Beiträge von Lucius Duccius Ferox

    Hadamar musste auch grinsen, als Octavena davon sprach, dass sich ihr Sohn womöglich das ein oder andere bei seinen Geschwistern abgeschaut hatte. So lange wie er weg gewesen war, kannte er im Grunde Farold nicht wirklich, aber von dem, was er von dem Jungen mitbekommen hatte, schien er ziemlich aufgeweckt und intelligent zu sein. Und neugierig, wie dessen Mutter dann anklingen ließ, aber das war auch wieder etwas, das vor allem seine beiden jüngsten Geschwister auszeichnete, oder zumindest: die Tatsache, dass sie mit ihren Fragen nicht hinterm Berg hielten.


    Als er dann seine Hilfe anbot, oder, nun ja, zumindest kundtat, dass er gerne helfen würde, wenn es denn irgendwas gäbe – da konnte er nicht so recht sagen, was Octavena davon hielt. Sie schien... überrascht zu sein. Was wahrscheinlich kein Wunder war. Aber da war noch irgendwas anderes, etwas, worauf Hadamar den Finger nicht wirklich legen konnte. Er hatte sich bemüht, das so zu formulieren, dass er nicht aufdringlich wirkte, aber er war sich nicht ganz sicher, ob es ihr recht war. Sie schwieg auch erst mal, und dieser Augenblick zog sich in die Länge – genug, dass Hadamar dagegen ankämpfen musste, die Stille selbst mit Worten zu füllen. Zurückzurudern, oder zu erklären, oder was auch immer. Das hier war ungewohnt für ihn, das wurde ihm in diesem Moment des Schweigens noch deutlicher als davor, und ganz kurz war da auch der Gedanke, dass er es vielleicht besser lassen sollte, dieses ganze Vorhaben, mehr Verantwortung in der Familie zu übernehmen.

    Andererseits: es konnte ja nicht besser werden, wenn er nicht dran blieb. War doch genauso wie in der Legio am Anfang, wenn er nicht dran geblieben wäre, wäre er niemals dorthin gekommen, wo er heute war. Durchgebissen hatte er sich immer irgendwie. Das war jetzt nicht ganz das, was bei seiner Familie angebracht war, aber... nun ja: dran bleiben, nicht sofort aufgeben, das war sicher erst mal eine gute Idee. Und dann brach Octavena die Stille schließlich, und vor allem aus ihrem Lächeln gewann er den Eindruck, dass es doch richtig gewesen war, zumindest etwas zu sagen. Ob er dann wirklich helfen konnte... das stand wieder auf einem anderen Blatt, und dass es zumindest bei Ildrun schwierig bis unmöglich werden würde, das legte Octavena ziemlich deutlich klar. Und bei noch jemandem würde es wohl schwierig werden: Octavena selbst. Natürlich konnte es sein, dass sie einfach keine Unterstützung brauchte, aber wie sie sprach, wie sie klang... allein die Sorgen, die sie sich um ihre Kinder machte: er glaubte schon, dass auch sie das brauchen konnte. Aber wenn es ihr zumindest schon mal half, wenn er sich wenigstens etwas um Farold kümmern konnte, dann war auch das schon mal etwas. Er lächelte flüchtig. „Dann seh ich mal zu, dass ich mit Farold ein bisschen Zeit verbring. Muss hier eh auch wieder die Gegend erkunden, ich war so lange weg, dass ich mich fast nicht mehr auskenn“, scherzte er, „da kann ich ihn ja fragen ob er mit will, vielleicht mag er das. Was ist mit Ildrun? Würde ihr das auch gefallen? Dagny hat das zumindest früher geliebt, wenn wir uns einfach Pferde geschnappt haben und weggeritten sind.“ Ildrun half es vielleicht schon zu wissen, dass einfach noch jemand da war... auch wenn sie auf nichts einging. Er deutete ein leichtes Achselzucken an und versuchte, aufmunternd zu lächeln. „Ich kann’s ja versuchen. Mehr als nein sagen kann sie nicht. Genauso wie du“, fügte er noch an, und diesmal war es er, der etwas schief grinste. „Mir fehlt wahrscheinlich einfach leider die Zeit, um hier sonderlich übernehmen zu können, aber wenn irgendwas ist, wenn ihr irgendwas braucht: schick jemanden in die Castra zu mir. Ich kümmer mich dann schon irgendwie drum.“

    Hadamar klinkte sich aus dem Gespräch etwas aus – über die jeweiligen Gestüte hatten Cimber und er sich schon auf der Reise hierher ein bisschen ausgetauscht, und sowieso konnte Dagny, die ja die letzten Jahre hier gewesen war, mehr über das ihrige erzählen als er. Sich hier alles genau anzuschauen, was sich in den letzten Jahren getan hatte, dazu war er bislang noch nicht gekommen. Aber er würde zusehen, dass er dabei war, wenn Cimber und Sabaco sich die Hros und die Pferde ansahen – war doch die perfekte Gelegenheit, um selbst auf den neuesten Stand zu kommen.


    Während er darüber noch grübelte, wurde er von der Seite angesprochen, von einem Bekannten der Familie, der ihn noch von früher in Erinnerung hatte, an den Hadamar selbst sich aber... nun ja, eher weniger erinnern konnte. Trotzdem betrieb er ein bisschen höfliche Plauderei mit ihm – und stockte erst, als er aus dem Augenwinkel sah, wie das Bürschlein, mit dem seine Schwester und Octavena gekommen waren, dem Suboptio die Zunge rausstreckte. Für einen winzigen Moment war Hadamar aufgrund dieser Dreistigkeit zu perplex, um darauf zu reagieren. Hatte er das gerade wirklich gesehen? Selbst wenn der Kleine nicht bei der Ala wäre und damit – andere Einheit hin, persönliche Bekanntschaft über Stilo her – einem Unteroffizier, den man dem Matinius im Gegensatz zu ihm anhand seiner Aufmachung ansehen konnte, einen gewissen Respekt schuldete, war das ein Benehmen, das als Gast auf einer Feier einfach unangebracht war. Ganz davon abgesehen, dass Hadamar keine Lust darauf hatte, dass hier jetzt auf dem Julfest seiner Familie geschlägert wurde – auch wenn er voll und ganz nachvollziehen könnte, wenn Sabaco dem Kleinen dafür die Faust ins Gesicht schlug. Aber das sollte er dann doch lieber später machen. Es dauerte vielleicht einen Lidschlag, bis Hadamar sich wieder gefasst hatte, aber als er sich den Kleinen gerade vorknöpfen wollte, hatte Cimber schon reagiert und machte sich mit seinem Verwandten auf, das Fest zu erkunden. Er sah ihnen kurz hinterher, wie sie zunächst in die Richtung gingen, in der ein paar Musiker für Unterhaltung sorgten, dann wandte er sich mit einem leichten Kopfschütteln wieder der Runde zu, nicht zuletzt um mitzukriegen, sollte der Matinius doch noch beschließen dem Bürschchen hier und jetzt auf die grobe Art ein bisschen Respekt beizubringen.

