesehen von seiner Zeit bei den Urbanern.


    Der Tod und die Scharmützel und die Gräuel, die damit einher gingen, die man sah, erlebte, selbst tat, die kannte er zur Genüge. Daran war er gewohnt, und damit hatte er gelernt umzugehen, mal besser und mal schlechter vielleicht, aber unterm Strich wurde er damit fertig. Aber das hier... das war etwas völlig anderes. Zu sehen, wie Alrik hier so lag... gefangen in seinem Körper, seinem Kopf, unfähig sich zu rühren, etwas zu sagen, wach zu werden. Nur das leichte Heben und Senken seiner Brust zeigte, dass er überhaupt noch am Leben war.


    Was in Hadamar vorging, war letztlich sehr simpel: Entsetzen. Tiefes Entsetzen über diesen Anblick. Er hatte gewusst, hatte in Briefen gelesen, wie Alriks Zustand war, aber das waren nur Worte auf Wachstafeln oder Papyrus. Es ließ sich ignorieren, verdrängen, ausblenden. Dieser Anblick dagegen... nicht. Und damit einher ging auch eine nicht mehr zu verdrängende, unfassbare Hilflosigkeit, die ihn quälte, umso mehr, weil er sie nicht gewohnt war.


    Der Tod wäre weit besser, weit gnädiger gewesen als das, was Alrik widerfahren war.


    Unwillkürlich fragte Hadamar sich, ob Alrik etwas mitbekam von seinem Zustand, ob er irgendwo tief drin sich dessen bewusst war. Und das war der Augenblick, in dem sich sein tiefes Entsetzen wandelte in ein namenloses Grauen, das ihn zu schütteln begann. Er konnte sich wenig vorstellen, was schlimmer wäre als dieser Zustand – aber ihn mitbekommen, miterleben zu müssen, sich rühren zu wollen, aber nicht zu können, und das Tag für Tag, das gehörte definitiv dazu. Und er hoffte, betete zu allen Göttern, dass es nicht so war. Dass Alrik schlief, und sein Geist einfach gar nicht wusste, was hier mit ihm abging. Im Gegensatz zu denen, die ihn so erleben mussten.


    Er stand da, ohne sich zu regen, für wie lange wusste er selbst nicht so genau. Als das Grauen eingesetzt hatte, wäre er am liebsten verschwunden, aber er zwang sich zu bleiben. Zwang sich, seine Emotionen im Zaum zu halten. Er war Soldat. Er war Centurio. Er lief nicht davon. Und er hatte sich in seiner Jugend lange genug vor familiären Pflichten gedrückt. Es wurde Zeit, dass sich das änderte... dass er das, was er in der Legio nun schon seit Jahren tat, auch in seiner Familie machte: Verantwortung übernehmen.


    „Du würdst wahrscheinlich lachen, wenn du könntst“, brummte Hadamar. „Witjon auch. Ausgerechnet ich, hu? Ausgerechnet ich...“ Er seufzte. „Aber es ist ja sonst keiner da. Und ich kann Octavena und Dagmar damit nicht allein lassen.“ Er wollte es, die Götter wussten, er wollte sie damit am liebsten allein lassen. Sich drücken, so wie früher. Aber früher war halt immer jemand da gewesen, der übernahm, so dass er überhaupt die Möglichkeit hatte sich zu drücken. Jetzt war es so, wie er Alrik gesagt hatte: es gab gerade keinen. Keinen, der hier war. Vielleicht wuchsen Iring oder Rhaban irgendwann mal hinein in diese Rolle, aber wenn sie jetzt schon so weit wären, hätten sie schon längst mehr übernommen. Hätten sie schon längst ein ganz anderes Auftreten. Er seufzte noch mal. „Ich lass dich jetzt schlafen... aber ich komm wieder. Dann erzähl ich dir ein bisschen was von Cappadocia.“ Er hatte keine Ahnung, ob Alrik etwas mitbekam, er hoffte ja ganz im Gegenteil, dass es nicht so war. Aber für den Fall, dass es anders war... dass er doch etwas, gleich ob wenig oder viel, von dem bemerkte, was um ihn herum vorging... na ja, Hadamar konnte nur von sich ausgehen, aber wenn er nicht sowieso schon längst verrückt geworden wäre da drin, würde er sich wohl nach allem sehnen, was Ablenkung bot. Also würde er wiederkommen, wenn er konnte, und erzählen. Ihn auch weiter auf dem Laufenden halten. Das versprach er Alrik, bevor er das Zimmer schließlich wieder verließ, mit einem Herz, das schwer war.