    Hadamar war irgendwo tief in sich selbst versunken, als er Alriks Zimmer verließ. Er hatte sich die letzten Wochen schon recht viele Gedanken darum gemacht, um seine Familie, und welchen neuen Platz er wohl finden würde in ihr. Welchen er beanspruchen sollte... und welchen er selbst wollte. Ihm war ziemlich deutlich klar geworden, dass er helfen wollte. Alrik so zu sehen, hatte ihm aber gezeigt, dass er sich noch lange nicht bereit dafür fühlte die Verantwortung zu übernehmen. Denn das hieß, sich auch um Alrik zu kümmern. Und Alrik wiederum war letztlich nur ein Symbol. Sicher: ihn so zu sehen, das war schwer auszuhalten, aber das würde er schon hinbekommen. Aber sein Vetter, sein Zustand, das stand auch ganz generell dafür, dass es Dinge gab, die nur mühsam zu ertragen sein würden. Zeiten, in denen die Verantwortung so schwer auf den Schultern lassen würde, dass man meinte darunter zusammenzubrechen. Das war ihm bei Alrik drin klar geworden, und prompt hatte wieder das eingesetzt, was ihn in seiner Jugend geprägt hatte: der Wunsch sich davor zu drücken. Was ihn von damals unterschied, war das Bewusstsein, dass er das jetzt nicht mehr konnte. Auch wenn er sich in diesem Augenblick schwer damit tat, den Teil in sich wiederzufinden, den er vorhin im Wildgarten bei Octavena so deutlich gespürt hatte – den Teil, der helfen, der im Grunde endlich Verantwortung übernehmen wollte.


    Er bemerkte ebenso wenig wie Dagmar, dass da jemand war, als er hinaus ging, und so stießen die beiden zusammen. Beinahe gleichzeitig mit ihr murmelte er: „Entschuldigung“, und realisierte dann erst, wen er vor sich hatte. „Dagmar. Ja, ich...“ Er machte eine etwas hilflose Geste hinter sich und schloss leise die Tür. „Ich hab’s bisher auch nicht geschafft“, gab er offen zu. „Aber irgendwann musste es mal sein.“ Dagmar war deutlich länger hier als er, aber sie hatte, ähnlich wie seine Mutter auch, noch mit einem ganz anderen Verlust zu kämpfen gehabt. Wenn er an Nela dachte, war ihm selbst seltsam zumute, nicht zuletzt weil er das Gefühl hatte bei ihr einen Fehler gemacht zu haben. Es war noch nicht mal, dass er mit ihr angebandelt hatte – er hatte ja nicht gewusst wer sie war, sonst hätte er freilich die Finger von ihr gelassen. Es war mehr, wie er danach reagiert hatte, als er es erfahren hatte. Sie, die Tochter seiner Tante Dagmar. Die Verwandtschaftsverhältnisse selbst wären kein Problem gewesen – auch wenn er Dagmar Tante nannte, war sie mehr eine... Urururgroßcousine? Irgendwie so. Da waren so viele Ecken dazwischen, dass es nicht mehr wirklich zählte. Aber sie waren trotzdem eine Familie, so war er aufgewachsen, und es hätte Ärger gegeben. Er war Nela daher komplett aus dem Weg gegangen, hatte sich so gut es ging davor gedrückt, mit ihr reden zu müssen, und bevor es doch noch zu einem klärenden Gespräch hätte kommen können, war er versetzt worden. Er war feige gewesen, damals, und jetzt gab es keine Chance mehr, sich dafür zu entschuldigen.


    „Ja“, stimmte er zu. „Ich meine, ich hab das leere Haus ja nicht so erlebt wie du, aber das Fest war schön. Und ich hatte den Eindruck, dass es der Familie gut getan hat mal wieder Leute im Haus zu haben. Größer zu feiern.“ Er lächelte flüchtig. „Ich hoffe dir auch, ich hab dich wenig unter den Leuten gesehen.“

    Hadamar lächelte ebenfalls immer noch, und da war auch immer noch eine Spur Verlegenheit dabei. Er wusste gar nicht so genau warum... im Grunde war doch nichts dabei. Dass er sich um Tariq kümmerte als wäre er sein Mündel, dass er ihn als Teil seiner Familie betrachtete, das war kein Geheimnis. Trotzdem hatte er Octavena offenbar mehr sehen lassen als nur diese dann doch eher oberflächlichen Tatsachen. Wie viel Tariq ihm bedeutete. Hadamar weigerte sich selbst in Gedanken vehement, das vor sich zuzugeben – aber er fühlte sich nicht einfach nur als großer Bruder für den Jungen. Manchmal fühlte er sich eher so, wie er sich vorstellen könnte, dass er wohl fühlen würde, hätte er Kinder. Aber er sah sich selbst so nicht. Ehe, Kinder... Er konnte es sich nicht so recht vorstellen. Und er war ziemlich gut darin, einfach keinen sehen zu lassen, einschließlich sich selbst nicht, was Tariq zumindest zum Teil für ihn geworden war. Aber gerade eben, da war etwas davon an die Oberfläche gekommen, und das war es wohl, was ihn verlegen machte.


    Ehe und Kinder... das brachte doch sowieso nur Schmerz mit sich. Er musste ja nur an seine Mutter denken, die bis heute seinem Vater nachtrauerte, auf eine Art, die einfach nicht gut war für sie. Wie hatte Dagny es formuliert? Menschen, auf deren Leben die Trauer einen so langen Schatten wirft, dass man meint, kein Sonnenstrahl könne ihn jemals vertreiben. Genau das beschrieb ihre Mutter ziemlich treffend. Selbst wenn sie wirklich fröhlich war, war da immer ein Hauch von Trauer – nicht einfach nur Melancholie, sondern Trauer, die auch nach all den Jahren noch frisch wirkte, und Schmerz. Er hoffte für Octavena, und für deren Kinder, dass sie einen besseren Weg fand in der kommenden Zeit als seine Mutter.

    Sorgen machte sie sich jedenfalls um ihre Kinder, das jedenfalls schloss er allein schon aus diesem ersten tiefen Luftholen, das sie machte auf seine Frage hin. Aber als sie dann von Farold sprach, war Leichtigkeit in ihren Worten, und das Lachen klang ehrlich. Er grinste flüchtig. „Unschuldig tun, das ist eine sehr wichtige Eigenschaft, vor allem wenn man Chaos stiftet“, nickte er. „Ich hatte das irgendwie nie so ganz raus, wie man das macht, Rhaban und Dagny waren mir da um Längen voraus... hab sie immer beneidet darum.“ Dann kam Octavena auf ihre Tochter zu sprechen, und das Lachen erstarb. „Das tut mir leid“, murmelte er, und suchte nach weiteren Worten, aber bevor er welche hätte finden können, redete Octavena schon weiter, sprach davon, dass beiden im Grunde aber gut ging. Hadamar grübelte trotzdem noch über Ildrun nach. Sie sperrte sich, hatte Octavena gesagt, und das kam ihm vertrauter vor als ihm lieb war.


    Octavena war inzwischen noch mal auf Farold zu sprechen gekommen, und Hadamar grinste leicht. „Och, er soll ruhig kommen. Mach dir keine Sorgen, nen überschwänglichen Neffen sollte ich schon noch aushalten können.“ Da war er wieder: dieser Impuls, seiner Familie helfen zu wollen. Unterstützung zu leisten, die er früher nicht hatte leisten können, vor allem seinen Geschwistern gegenüber nicht. Er war zu jung gewesen, zu unreif vor allem im Vergleich zu Eldrid. Was aber auch nicht so schlimm gewesen war, sie hatten sie zum Glück woanders gefunden, insbesondere bei Witjon. Das war das Gute an einer großen Familie: irgendjemand war eigentlich immer da und konnte auffangen, konnte einen Ausgleich bieten. Und mehr und mehr stellte er fest, dass er jetzt dieser Jemand sein musste. Mehr noch: dass er dieser Jemand sein wollte. Und wenn Farold ihn von selbst überfiel, dann war es zumindest bei dem Jungen wahrscheinlich nicht so schwer, ein bisschen für ihn da zu sein. Bei Ildrun war das wohl deutlich anders, aber gerade bei ihr klang es so, als ob sie jemanden brauchen könnte... wobei: er wusste ja noch nicht mal, ob sie nicht vielleicht schon jemanden hier in der Villa hatte. Octavena hatte nur gemeint, dass sie ihren Vater vermisste und sich gegen ihre Mutter auflehnte, das allein hieß ja noch nicht, dass Ildrun sonst Schwierigkeiten hatte. Hadamar räusperte sich. „Hör mal... ich will mich nicht aufdrängen oder so, aber wenn ich irgendwas tun kann... grad auch für die Kinder, dann sag Bescheid. Ich weiß wie es ist den Vater so früh zu verlieren, und wie schwierig es danach erst mal ist. Ich möcht gern helfen.“ Er zögerte kurz, dann schob er noch hinterher: „Dir auch, wenn ich kann.“

    „Ja, genau das befürchte ich auch...“ Früher hätte er das dann einfach mit seinem Contubernium geteilt, aber das hatte er ja schon lange nicht mehr. Vielleicht den Unteroffizieren geben... das war eine Idee. „Mal sehen. Ich werd schon Abnehmer dafür finden.“ Er zog den Becher mit Apfelwein zu sich heran, trank aber noch nicht. Stattdessen grinste er leicht. „Immer noch wie früher, hu?“ Iring war nicht im eigentlichen Sinne nachtragend, zumindest früher nicht gewesen... aber er verstand sich durchaus darauf einen merken zu lassen, wenn er Recht behalten hatte. Was leider öfter der Fall war als Hadamar früher lieb gewesen wäre, aber nun ja, das hatte auch auf Eldrid zugetroffen. Und das Problem war: er machte das oft auf eine recht raffinierte Art und Weise, gegen die man sich schwer wehren konnte. Und da Hadamar der Älteste war, war es auch irgendwie unfair gewesen, handgreiflich zu werden und Iring beispielsweise einfach mal in den Schwitzkasten zu nehmen, wenn es ihm zu bunt wurde. Also: nicht, dass er nicht genau das getan hätte. Hatte er. Oft genug. Aber unfair gewesen war das wohl trotzdem... womit man nicht alles leben musste als ältester Bruder.


    Danach wurde Dagny ernster, und auch Hadamars Grinsen schwand. Je länger sie sprach, desto mehr, denn da ging es plötzlich nicht mehr einfach nur darum, warum ihre Mutter so reagierte – sondern wie Dagny selbst darüber dachte. Und sie klang... fast ein bisschen altklug dabei. So erfahren und realistisch und doch zugleich negativ. Hadamar stellte fest, dass es ihm wehtat sie so reden zu hören. Sie war noch so jung... und in seiner Erinnerung war sie immer so fröhlich gewesen, so übersprudelnd vor Lebensmut und Freude. Es schmerzte ihn fast mehr als Eldrids Verlust, sie jetzt so zu sehen. Und als Dagny weitersprach, zündete irgendwo tief in ihm ein vertrauter Funke Wut. Wut auf seine Mutter, die er als Jugendlicher öfter, aber inzwischen schon lange nicht mehr gespürt hatte. Wut, weil sie den Schmerz nie wirklich hatte verarbeiten können. Nie hatte loslassen können. Es ging dabei nicht ums Vermissen, und auch nicht generell um Trauer. Bei seiner Mutter hatte es immer so gewirkt, als wäre die Trauer noch frisch, selbst Jahre später noch. Vielleicht war Hadamar deshalb so skeptisch, was die Liebe betraf. Im Grunde glaubte er nicht so recht daran, und ihm war auch noch nie so etwas widerfahren. Aber vielleicht lag das auch einfach nur daran, dass er nie so etwas hatte erleben wollen wie das Leid, das er bei seiner Muttter miterlebt hatte.


    Der Funke verklang fast so schnell wie er wieder gekommen war – er wusste, dass sie letztlich auch nichts dafür konnte. Dass sie ihr Bestes gegeben hatte. Und es tat ihm bis heute leid, dass er ihr diese Trauer, diesen Schmerz auch tatsächlich vorgeworfen hatte, auf jene miese Art, wie es wahrscheinlich nur Jugendliche konnten. Aber ihr Bestes war halt in manchen Momenten einfach nicht genug gewesen, und es ließ sich nicht bestreiten, dass ihre Kinder unter ihrer fortdauernden Trauer im Grunde mehr gelitten hatten als unter dem Verlust des Vaters. Und dass Dagny jetzt so daher redete, das war einfach nicht richtig. Dass sie so schwermütig war, und so reif von Trauer, Angst und Sorge sprach. Und so wie es gerade auf ihn wirkte, war auch daran irgendwie ihre Mutter schuld. Natürlich konnte sie nichts für die Verluste im vergangenen Jahr. Aber sie konnte etwas dafür, wie sehr Dagny diese Verluste getroffen hatten. Und wie sie mit ihnen umging. Zumal Hadamar vermutete, dass ihre Mutter im letzten Jahr auch nicht unbedingt eine große Hilfe gewesen war, für Dagny oder ihre Brüder. „Keine Sorge, ich versteh das nicht falsch.“ Er presste flüchtig die Lippen aufeinander. „Ich finde du hast Recht. Mir ging das genauso wie dir, es gab Tage, da...“ Er seufzte leise, entschied sich dann aber dagegen, den Satz so zu vollenden, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Er wollte keine Wunden aufreißen, weder alte noch neue, und er steckte nicht in den Schuhen seiner Mutter, damals wie heute nicht. Auch wenn er ihr das ein oder andere vorwarf, er konnte nicht wirklich nachvollziehen, wie schwer es für sie gewesen sein musste. Und es war nicht so, als ob er es ihr sonderlich leicht gemacht hätte. „...war es wirklich schwer.“ Er deutete ein leichtes Lächeln an, als Dagny sich danach entschuldigte, und erwiderte ihren Händedruck fest. „Mach dir keinen Kopf wegen mir. Ganz im Gegenteil. Ich weiß dass ich lange nicht da war, und das gerade auch in einer Zeit, in der ich gebraucht worden wär. Das tut mir leid. Wenn ich irgendwas tun kann, um's einfacher zu machen, oder wenn du irgendwas brauchst, dann sag einfach Bescheid.“