    Hadamar bemerkte, dass Tariq neben ihm spätestens jetzt nervös wurde, wo er ihn einer größeren Runde noch mal explizit vorstellte. Aber es half nix, da musste er durch – immerhin musste er ja auch allein hier bleiben bei seinen Verwandten. Aber er würde schon merken, dass ihn hier keiner fressen würde, selbst wenn vielleicht – was Hadamar aber nicht hoffte – der ein oder andere skeptisch war. Dagny allerdings sprang gleich schon in die Bresche und begrüßte Tariq, was Hadamar mit einem dankbaren Lächeln quittierte, und führte damit fort, was Farold schon begonnen hatte und ohne Umstände auch weiter machte: ein Empfang, der seinem Begleiter die Ankunft hier hoffentlich leichter machte. Er grinste, als der Junge davon sprach eine Geschichte versprochen bekommen zu haben, während Dagny kurz verschwand. „Eine Geschichte?“ Er ließ sich in einen der Sessel fallen und freute sich darauf, kurz was essen und trinken zu können, bevor er weiter zur Legio musste. „Tariq kennt Dutzende, eine toller als die nächste.“ Er machte eine verschwörerische Miene und zwinkerte Farold kurz zu, nur um dann halb ertappt, halb angemessen schuldbewusst drein zu gucken, als dessen Mutter darauf hinwies, dass Farold erst fragen sollte – und Tariq, dass er nicht alle Wünsche des Kleinen sofort erfüllen musste, der wiederum die Gelegenheit ergriff und mit Octavena versuchte ins Gespräch zu kommen.

    Hadamar grinste leicht. „Danke, danke. Aber nicht mein Verdienst, das hat meine Familie alles übernommen. Der, äh, Dienst hat verhindert, dass ich mich bei der Organisation groß einbringen konnte.“ Er grinste auf eine Art, die deutlich machte, dass er darüber ganz und gar nicht unglücklich war. „Alles in Ordnung, sieht man mal davon ab, dass die XXII sich noch einrütteln muss, weil alle und alles neu ist.“ War auch für ihn neu, eine Centurie zu haben, von denen sich so gut wie alle erst seit kurzem kannten – aber welcher Centurio kannte das schon? Der Normalfall war das ja für niemanden, so oft wurden neue Legionen nicht ausgehoben.


    Er nickte, als Cimber vorschlug sich ganz zu dem Kamerad zu gesellen, der sich nicht nur mit Namen, sondern komplett mit Dienstrang und Einheit vorstellte, er hatte ohnehin ähnliches vorgehabt – und stand dann etwas verdutzt da, als er die Frage hörte. Wie viel Prozent...? „Ehm. Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Der Bau selbst ist römisch, die Außenarchitektur damit auch eher römisch geprägt. Drinnen gibt es ein, zwei Räume, die vor allem römisch eingerichtet sind, das Triclinium zum Beispiel. Der Rest im Innern... manche Räume sind vorwiegend germanisch, andere gemischt.“ Iring könnte da wahrscheinlich mehr erzählen, aber ob der Matinier sich so eingehend dafür interessierte, dass er seinen Bruder empfehlen sollte, wusste er nicht. „Centurio in der XXII, frisch von Cappadocia“, beantwortete er noch die nächste Frage, bevor der Matinier und Cimber sich gegenseitig am Namen erkannten. Beides Freunde von Seianus Stilo also, jenem Optio, der in Cappadoccia in derselben Cohors gedient hatte wie er, den er aber erst im Rahmen der Straßenbaustrafarbeit für seine Centurie ein bisschen näher kennen gelernt hatte – eine Geschichte, die er Cimber auch erzählt hatte auf dem Weg hierher, als er festgestellt hatte, dass dieser mit Stilo nicht nur ziemlich eng befreundet war, sondern ihn sogar als Bruder betrachtete.


    „Aber sicher“, erwiderte Hadamar ebenso gut gelaunt, als Cimber darauf drängte sich etwas zu essen zu holen, und wies in die entsprechende Richtung, wo Essensstände aufgebaut waren. Auch hier waren es großteils Externe, die seine Familie angeheuert hatte. Es gab nicht die große Auswahl, die es vielleicht bei Stadtfesten gab, und auch nicht die Ausgefallenheit, die manch römische Feste präsentieren mochten, darüber hinaus war man zusätzlich eingeschränkt, weil man das Zeug auch im Stehen essen können musste. Aber auf zwei Dinge war geachtet worden: dass es sowohl römische als auch germanische Gerichte gab – und dass es gut und lecker war.

    Die Meldung machte Hadamar nicht nur beim Terentius, sondern auch beim Cossutius, den Primus Pilus der XXII – den er von der XV und ihrer Reise hierher bereits kannte. Ähnlich wie den Terentius schätzte er ihn als harten Hund ein, dem man so schnell nichts vormachen konnte. Erfahrung mit einer quasi Doppelcenturie hatte er zudem in der letzten Zeit in Satala auch schon sammeln können, wo er eine ganze Zeitlang für zwei Centurien verantwortlich gewesen war.