    Ihre Mutter kam zum Glück erst wieder herein, als sie schon dabei waren über die Umgebung zu sprechen, und tatsächlich balancierte sie ein Tablett, das beladen war mit definitiv mehr, als er würde essen können. Ein leichtes Lächeln lag auch auf ihren Lippen. „Ich mag es so, wie es ist. Warum sollte ich etwas daran ändern?“, meinte sie, während sie das Tablett abstellte und das Essen auf den Tisch stellte, während Hadamar begann Teller und Besteck zu verteilen. Er lächelte zurück. „Ich find's schön, dass es noch so ist.“ Er war drauf und dran Dagny zu antworten, dass er eigentlich nichts mehr unbedingt sehen musste. Aber dann dachte er daran, wie schwermütig sie gerade noch gewirkt hatte. Es gab eigentlich nichts, was er so dringend sehen wollte, dass es sofort sein müsste. Die Menschen, ja, aber nicht die Orte, und die Menschen hatte er alle gesehen. Alle bis auf Alrik. Aber mit ihr noch ein bisschen Zeit verbringen, allein... er hatte den Eindruck, dass es besser war damit nicht zu lange zu warten. Und er wusste nicht, wann er sich das nächste Mal länger würde Zeit nehmen können. „Der See“, meinte er also. „Den würde ich nachher gerne noch sehen.“

    Es ehrte ihn, meinte sie. Hadamar sah sie mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck von der Seite an. Ehrte es ihn wirklich? Nur weil er da sein hatte wollen? Er konnte viel wollen, Fakt war: er war nicht da gewesen. Und er wusste nicht, ob er tatsächlich eine Hilfe gewesen wäre. Eine Stütze. Oh, sicher, das war das, was er gerne gewesen wäre, aber ob er das dann tatsächlich hätte sein können für sie, für Dagny, für die anderen... Hadamar seufzte lautlos. Da war immer noch sein Bild von sich selbst, in Bezug auf seine Familie, das so stark von früher geprägt war. Von jener Zeit, in der Witjon ihn Katastrophen-Duccier genannt hatte. Er war nicht mehr so, er übernahm Verantwortung, er tat das in der Legio Tag für Tag, seit Jahren schon – aber in Bezug auf hier, seine Familie, da war dieses Bild von früher einfach da, schier unumstößlich, und Hadamar zweifelte an sich selbst und daran, welchen Platz er in der Familie einnehmen sollte. Da waren die Erwartungen von außen, oder besser: diese Selbstverständlichkeit, mit der er beispielsweise heute als Gastgeber bezeichnet worden war, obwohl er das ja eigentlich nicht war. Da waren die Erwartungen von innen, von seiner Familie, von denen er keine Ahnung hatte, weil er nicht so recht wusste, was sie tatsächlich wollten oder erwarteten von ihm. Da war sein eigenes Gefühl, dass er mehr machen sollte, dem aber irgendwie das Bild querschoss, das er von sich selbst hatte. Denn das war ebenso da: das Gefühl, dass er wie früher, wie immer schon schlicht ungeeignet war Verantwortung zu übernehmen für die Familie. Die irgendwo tief in ihm lauernde Befürchtung, dass die anderen ihn perplex anstarren würden, wenn er das tatsächlich mal laut äußerte, oder noch schlimmer: lachen. Und da war das, was er selbst wollte, worüber er sich blöderweise auch noch nicht so recht im Klaren war. Da war gerade zu viel, was auf ihn eindrängte, um in all den Erwartungen und Befürchtungen das zu finden, was er tatsächlich wollte. Ob er beispielsweise Verantwortung für die Familie wirklich nicht übernehmen wollte – oder ob er das einfach nur glaubte, weil er meinte nicht der Richtige dafür zu sein. Denn helfen, das wollte er wiederum ja eigentlich schon. Kurzum: er wusste nicht, was er tun sollte. „Ja“, stimmte er Octavena also mit einem leichten, aber diesmal hörbaren Seufzen zu. „Manches braucht Zeit.“

    Tariq dann war ein wesentlich leichteres, angenehmeres Thema. Er bekam mit, wie Octavena anfing zu grinsen, und erwiderte es unwillkürlich, auch wenn er keine Ahnung hatte was genau sie zum Grinsen brachte. Vermutlich, weil es ungewohnt war, ihn überhaupt so reden zu hören – was wieder an seine Gedanken von gerade eben rührten, aber ihr Grinsen wirkte nicht so, als ob sie sich über ihn lustig machen wollte, sondern zwar amüsiert, aber freundlich. „Ich hab mir auch wenig Sorgen gemacht, ich mein, ich kenn ja euch, und ihn kenn ich jetzt auch lang genug. Ich hätt mich wahrscheinlich auch nicht so um ihn gekümmert, wenn er anders gewesen wär. Aber trotzdem...“ Er deutete ein Achselzucken an und lächelte verlegen. „Trotzdem freut es mich. Hätt ja trotz allem anders laufen können.“ Er schaute hinunter auf die flachen Steine, die er immer noch in der Hand hielt, und überlegte, ob er sie einfach fallen oder doch noch übers Wasser flitzen lassen sollte. „Ich schätz mal Tariq tut es auch gut, dass Farold ihn mag.“ Selbst dass er ihn mit Fragen löcherte wahrscheinlich – dass jemand etwas von einem brauchte oder sich interessierte, das tat einfach gut, und Tariq hatte in seinem Leben davon bisher herzlich wenig gehabt. „Wie geht es Farold? Und Ildrun?“

    Er wusste nicht, wie lange sie so da standen und sich einfach festhielten. Auch dieser Moment kam ihm gefühlt wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie sich schließlich voneinander lösten. Hauptsächlich, so schien es ihm, damit seine Mutter danach sein Gesicht mit beiden Händen umfassen und ihn erst mal wieder nur ansehen konnte. Und dabei leise Sachen murmelte wie Du bist wieder da und ähnliches, was sich in seinem und wahrscheinlich auch ihrem Kopf letztlich aneinander reihte zu: ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen. Ich dachte, ich bekomme auch bei dir irgendwann die Nachricht, dass du tot auf einem Schlachtfeld liegst. Was natürlich immer noch passieren konnte, aber jetzt, für diesen Augenblick, war er einfach da.