    Bei dem flüchtigen Moment der Meldung wirkte der Terentius... unzufrieden. Seine Miene verriet nichts, dafür schienen seine Augen zu lodern. Aber wenn ein Gewitter kam für die Einheiten, ließ sich das jetzt sowieso nicht mehr verhindern, also half es auch nichts, sich darüber jetzt den Kopf zu zerbrechen. Hadamar begab sich als zu seinem Platz zurück und wartete ab, was der Anlass des Appells war, und nur ein paar Momente später, als die letzte Centurie Position bezogen und ihr Centurio Meldung gemacht hatte, trat erst der Pilus Posterior vor, kündigte den Primus Pilus an und entließ die Cohors aus ihrer Starre, bevor Cossutius begann zu sprechen. Und was er sagte, sorgte bei dem ein oder anderen Tiro für glänzende Augen. Es war zwar mitnichten ein Geheimnis, dass der Caesar in Mogontiacum weilte, auch dass er den Adler der XXII im Gepäck hatte und überreichen würde nicht, aber die Nachricht, dass es jetzt bald so weit war, machte ein paar der Jungspunde aufgeregt. Bei den meisten waren es nur eben jene glänzenden Augen, die plötzlich leuchteten – ganz anders als die der Veteranen, denen bewusst war, was die Ankündigung eigentlich bedeutete: verdammt viel Arbeit und Zusatzschichten für die II. Cohorte. Bei ein oder zwei der Tirones drohte aber tatsächlich ein wenig Unruhe aufzukommen, und bevor sich das ausweiten konnte, sorgte Hadamar mit einem Schnalzen der Vitis dafür, dass sie sich daran erinnerten, wo sie hier waren – was trotz des Auflösens der strammen Haltung von ihnen erwartet wurde.

    Die dritte Centurie der Cohors II befand sich gerade auf dem Trainingsplatz außerhalb der Castra bei der Exerzierübung, mit der Hadamar mit seiner Einheit momentan jeden Morgen begann. Vor allem ging es darum, dass die neuen Rekruten das so schnell wie möglich drin hatten, dass sie nicht mehr nachdenken mussten – und da half nur endloser Drill. Es ging aber auch darum, aus den Männern eine Einheit zu formen. Normalerweise bestand eine Centurie ja immer aus einem Gutteil Milites, die sich schon seit Jahren kannten, miteinander trainierten, kämpften. Selbst mit der üblichen Fluktuation hatte man immer einen festen Kern, auf den man bauen konnte. Aber hier bei der XXII gab es den natürlich noch nicht, in keiner Centurie, mal abgesehen von den paar Veteranen, die sich noch von früher kannten. Und auch, wenn man sich gerade die Tirones genauso auch allein vornehmen musste, fand Hadamar es in der aktuellen Lage fast noch wichtiger dafür zu sorgen, dass die Centurie zusammenwuchs. Weshalb auch die Veteranen, die das eigentlich nicht mehr nötig hatten, bei der täglichen Exerzierübung dabei waren.


    Dort traf einer der Läufer auf sie und informierte Hadamar. „MILITEEES, IN AGMEN VENITE!“ brüllte der, noch bevor der Läufer weg war. Die Milites, gerade am anderen Ende des Platzes, machten unter Kommando des Optios kehrt und marschierten zurück.
    „STATE“, brüllte der Optio, als sie bei Hadamar angekommen waren, der die Reihe durch ging und die ein oder andere Haltung mit Hilfe der Vitis korrigierte, bevor er wieder nach vorne kam und das Kommando gab: „AEQUATIS PASSIBUS – PERGITE!“
    So marschierten sie im Gleichschritt zu dem Platz, wo der Appell stattfinden würde, und nahmen dort Aufstellung. Nicht alles lief reibungslos – während der Optio vorneweg ging und den Schritt vorgab, nutzte Hadamar die Gelegenheit auch hier korrigierend einzugreifen, wo es nötig war. Auf dem Platz angekommen übernahm Hadamar wieder die Spitze und führte seine Centurie in einem Bogen an ihren Platz nach der ersten und zweiten Centurie. „MILITES! VENITE, ACIEM DIRIGITE!“ Diesmal war es der Optio, der dafür sorgte, dass alle korrekt ausgerichtet waren. „STATE!“
    Ein letzter Blick auf die Centurie, dann marschierte Hadamar zum Pilus Posterior, salutierte und machte Meldung: „Cohors II, Centuria III, angetreten wie befohlen“, bevor er wieder Aufstellung vor seiner Centurie bezog.

    Hadamar zog leicht die Augenbrauen hoch. „Nicht“, wiederholte er ein bisschen skeptisch. Er war sich nicht ganz so sicher, ob das wirklich eine gute Idee war. Ihre Mutter war nicht mehr die Jüngste, und zumindest so wie Hadamar sie im Kopf hatte, auch nie so ein großer Freund von Überraschungen gewesen. „Bist du sicher? Ich hab immer gedacht, Überraschungen wären nicht so ihr Ding... aber vielleicht liegt das an der Art Überraschung, die sie früher immer von mir gekriegt hat.“ Außerdem war er die letzten Jahre nicht da gewesen. Er wusste nur, dass sie, wie alle, älter geworden war, aber hatte keine Ahnung ob sie deswegen tatsächlich weniger aushielt oder so. War auf jeden Fall zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, das Kind war in den Brunnen gefallen – er konnte höchstens Dagny vorschicken um ihn anzukündigen, wenn sie da waren, aber so wie Dagny grinste, als sie ihm erzählte, dass ihre Mutter es nicht wusste, wie sie sich freute über die Überraschung für sie, würde sie da wahrscheinlich gar nicht mitspielen.
    Es war auch aus noch einem Grund müßig, sich Gedanken zu machen, denn im Grunde war es nicht verwunderlich, dass Rhaban sich durchgesetzt hatte. Wenn es um etwas ging, das ihm letztlich nicht so wichtig war, war Iring schon immer eher bereit gewesen nachzugeben. Er hob sich seine Energie lieber für die wesentlichen Themen auf, daran hatte sich scheinbar nichts geändert. Ein bisschen war er da wie Hadamar selbst, der hätte vermutlich auch irgendwann einfach abgewunken und nachgegeben, hauptsächlich weil er keine Lust darauf gehabt hätte, die Diskussion fortzuführen.


    „Mmmh... interessant“, erwiderte er dann auf Dagnys Frage hin. Die XXII erschien bislang tatsächlich am ehesten als das beschreibbar. Es war zumindest eine interessante Ausgangslage, in der sie sich befanden im Moment. Er hatte keinen Überblick über die Rekrutierungsbemühungen, die derzeit womöglich noch am Laufen waren, aber Fakt war: die Legio war noch lange nicht auf Sollstärke. Und der eine Teil der bereits Rekrutierten nahm das mit dem stoischem Gleichmut der Veteranen auf, während der andere Teil das mit der nervösen bis ängstlichen Aufregung der Tirones quittierte. Was fehlte, war die breite Basis dazwischen, die sonst den Kern jeder halbwegs gut aufgestellten Legion bildete – Männer im besten Alter, weder Tiro noch Veteran, die schon genug Jahre auf dem Buckel hatten um Erfahrung zu haben, aber noch nicht so viel dass der Körper schon anfing Ärger zu machen. Eine Basis, die sich noch dazu kannte und eingespielt war, weil sie mehr oder weniger in dieser Form, mit diesen Personen, schon jahrelang existierte. Hadamar machte das ein bisschen Sorge, wenn er ehrlich war. Eine erfahrene, eingeschliffene und aufeinander eingespielte Centurie konnte wahnsinnig viel erreichen, auch mit deutlich weniger Mann als die Sollstärke vorgab. Aber wenn Erfahrung fehlte, der Schliff oder sich die Männer allesamt erst seit kurzem kannten, konnte man erst mal deutlich weniger erwarten – und das Problem bei der XXII war: da traf aktuell nicht nur eines, sondern alles davon zu. Viel Arbeit für die Centuriones, die ihre Männer in kürzestmöglicher Zeit zu einer Einheit formen mussten.
    „Und anders, ja. Also, interessant war’s bei der XV auch, aber auf andere Art. Zur XV gibt’s viele Strafversetzungen, zum Beispiel, das ist nen ganz anderes Kaliber als bei der XXII grad. Da ist im Moment halt vieles neu. Auch die Veteranen, die noch mal zurück gekommen sind für nen paar weitere Jahre Dienst, kommen von überall her, manche kennen sich, manche kennen die Gegend, viele aber auch net. Ist spannend grad.“ Er grinste leicht.

    Zitat

    Appius Umbrenus Cimber

    Publius Matinius Sabaco

    Hadamar war ebenfalls da. Gerade während der Saturnalia war es leichter, die Möglichkeit zu bekommen sich ordnungsgemäß abzumelden für einen Anlass wie diesen hier. Trotzdem war er innerlich irgendwie auf dem Sprung, und das nicht nur, um bereit zu sein sollte doch jemand von der Legio kommen und ihn zurückbeordern. Nein, er... er fühlte sich ein bisschen seltsam. Die ganzen letzten Jahre hatte er sich danach gesehnt, die traditionellen Feste im Kreis seiner Familie begehen zu können, so wie früher – und jetzt, wo es endlich so weit war, fand er es... merkwürdig. Es lag nicht nur daran, dass die Familie beschlossen hatte, mal wieder eine größere Feier auszurichten, denn das hatten sie immer mal wieder, und gerade Jul bot sich dafür an. Es lag auch nicht daran, dass sie germanische und römische Traditionen miteinander verknüpften in diesem Fest – Jul war im Prinzip seit jeher das wichtigere Fest hier, zumindest für sehr viele Bewohner der Stadt, aber es war für niemanden ein Problem, die Saturnalien einfach mitzunehmen. Vielleicht lag es daran, dass er trotz aller Sehnsucht danach, die Feste wieder richtig feiern zu können, sich schlicht daran gewöhnt hatte, allein zu sein, oder höchstens noch Tariq dabei zu haben.


    Er betrachtete die Gäste, wie sie eintrudelten, grüßte auch mal hier und mal da, aber auch was das betraf merkte er, dass er ein paar Jahre weg gewesen war: viele Gesichter sagten ihm wenig bis gar nichts, entweder weil er sie tatsächlich nicht kannte, oder weil er sie schlicht nicht erkannte. Bei dem ein oder anderen klingelte mal was, aber gute Bekannte, gar Freunde von ihm von früher, solche, bei denen Hadamar sich von seinem Platz gelöst hätte um zu begrüßen, hatte er noch nicht gesehen. Der ein oder andere würde wohl noch auftauchen, Hadamar hatte zumindest seiner Familie eine Liste geschickt mit denen, von denen er fand sie sollten eingeladen werden. Was so ziemlich sein einziger Beitrag zur Organisation gewesen war. Sein Dienst hatte nicht mehr zugelassen, nicht mal die die dazu gehörigen Einladungen selbst zu unterzeichnen, und Hadamar war ziemlich froh darüber, dass er sich einfach darauf hatte berufen können und einfach aus so gut wie allem anderen raus gewesen war. Aber deswegen hatte er nun halt auch keine Ahnung, ob das auch wirklich so passiert war.