    Hadamar räusperte sich, als Dagny plötzlich wieder erschien, und lächelte ihr zu – und spürte dann, wie seine Ohren warm wurden, was hieß, dass sie sich in der Farbe seinen Haaren annäherten. Passierte ihm nur noch selten heutzutage, aber darauf hätte er wohl gewettet, dass seine Mutter dazu in der Lage war, das hervorzurufen. „Ma, bitte“, versuchte er noch sie aufzuhalten. „Ich bin Centurio, ich kann mich über das Essen in der Castra wirklich nicht beklagen.“ Aber da war seine Mutter schon halb verschwunden, und Dagny verdrehte reichlich unzeremoniell die Augen, wofür Hadamar ziemlich dankbar war. Nicht nur, weil es ihm ein Grinsen entlockte, sondern weil es seine Stimmung, die... nun ja: fast ein bisschen feierlich gewesen war, lockerte. Mehr Fröhlichkeit dazu fügte. „Ist nicht so, als könnt ich nicht den halben Vorratsschrank verputzen. Nur brauch ich dann wahrscheinlich keine Hauptspeise mehr.“ Er setzte sich, als sie es ihm bedeutete, und für einen Moment wurde er wieder sanfter. „Ja... ich glaub sie hat nicht damit gerechnet, dass ich lebendig zurückkomm.“ Kein Wunder, wenn man das Schicksal ihres Vaters bedachte. Aber dann grinste Hadamar wieder. „Natürlich gönnen wir ihm das nicht, wo denkst du hin? Wär ja noch schöner.“


    Er hörte, wie es in der Küche rumorte und zwischendurch ein paar Worte gewechselt wurden. Ihre Mutter tauchte immer noch nicht wieder auf, scheinbar hatte Dagny also Recht mit ihrer Befürchtung, dass sie es bei einer einfachen Vorspeise nicht belassen würde. Vielleicht brauchte sie aber auch einfach ein bisschen Zeit für sich, das konnte auch sein – auch damit hatte Dagny dann Recht, dass die Überraschung vielleicht doch etwas viel gewesen war. Er lehnte sich zurück und sah sich um. Immer noch das gleiche Haus, in dem er aufgewachsen war. Um so vieles kleiner und einfacher als die Villa, in der die Wolfrikssöhne mittlerweile lebten, die, wenn er sich richtig erinnerte, Witjon und Alrik irgendwann mal hatten bauen lassen, nicht nur um das alte Stadthaus zu ersetzen, sondern auch um so gut wie alles auf einen Standort zu konzentrieren. Ihre Mutter hatte trotzdem immer hier bleiben wollen – weder hatte sie ins alte Stadthaus gewollt, noch später in die neue Villa, da hatte man ihr noch so oft die Vorzüge davon anpreisen können. Sie behauptete immer, sie mochte die Stadt nicht... aber der Grund zog eigentlich bei der neuen Villa nicht mehr, so viel Platz wie sie da hatten, und am Stadtrand gelegen wie sie war. Nicht nur deshalb Hadamar glaubte inzwischen, dass sie sich einfach nicht noch mal woanders hin wollte, selbst wenn es in der Nähe war. Sie gehörte zu jener Generation Vertriebener, die ihre Heimat hatten verlassen müssen und danach jahrelang durch die Gegend gezogen waren, bis sie hier ein neues Zuhause gefunden hatten. Er konnte verstehen, wenn sie nun einfach nur noch hier bleiben wollte. „Hat sich nicht wirklich was verändert hier, hm?“ murmelte er versonnen. „Ist noch genauso wie früher.“

    Hadamar bemerkte, wie Tariq bei Octavenas Frage seinen Teller plötzlich beiseite schob, dem er sich davor noch mit jener zielstrebigen Konzentration gewidmet hatte, die nur hungrige junge Leute im Wachstum für Essen aufbringen konnten. Und er konnte sich denken, woran das lag... war ja wohl kein Zufall, dass das genau dann passierte, als er zur Sprache brachte, dass er bald weg musste. Aber da musste der Junge durch... da konnte er ihm leider nicht helfen. Außer den Übergang in die Obhut seiner Familie so gut wie möglich zu gestalten, und da war der Anfang ja schon gemacht.


    Ohne darüber nachzudenken, wechselte Hadamar nun auch zu Latein, das nun sowohl Octavena als auch Tariq nutzten. Er nickte bei dessen Worten und grinste ihm kurz aufmunternd zu. „Wie er gesagt hat. Tariq möchte zur Ala, deshalb braucht er kein Zimmer für länger hier.“ Vielleicht war das auch nur der Soldat, der in ihm da durchkam, aber Hadamar erschloss sich einfach der Sinn nicht, Tariq ein eigenes, festes Zimmer zuzuweisen, wenn er sowieso nicht wirklich hier leben, sondern höchstens mal zu Besuch kommen würde, wenn er die Ausbildung erst mal hinter sich hatte. Dass das eine Möglichkeit war, dem Junge dadurch vielleicht noch mal mehr ein Gefühl des Willkommens zu geben, daran dachte er nicht mal. „Aber von der Reise erholen und ein bisschen die Gegend kennenlernen, das kann nicht schaden, bevor er sich meldet. Ich hab ihm jedenfalls gesagt, dass er sich die Zeit nehmen soll.“ Ein weiteres Grinsen zu Tariq folgte.

    Hadamar stimmte in ihr leises Lachen mit ein. „Selbst wenn du alle verrückt gemacht hast, es hat funktioniert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Manchmal muss man dafür einfach alles rausholen was man hat.“ Was bei solchen Festen in der Regel ja immer gemacht wurde – und was einer der Gründe war, warum Hadamar ganz froh war, mit seinem Dienst in der Legio die perfekte Ausrede zu haben, leider, leider nicht mitmachen zu können. Es war nicht – mehr – die Arbeit, die er scheute, sondern das gefühlte Hin und Her, das mit der Organisation solcher Feiern oft einher ging, zumindest so wie er sich daran erinnerte. Heute war ihm klar, dass zumindest ein Teil daran lag, dass sich während der Organisation auch die Planung weiter entwickelte, und man dann einfach umdisponieren musste, aber früher war ihm das einfach nur auf die Nerven gegangen. Vor allem, wenn man bereits etwas erledigt hatte, was dann doch anders gemacht werden sollte. Wie das für das heutige Julfest gewesen war, konnte er nicht beurteilen, aber wenn Octavena selbst schon andeutete vielleicht etwas übertrieben zu haben, dann war er erst recht froh, außen vor gewesen zu sein. Aber wie er gesagt hatte: das Ergebnis konnte sich sehen lassen.