    Er sah flüchtig zu Octavena, die sich unter die Leute gemischt hatte, lächelte und Gäste begrüßte, und für einen flüchtigen Moment fragte er sich, ob er es ihr nicht eigentlich gleich tun sollte. Müsste. Es gab keinen Hausherrn derzeit, nicht wirklich, höchstens Alrik, aber der – Hadamar schnitt sich selbst den Gedanken rigoros ab. Er hatte inzwischen auch seine Mutter besucht, aber bei Alrik war er noch nicht gewesen. Er redete sich ein bisher noch keine Zeit dafür gehabt zu haben, aber die schlichte Wahrheit war, dass er irgendwo tief in sich Angst davor hatte, den Mann in seinem jetzigen Zustand zu sehen. Er wollte nicht mal drüber nachdenken. Und wie auch immer: Alrik war raus, Witjon war tot, und Phelan trieb sich irgendwo in der Weltgeschichte herum. Niemand da, außer seinen Brüdern und ihm, und sogar Hadamar war bewusst, dass er das seinen Brüdern kaum zumuten konnte. Sie übernahmen ja schon die Verantwortung für die Freya, hätten sie das auch noch für die Familie tun wollen, tun können, hätten sie das die letzten Monate schon längst gemacht. Aber sich selbst... sich selbst sah Hadamar ehrlich gesagt auch nicht in dieser Rolle. Er wollte helfen, ja, unterstützen wo er konnte, aber das war etwas anderes als gleich die Verantwortung für die ganze Familie zu übernehmen.


    Er kratzte sich hinterm Ohr und verfluchte sich innerlich, warum er überhaupt angefangen hatte über so was nachzugrübeln, als er dankenswerterweise endlich ein bekanntes Gesicht sah – nicht von früher allerdings. Mit einem Grinsen auf den Lippen stieß er sich von der Wand ab und bewegte sich auf Cimber zu, einer von denen, die auf seiner Liste gestanden hatten. Also waren auch die Einladungen für ihn verschickt worden. „Heilsa, Cimber“ begrüßte er ihn herzlich, und erst während er seinen Unterarm ergriff und ihm kurz die Schulter klopfte, ging ihm auf, dass der andere den germanischen Gruß mittlerweile vielleicht gehört haben mochte hier, aber dass es vielleicht etwas unhöflich war. „Salve, mein ich“, korrigierte er sich also mit einem Augenzwinkern. „Freut mich, dass du die Einladung gekriegt hast und gekommen bist. Wie gehts? Zufrieden bei der Ala?“
    Er sah hinüber zu einem weiteren Mann, der sich zu ihnen ans Feuer gesellte – ein flüchtiger Blick reichte, um ihn als Angehörigen des Exercitus zu identifizieren, ähnlich wie bei Hadamar auch. Völlig zivil, das war etwas, das er seit annähernd fünfzehn Jahren im Grunde nicht mehr kannte, zumindest den cingulum militare trug er überall. „Dir auch ein Frohes Fest.“ Und dann, mit einem winzigen Moment Verspätung, ging ihm auf dass er wohl wenigstens jetzt so was wie den Gastgeber spielen sollte, und stellte vor: „Und herzlich Willkommen in der Villa Duccia. Das ist Appius Umbrenus Cimber, und ich bin Lucius Duccius Ferox.“

    It was the Yuletide, that men call Christmas though they know in their hearts it is older than Bethlehem and Babylon, older than Memphis and mankind.
    H.P.Lovecraft – The Festival


    Zur längsten Nacht des Jahres luden die Duccier ein: zum Julfest, das sowohl die germanisch- wie auch keltisch-stämmigen Bewohner des nördlichen Teils der bekannten Welt alljährlich feierten. In den römischen Provinzen allerdings war da noch ein anderes Fest, das sich zeitlich überschnitt: Saturnalia. Und da die Wolfrikssöhne seit mittlerweile mehr als einer Generation die Verquickung ihres germanischen Erbes mit den römischen Sitten nicht nur vorantrieben, sondern davon durchaus profitierten, lag es nahe, beides zu feiern – nicht zuletzt da auch jene eingeladen waren, die mit dieser Provinz nicht heimatlich verbunden waren. Welche Feste der ein oder andere aus seiner Heimat kennen mochte, sei dahin gestellt, das römische Fest der Saturnalia jedoch war etwas, das alle verband.


    Und so war die Villa Duccia an diesem Tag bereits ausgeräuchert worden, um böse Geister und alles Unheil des vergangenen Jahres daraus zu vertreiben, und anschließend festlich geschmückt worden, und ein zarter Hauch von Schnee überzog das Anwesen, als wollten die Götter den Schmuck noch hervorheben durch das reine Weiß. Speis und Trank waren bereit gestellt, und auch wenn es in der Villa Duccia keine Sklaven gab, denen man hätte freigeben können, konnten die Muntlinge an diesem Tag ebenfalls mitfeiern. Stattdessen waren es externe Kräfte, vornehmlich aus den eigenen Betrieben, die sich an diesem Tag darum kümmerten, dass alle zufrieden und versorgt waren. Vor dem Tor der Villa war ein großer Holzhaufen aufgeschichtet, um mit einem lodernden Feuer diese längste Nacht zu überstehen, und gleichzeitig zu feiern, dass die Sonne, wie jedes Jahr, von nun an wieder zurückkehren würde, dass die Tage von jetzt an wieder länger wurden. Die Winterkälte würde die nächsten Wochen und Monate noch deutlich zunehmen... auch die Rauhnächte begannen erst heute, die Zeit, in der jeder sich in Acht nehmen sollte, der in der Dunkelheit noch unterwegs sein musste, auf dass er nicht Wodan und der Wilden Jagd in die Quere kam und mitgenommen wurde. Aber die Macht des Winters, der Dunkelheit, war im Grunde mit der heutigen Nacht bereits gebrochen.


    Sim-Off:

    Alle ID’s in Mogontiacum sind herzlich eingeladen, an diesem Fest teilzunehmen – eine Begründung für eine Einladung findet sich immer, im Zweifel wurde man von einem Freund der Familie mitgenommen. Wer teilnehmen möchte, einfach ohne Umwege über die Porta hier posten :)

    Er hielt Dagny fest im Arm, bis sie von selbst Anstalten machte sich aus der Umarmung zu lösen, und spätestens als er danach die eine Träne sah, die sich über ihre Wange ihren Weg nach unten suchte, wurde ihm klar, dass das wohl richtig so gewesen war. Er wuschelte ihr kurz durchs Haar und erwiderte grinsend ihr Lächeln. „Tut mir leid, ich hätt ja geschrieben bevor ich aufgebrochen bin. Aber nachdem ich den Brief dann gleich selbst hätt mitnehmen können, so wenig Zeit wie der Marschbefehl für unsern Aufbruch gelassen hat, hab ich mir das gespart.“


    Er nickte, als Dagny davon sprach reinzugehen, und sie verlagerten das ganze vom Tor hinein.

    Auch hier drin hatte sich nichts verändert, und so fand Hadamar den Weg ohne zu zögern ins Kaminzimmer, das es schaffte die Balance zu wahren zwischen Gemütlichkeit und gleichzeitig geeignet zu sein für offizielle Besuche, die man nicht unbedingt im Officium empfangen wollte.


    „Also, nochmal endgültig: Ich bin nicht nur zu Besuch hier, ich bin zur XXII versetzt worden.“ Er stellte sich neben Tariq und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Und das hier ist Tariq. Wir haben uns in Cappadocia kennen gelernt.“ Flüchtig überlegte er, was er jetzt genau sagen sollte. Dass er sein Mündel war? Dass er auf ihn aufgepasst, ihn unter seine Fittiche genommen hatte? War alles irgendwie richtig, ja – klang alles aber trotzdem irgendwie nicht ganz korrekt. Fand Hadamar jedenfalls. Also tat er das, was er in so einem Fall immer tat: er redete nicht um den heißen Brei herum, sondern kam einfach direkt auf den Punkt, den er für relevant hielt: „Tariq ist in den letzten Jahren zu Familie geworden für mich. Deswegen hab ich ihn auch gefragt, ob er mitkommt. Ich würd mich freuen, wenn ihr ihm hier genauso begegnet wie er mir in den letzten Jahren in Satala.“ Mal abgesehen von ihrem allerersten Aufeinandertreffen, aber das war nichts, was er jetzt gleich schon jedem auf die Nase binden würde. Er war sich noch nicht mal sicher, ob er das überhaupt jemandem erzählen, oder ob er es nicht einfach Tariq überlassen würde, wie viel er von seiner Vergangenheit preisgeben wollte – und wann genug Vertrauen dafür da war.