    „Ja“, meinte Hadamar schlicht bei ihren folgenden Worten, und das konnte er auch aus vollem Herzen. Es mochte ihm im Moment ein bisschen zu viel sein, all die Leute, aber grundsätzlich fand er es sehr schön, endlich wieder hier und mit Leuten zu feiern. „Es tut mir leid, dass ich nicht da war. Es gibt wahrscheinlich nichts, was ich hätte tun können, aber...“ Er zuckte etwas hilflos mit den Achseln. Er wusste selbst, dass er keine Möglichkeit gehabt hatte. Trotzdem wäre er gern hier gewesen, genauso wie er gern in Rom bei seiner Schwester gewesen wäre. Er warf Octavena einen Blick von der Seite zu und sah, wie sie auf den Weiher starrte, und für einen Moment hatte er den Impuls, sie zu berühren, und sei es nur mit einer Hand auf der Schulter, um sie zu trösten. Aber er tat es nicht. Er war sich nicht sicher, ob es richtig wäre. Ob sie das überhaupt wollte. Er war nicht nur das letzte Jahr fortgewesen, sondern jahrelang, und hier angekommen musste er erst mal seinen Platz innerhalb des Familiengefüges wieder finden. Neu finden, eigentlich, denn dass es nicht derselbe war, den er vor Jahren gehabt hatte, das war so ziemlich das einzige, was er mit Sicherheit sagen konnte. Und dann war da immer noch diese leise Stimme in ihm, die sagte, dass es sich nicht gehörte. Weil ein Teil von ihm immer noch an ihr erstes Treffen dachte. Er räusperte sich. „Aber du hast Recht. Ich hab zumindest den Eindruck, dass es allen ganz gut tut. Und was wäre besser geeignet als Jul, wenn die Tage wieder länger werden, um es weitergehen zu lassen?“


    Den Themenwechsel nahm er dankbar an – auch wenn sie gerade davon gesprochen hatten, dass es weitergehen musste und sollte, fiel ihm das im Moment nicht ganz leicht. Was nicht zuletzt daran lag, dass er das letzte Jahr im Grunde damit verbracht hatte, den Verlust einfach zu verdrängen, was zugegebenermaßen auch recht simpel gewesen war, so fern von allem. Erst Samhain hatte das geändert... und jetzt wieder in der Heimat zu sein sorgte dafür, dass er sich umso schwerer dagegen wehren konnte, jedenfalls wenn er hier war, in der Villa Duccia. „Wie ich ihn eingesammelt hab...“ Er lachte erneut leise, und freute sich, dass Octavena und Farold Tariq zu mögen schienen. „Ich hab ihn vor... vier, fünf Jahren oder so kennengelernt, ich war noch nicht allzu lange in Cappadocia. Ich musste nach Caesarea, hatte was zu erledigen, und da... war er. Straßenjunge, hatte keine Eltern, keinen der sich um ihn gekümmert hat, ich meine: richtig gekümmert, ohne Hintergedanken, ohne ihn auszunutzen.“ Mehr als so anzudeuten, dass Tariq gestohlen hatte damals, war unnötig, fand er. Es war Vergangenheit, und zudem war es nicht Tariqs Schuld gewesen. Erwachsene hatten ihn auf Diebeszüge geschickt. Er hatte nur versucht zu überleben. „Ich kann dir nicht mal sagen, warum ich ihn mitgenommen hab.“ Da war die Angst, die Verzweiflung in Tariqs Blick gewesen. Dazu eine Art von... Ergebenheit in sein Schicksal, so als wäre das etwas, womit er sich schon länger abgefunden hatte, dass sein Leben diese Wendung nehmen würde. Das bei einem Jungen zu sehen, der damals durch Unterernährung und das Leben auf der Straße so aussah als hätte er noch nicht die etwa zwölf Sommer gesehen, die er wohl schon erlebt hatte, hatte etwas gerührt in Hadamar, etwas, das vernehmlich in ihm kundzutun begann, dass das einfach falsch war. Dass ein Kind, das keine Wahl hatte, so was nicht verdient hatte. Und zugleich war da dieser Mut, einen Centurio beklauen zu wollen. Diese Dreistigkeit, in der er sich selbst wieder erkannte, auch wenn der Straßenjunge von damals kaum sonst was gemein hatte mit dem Jungen, der er selbst gewesen war. Und dann war da noch die Tatsache, dass dem Kleinen eine Lektion erteilt werden musste. Er hatte versucht einen Centurio zu beklauen, da musste eine Reaktion erfolgen, schon aus Prinzip. „Es hat nicht den einen Grund gegeben, da hat mehr zusammengespielt. Ich hab ihn jedenfalls mitgenommen, hab ihn bei einem Freund in Satala untergebracht, hab mich um ihn gekümmert. Und er ist geblieben.“ Jetzt lächelte Hadamar ein bisschen versonnen. „Und als ich ihn gefragt hab, ob er mitkommt, hat er ja gesagt.“ Gefragt. Gefragt war eigentlich das falsche Wort. Er hatte nicht wirklich gefragt, er hatte ihm an den Kopf geklatscht, dass er wollte Tariq solle mit nach Germanien. Hadamar musste lachen. „Ehrlich gesagt war’s weniger eine Frage, mehr eine Aufforderung. Ich wollte, dass er mitkommt, und ich war verdammt froh, dass er auch mitkommen wollte. Er ist so was wie ein kleiner Bruder geworden für mich, ich hätt ihn ungern allein zurückgelassen. Es freut mich wahnsinnig, dass ihr ihn so aufgenommen habt.“

    Irgendwie hatte Hadamar das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Allerdings wusste er nicht so genau was... war es wirklich nur, dass Dagny gern von ihm mehr hören würde, wie sie sagte? Sicher war er sich nicht, aber daran konnte und würde er sich ja noch mal versuchen, wie er ihr versichert hatte, wenn sie bei ihrer Mutter angekommen waren. Auf den Mund gefallen war er ja nicht wirklich, erzählen konnte er schon das ein oder andere. Das Problem war eher, was... er hatte nicht so einen Blick für die besonderen, die denkwürdigen Dinge. Als er beispielsweise nach Cappadocia gekommen war, war ihm freilich vieles aufgefallen, was anders war. Aber er hatte sich das Zeug angesehen, hatte irgendwas gedacht in der Art wie: Aha. Interessant, und hatte dann seinen Stiefel bei der Legio durchgezogen. Wo er sowieso über Grenzpatrouillen und sonstige Einsätze hinaus selten herausgekommen war, und bei Einsätzen hatte er nun wirklich nicht die Art von Blick für seine Umgebung, die man brauchte um später davon berichten zu können. Er musste sich wohl ein bisschen in Dagny hinein versetzen, sich an seine Zeit in Cappadocia erinnern und versuchen diese Erinnerungen mit ihren Augen zu betrachten... vielleicht fiel ihm dann das ein oder andere ein, was er erzählen und beschreiben konnte.