    Der Weg zu seiner Unterkunft war so schnell gefunden wie die bisherigen Wege im Lager auch, und als Hadamar dort war, deponierte er erst mal nur reichlich unzeremoniell sein Gepäck darin. Als nächstes führte ihn sein Weg in das Officium, das ihm zur Verfügung stand, wo, wie er zufrieden feststellte, die Unterlagen über seine Centurie schon bereit lagen. Er ging sie flüchtig durch, um zumindest schon mal die wichtigsten Informationen zu haben, und prüfte, ob alles dabei war was er brauchte – aber als das erledigt war, legte er sie beiseite. Der Pilus posterior hatte gemeint, sein Dienst würde erst morgen offiziell beginnen. Das gab Hadamar den restlichen Nachmittag und Abend nicht nur die Möglichkeit, sich von seiner Centurie ein Bild zu machen, wie der Terentius gemeint hatte, sondern auch, mit schlichter Militärtunika und cingulum militare durch das Lager zu streifen und sich allgemein einen ersten Eindruck zu verschaffen, ohne dass er sofort als Centurio erkannt wurde. Solche Gelegenheit gab es nicht oft, aber wenn sie sich ergaben, nutzte Hadamar sie in aller Regel. Berichte waren wichtig, er arbeitete lang genug mit den Dingern, um das zu wissen. Aber er hatte auch genug gelesen und noch mehr selbst verfasst im Lauf der Jahre, um zu wissen, dass dort nie alles drin stand. Das nominell Wichtige, ja, aber der Rest eher nicht, da konnte man höchstens das ein oder andere zwischen den Zeilen herauslesen. Bei einem mündlichen Bericht ging das schon besser... aber dafür brauchte man ein gewisses Vertrauensverhältnis, dass er sich erst aufbauen musste zu seinen Leuten.


    Außerdem musste er sowieso noch das Pferd, mit dem er gekommen war, zu den Ställen bringen, damit es ebenfalls eine Unterkunft fand und versorgt wurde. Auf dem Weg hin und zurück ein bisschen durchs Lager streifen, sich hier und da mit dem ein oder anderen unterhalten, bevor er sich seine eigene Centurie anschauen würde, die dann aber nicht mehr in inkognito, so was machte man nicht gegenüber den eigenen Leuten. Die Unterlagen, die konnte er später am Abend noch genauer durchgehen. Und die Thermen... naja. Irgendwann würde er sicher auch noch einen Moment finden, dort wenigstens kurz vorbeizuschauen, um sich endgültig die Reise vom Leib zu waschen.

    Er kannte im Grunde alle Wege hier noch, das hatte Hadamar schon am Tag seiner Ankunft festgestellt. Aber heute ritt er einen Weg entlang, den er noch besser kannte als all die anderen – den Weg zur Rus Ducciorum, dem Gehöft seiner Familie, das draußen vor den Toren Mogontiacums lag. Dort, wo seine Mutter lebte. Sie hatte es nie in die Stadt hineingezogen, obwohl das Anwesen der Duccii in Mogontiacum eine beachtliche Größe aufwies und sie dort ebenso ihre Ruhe gehabt hätte. Sie hatte immer schon dort draußen gelebt, mit ihren Kindern und ihrem Mann, als der noch am Leben gewesen war. Als Hadamar angekommen gewesen war, hatte er leider keine Zeit gehabt, sie auch noch zu besuchen, und so hatte er sie bis jetzt noch nicht gesehen. Allein schon deshalb hatte er den ersten Tag, an dem er sich ein bisschen Zeit hatte freischaufeln können um die Castra in nicht dienstlicher Tätigkeit zu verlassen, dafür reserviert, seine Mutter zu besuchen.


    Er wusste gar nicht, ob sie überhaupt schon wusste, dass er wieder daheim war. Sie hatten kurz darüber gesprochen am Tag seiner Ankunft, seine Geschwister und er – genauer gesagt eigentlich seine Brüder. Rhaban war total dafür gewesen, daraus eine Überraschung zu machen. Iring eher dagegen. Und dann hatte sich eine kleine Diskussion zwischen den beiden entwickelt, die so klang, als ob sie das unabhängig vom Thema öfter tun würden, und Hadamar war ziemlich schnell aus dem Inhalt ausgestiegen und hatte stattdessen darüber sinniert, was er in den letzten Jahren verpasst hatte. Wie die zwei und ihr Verhältnis zueinander sich entwickelt hatten, während er nicht da gewesen war. Sie arbeiteten viel zusammen, und das ziemlich gut, das war gerade an dieser Diskussion zu merken, wo sie unterschiedlicher Meinung waren – wie sie sich kabbelten, wie sie Argumente und Blödeleien austauschten.


    Und dann war da noch Dagny. Auch bei ihr hatte er eine Menge verpasst, und er war sich nicht so ganz sicher, ob es bei ihr nicht sogar am meisten war. Alle drei waren noch Kinder gewesen, als er sich zur Legio gemeldet hatte und damit abgesehen von wenigen Gelegenheiten aus ihrem Leben mehr oder weniger verschwunden war – auch wenn er eine ganze Zeitlang noch in Mogontiacum gewesen war. Und dann war er größtenteils weg gewesen, bis auf eine eher kurze Zeit vor vier, fünf Jahren, als er noch mal bei der II gewesen war. In all der Zeit hatten die drei sich verändert. Waren erwachsen geworden. Und er hatte das Gefühl, dass er das jetzt erst so richtig bemerkte. Vielleicht weil diese Entwicklung jetzt erst mehr oder weniger abgeschlossen war – vielleicht aber auch, weil er jetzt erst einen Blick dafür hatte. Weil er selbst älter war. Und weil er nun Tariq hatte, für den er sich verantwortlich fühlte, auf eine Art, die er davor nicht gekannt hatte, vor der er sich früher immer gedrückt hatte. Er hatte deswegen nicht wirklich ein schlechtes Gewissen, nicht gegenüber seinen Geschwistern jedenfalls – sie hatten sich immer gut verstanden, und es war ja nie so gewesen, dass ihnen da was gefehlt hätte. Es war immer jemand da gewesen, der sich gekümmert hatte, der Verantwortung übernommen hatte. Vor allem Eldrid und Witjon, wenn überhaupt hatte er denen gegenüber ein schlechtes Gewissen. Aber beide waren nicht mehr da, und Hadamar war älter und hatte jetzt Tariq. Und er kam nicht umhin, seine Geschwister nun mit demselben Blick zu betrachten, mit dem er Tariq sah.


    Die Frage war, ob seine Geschwister das jetzt überhaupt noch wollten. Iring wohl nicht, der war nun wirklich alt genug, und auch Rhaban mit seinem Wortwitz und seiner Erfahrung bei der Freya nicht. Deswegen würde er trotzdem für sie da sein, aber es würde mit Sicherheit anders werden als bei Tariq. Zumindest bei Dagny aber hatte Hadamar bei seiner Ankunft den Eindruck gehabt, dass es gut wäre wenn er versuchte mehr zu sein, jemand, auf den sie sich stützen konnte. Dass sie sich freute, dass er wieder hier war, nicht nur weil ein lange abwesender Bruder wieder zurück war, sondern weil sie im Gegensatz zu Iring und Rhaban noch jemanden brauchen konnte, der für sie da war.


    Das war einer der Gründe, warum er Dagny gefragt hatte ob sie mitkommen wollte. Der andere war schlicht, dass er nach all den Jahren jede Gelegenheit nutzen wollte, jemanden von seiner Familie zu sehen. Gerade seine Geschwister, von denen er eben so viel verpasst hatte, wo er gar nicht so genau wusste, welche Erwachsene aus den Kindern von früher denn nun geworden waren. Deswegen ritt sie jetzt neben ihm und begleitete ihn zu ihrer Mutter, und auch wenn der Ritt ein kurzer war, hatten sie dann vielleicht vor Ort Zeit, ein bisschen zu reden. „Sag mal, weiß Ma jetzt eigentlich Bescheid, dass ich wieder da bin? Ich hab das Ergebnis von der Diskussion von Rhaban und Iring nicht mehr mitbekommen...“

    Kaum hatte er Dagmar begrüßt und Tariq vorgestellt, kam ein kleiner Junge mit Klamotten um die Ecke geflitzt, auf denen irgendwas herumgeschmiert war – und blieb wie erstarrt stehen, als er die beiden Besucher sah. Konnte eigentlich nur Farold sein, und Hadamar meinte in seinen Zügen durchaus etwas von Witjon erkennen zu können. Er grinste ihm zu und wollte ihn gerade auch begrüßen, als hinter dem Jungen Octavena auftauchte. Und das führte dazu, dass Hadamar für einen winzigen Moment innehielt. Er wusste noch sehr genau, wie sie sich kennen gelernt hatten – damals auf dem Markt, sie war damals ziemlich neu in Mogontiacum. Und er hatte geflirtet was das Zeug hielt, hatte sich Hoffnungen gemacht sie ins Bett zu kriegen. Sie hatten sich danach noch mal wieder gesehen, auf einem Frühlingsfest, aber auch da war er noch nicht erfolgreich gewesen – und dann war der Bürgerkrieg gekommen, und er hatte Mogontiacum verlassen. Als er sie das nächste Mal getroffen hatte, war sie Witjons Frau gewesen, und seitdem... nun ja: seitdem war es für ihn jedes Mal, wenn er sie sah, zumindest im ersten Augenblick... merkwürdig. Weil er sie gewollt hatte, weil sie die war, die er nicht gekriegt hatte, weil sie Witjons Frau war und sich das alles damit sowieso so was von überhaupt nicht gehörte, aber nun mal leider passiert war, bevor Witjon sie überhaupt kennen gelernt hatte.


    Meistens hatte sich dieser merkwürdige erste Augenblick jedes Aufeinandertreffens immer relativ schnell erledigt – indem er es schlicht ignorierte und tat als wäre nichts, was er ziemlich gut konnte. Aber der erste Augenblick, der war immer so gewesen, und daran hatten, ganz offensichtlich, auch die letzten Jahre der Abwesenheit nichts ändern können. Er sah sie für einen winzigen Moment länger an, als normal war ohne etwas zu sagen, dann gab er sich einen Ruck. „Heilsa, Octavena.“ Er lächelte zurück. „Ja, wir sind gerade erst ange-“ In dem Moment wurde er unterbrochen von einem Ausruf und jemandem, der ihm um den Hals fiel. Dagny. Jetzt breitete sich ein noch strahlenderes Grinsen über seinem ganzen Gesicht aus, während er sie fest in die Arme schloss, erst recht als er hinter ihr Rhaban erkennen konnte, den er kurzerhand ebenfalls für einen Moment an sich zog und mit umarmte, bevor er zumindest letzteren wieder losließ. Bei Dagny... war er sich gerade nicht so sicher, ob sie ihn schon loslassen würde. „Lass mir noch nen bisschen Luft zum Atmen“, meinte er verschmitzt.