    Ob die kurze Umarmung nun richtig gewesen war oder nicht, auch darüber war er sich plötzlich nicht mehr so sicher. Sie erwiderte sie kurz, das ja, aber sie wirkte auch... froh? als die Verbindung erneut abbrach. Hadamar unterdrückte ein Seufzen. Ihn beschlich der Gedanke, dass es früher, als sie noch klein gewesen war, einfacher gewesen mit ihr. Einfacher sie zu trösten, einfacher sie zu begeistern, einfacher sie zufrieden zu stellen. Vielleicht waren die Verluste im letzten Jahr zu viel gewesen, all die Abschiede, die sie erwähnt hatte, die ja noch dazu alle endgültig gewesen waren. Und vielleicht musste er sich auch erst daran gewöhnen, dass sie kein kleines Kind mehr war, sondern erwachsen. Für einen Moment war er unschlüssig, ob er jetzt etwas sagen sollte. Ach was, jetzt – er war unschlüssig, ob er überhaupt etwas sagen sollte. Er wollte sich kümmern, er wollte da sein, aber er wusste nicht genau wie, und auch wenn er nach seiner Ankunft zunächst den Eindruck gehabt hatte, zumindest Dagny würde sich darüber freuen, war er sich jetzt plötzlich unsicher, ob das nicht einfach vermessen war von ihm. Weil auch sie erwachsen war, und weil auch sie all die Jahre ohne ihn ausgekommen war. Die Entscheidung, ob er jetzt konkret noch etwas sagen sollte, wurde ihm dann allerdings abgenommen, weil sie ankamen – und ob er überhaupt etwas sagen sollte... Er unterdrückte ein weiteres Seufzen. Würde er wohl, wenn sich die Gelegenheit ergab. Wenn er sich dann eine Abfuhr einfing, war es halt so, aber das war kein Grund, es nicht wenigstens zu probieren.


    Reinplatzen also, war Dagnys Entscheidung, und so machten sie es dann auch. „Heilsa, Ma“, sagte auch er, aber deutlich leiser als Dagny – er murmelte es fast. Er wusste nicht warum, aber ihn überkam in diesem Moment beinahe so etwas wie Scheu. Wo er bei seinen Geschwistern mit offener Wiedersehensfreude reagiert hatte, stand er bei seiner Mutter jetzt da und sah sie einfach nur an. So wie sie ihn ansah, das Nähzeug auf dem Boden, die Hände vor den Mund geschlagen, anstarrte vielmehr, als würde sie... einen Geist sehen oder so. Hadamar machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber irgendwie wollte nichts herauskommen. Er fühlte sich wieder als ob er noch keine fünfzehn Sommer gesehen hätte, jung und unbedarft, mit Sicherheit irgendwas auf dem Kerbholz, von dem sie wusste, auch wenn er jetzt noch nicht so genau wusste, von was genau sie erfahren hatte, aber irgendwas erfuhr sie immer irgendwie. Sie starrten sich an, die Mutter, die immer versucht hatte ihre Familie zusammenzuhalten und doch so gelitten hatte unter dem Tod des Vaters, und ihr Ältester, das schwarze Schaf, der, der die meisten Schwierigkeiten gemacht hatte, bei dem sie nicht gewusst hatte, ob aus ihm überhaupt was Vernünftiges werden würde, und bei dem sie dann, als er erwachsen geworden war, ähnlich wie bei ihrem Mann in ständiger Erwartung seines Todes leben musste.


    Hadamar kam dieser Moment vor wie eine halbe Ewigkeit. Er versuchte sich selbst dazu zu bringen etwas zu sagen, oder sich auf sie zu zu bewegen, aber er schaffte es nicht, er fühlte sich wie erstarrt. Erst als sie die Distanz zwischen ihnen überbrückte und ihn umarmte, kam endlich auch wieder Leben in ihn, und er schloss sie fest in die Arme. Sie wirkte so... so zart und zierlich. Irrte er sich, oder war sie noch kleiner und schmaler geworden als er sie in Erinnerung hatte? Oder lag es daran, dass er nur langsam von seinem fünfzehnjährigen Ich wieder zu seinem heutigen Selbst fand, und er nur in Erinnerung hatte, wie er sie als schmaler, drahtiger Jugendlicher umarmte? Er wusste es nicht. Er wusste gerade nur, dass er trotz der Tage, die er schon hier war, erst jetzt das Gefühl hatte wirklich heim gekommen zu sein. Auch wenn gerade er seine Probleme mit seiner Mutter gehabt hatte, Probleme, für die oft er verantwortlich gewesen war, wie er zumindest heute im Rückblick eingestand, war sie es, die ihm dieses Gefühl von Zuhause gab. Weil sie seine Mutter war. Weil sie auch schon schwierige Zeiten hinter sich gebracht hatten, allen voran den Tod seines Vaters. Weil sie ihm dieses Gefühl immer gegeben hatte, auch wenn sie sauer auf ihn gewesen war, wenn sie geschimpft hatte oder es ihr schlecht gegangen war. Selbst in den Zeiten, in denen er sich völlig unverstanden gefühlt hatte von ihr: dieses Gefühl von Heimat und dass er trotz allem kommen konnte, das hatte er immer bei ihr gehabt. Und er versuchte, all das irgendwie in seine Umarmung zu legen, zusammen mit der Dankbarkeit, die er in diesem Moment plötzlich empfand.

    Seine Finger spielten leicht mit den zwei Steinen, die er schon aufgehoben gehabt hatte, drehten sie leicht hin und her und strichen über die kalte, glatte Oberfläche, während er darauf wartete, dass die Gestalt sich näherte. Die Silhouette war die einer Frau, mehr konnte er noch nicht ausmachen gegen den Widerschein der Lichter, die vom vorderen Eingang der Villa kamen. Für einen Augenblick schien es ihm, als zögere sie, als würde sie gleich wieder umdrehen und gehen, und so beschloss er erst mal nichts zu sagen – wer auch immer hierher kam, während das Julfest vorne noch in vollem Gang war, hatte seinen Grund, und der war höchstwahrscheinlich: ein bisschen Abstand. Ein bisschen Ruhe. Er war sich selbst unsicher, ob er was dagegen hatte oder nicht, wenn sich jetzt jemand zu ihm gesellte, und die Person wollte es vielleicht definitiv nicht. Wenn er jetzt aber etwas sagte, dann gebot es die Höflichkeit, dass sie zumindest auf ein paar Worte kam, und die Entscheidung wollte er ihr überlassen.


    Am Ende kam sie dann doch – und entpuppte sich als Octavena. Hadamar lächelte leicht, als er sie erkannte. „Nein, offenbar nicht.“ Es war nicht unbedingt überraschend, dass sie das Bedürfnis hatte sich zurückzuziehen. Sie alle hatten unter den Verlusten zu leiden, die sie getroffen hatten. Dagny merkte er es noch am ehesten an, bei Octavena war es eher so, dass er es sich denken konnte – Dagmar dagegen war noch weit zurückgezogener als er es in Erinnerung hatte, und seine Brüder... die schienen sich in Arbeit zu vergraben, und er argwöhnte, dass auch das eine Reaktion auf die Verluste war.


    „Ja... naja.“ Er versuchte sich an einem Grinsen, aber es wurde schief, und verblasste recht schnell wieder. „Es ist seltsam. Ich hab die letzten Jahre jedes unserer traditionellen Feste allein, oder höchstens mit Tariq, gefeiert. Und gerade bei Festen wie Jul, die dafür gedacht sind sie in großer Runde gemeinsam zu feiern, war es jedes Mal so... merkwürdig, allein zu sein. Und jetzt, wo ich bei so nem Fest endlich nicht mehr allein bin, und auch nicht mehr in der Fremde, ist es... immer noch merkwürdig.“ Er zuckte etwas hilflos die Achseln. „Ich bin’s scheint’s nicht mehr gewöhnt.“ Und es fehlten Menschen. Hadamar schloss kurz die Augen, wandte sich dann zu dem Weiher und ließ einen Stein über die Wasseroberfläche flippen. Er versuchte ihm mit dem Blick zu folgen, aber es war bei weitem nicht genug Licht da um zu sehen, wie oft er aufsprang, bevor er schließlich versank. „Und es fehlen einfach ein paar“, murmelte er, fast ohne es zu wollen, räusperte sich dann und sah wieder zu Octavena. Sie zu fragen, ob sie umgekehrt auch genug hatte, war ein Fettnäpfchen, das sogar er auf Anhieb sah. Stattdessen versicherte er also, weil er ja wusste, dass sie den größten Anteil an der Organisation gehabt hatte: „Aber es ist wirklich eine schöne Feier. Da passt alles, das hast du toll gemacht.“

    Hadamar freute sich, dass Tariq relativ schnell ins Gespräch kam, mit Farold, mit Octavena. Natürlich war ihm von Anfang an klar gewesen, dass der Junge da durch musste, und zwar allein, weil er halt einfach bleiben konnte um es leichter zu machen. Und grundsätzlich nahm er das pragmatisch: es war halt so. Würde schon werden, irgendwie, und wenn es für Tariq schwer wurde, dann war halt auch das so. Aber dass da jetzt schon das erste Eis gebrochen war, beruhigte Hadamar auf eine Art, die ihm klar machte, dass er das halt doch nicht nur pragmatisch gesehen hatte. Dass er sich doch... wenn schon nicht Sorgen, dann wenigstens Gedanken gemacht hatte, ob Tariq sich hier auch wohl fühlen würde.


    Er sah gerade Farold hinterher, der von seiner Mutter nun weggeschickt worden war um sich umzuziehen, da kam Dagny zurück – mit Iring im Schlepptau. Im Gegensatz zu dem Grinsen seines Bruders war das seine breit, als er jetzt auch den letzten seiner Geschwister in die Arme zog und mit einer kräftigen Umarmung begrüßte. Dagny, Rhaban, Iring und er. Fehlte nur Eldrid. Der Gedanke versetzte ihm einen kleinen Stich, aber er vergrub ihn sofort. „Bin zur XXII versetzt“, bestätigte er, „ich bleib also.“ Noch während sie sich begrüßten, wurde jetzt Essen und Trinken gebracht, das Dagny organisiert hatte, und Hadamar nutzte die Chance und griff zu. Wenn er erst mal bei der Legio war, würde es wieder eine Weile dauern bis er die Gelegenheit bekommen würde was zu essen – wahrscheinlich erst am Abend irgendwann. Dagnys Kommentar allerdings ließ ihn zu Tariq sehen, und sie hatte Recht: er sah wirklich müde aus. Hadamar schluckte und räusperte sich kurz. „Ich kann sowieso nicht mehr lange bleiben, ich muss mich heute noch bei der Legio melden, und da wird’s dann auch einiges zu tun geben. Octavena, Dagmar, könntet ihr Tariq bitte ein Gästezimmer geben, und ihm die wichtigsten Sachen hier zeigen? Und wenn von euch einer Lust hat“, das war jetzt auch gleichermaßen an seine Geschwister gerichtet, „kann ihm jemand in den nächsten Tagen vielleicht die Stadt zeigen.“

    Hadamar grinste leicht. „Mh... auf den ersten Blick anders, aber wenn man’s genau nimmt, eigentlich ganz ähnlich wie bei dir. Heimat, Familie, Freunde. Und keine Langeweile.“ Er wies hinaus, in die Richtung, in der sich die Ländereien der Duccii erstreckten. In ein bisschen Entfernung fing dort ein Wald an, einer jener tiefen, dunklen, germanischen Wälder, die den Einheimischen so vertraut waren und den Zugereisten so unheimlich vorkamen. Mitten in diesem Wald lag ein See, über den man sich Geschichten erzählte: dass dort vor Urzeiten ein Riese ausgerutscht und hingefallen war, und dass das Loch, das er dabei in den Boden gerissen hatte, vom Allvater Rhein mit Wasser gefüllt worden war. So oder so war das der See, mit dem Hadamar einige der glücklichsten Momente seines Lebens verknüpfte. „Dort draußen, in den Wäldern, liegt ein See. Wenn ich mir so was wie das Elysium vorstell, dann dort. Am besten ein lauer Frühlingsabend, zusammen mit den Menschen, die mir wichtig sind, was zu essen, was zu trinken, eine Angel dabei...“ Viel mehr brauchte er nicht. Wobei: die Angel war eigentlich eher Dekoration... die hatte er fast immer nur als Vorwand genutzt, um sich vor der Arbeit drücken zu können, und am See hatte er sie dann oft genug einfach nur ins weiche Ufer gesteckt. Aber genau deswegen gehörte sie irgendwie auch dazu.


    Als dann Dagny und Octavena zusammen mit dem jungen Gast hinzutraten, der gerade angekommen war, lächelte Hadamar ihnen zu. „Salve und ein frohes Julfest“, wünschte er, und überließ dann Cimber die Vorstellungsrunde. Erstens kannte er den Jungen offenbar nicht nur, sondern war mit ihm sogar verwandt – was erneut bestätigte, wie klein die Welt manchmal war –, und zweitens konnte der Mann das sowieso viel besser als er, fand Hadamar. Er bestätigte nur mit einem Nicken und einem weiteren freundlichen Lächeln gegenüber Fango Cimbers Erzählung, woher sie beide sich kannten, und ergänzte noch: „Ich war auch bei der XV in Satala“, und übernahm dann den zweiten Teil der Vorstellungsrunde: den der beiden Damen, die Fango zuerst begrüßt hatten und nun ebenfalls dabei standen: „Und das hier sind Petronia Octavena, die Hausherrin und Gastgeberin, und meine Schwester Duccia Valentina.“

    Mit langen Schritten ging Hadamar zu dem Teich, der im Wildgarten lag. Auch hier war alles leicht mit Schnee überzogen, wenig, aber genug, dass er ganz leicht unter seinen Schritten knirschte. Am Teich angekommen, hielt er für einen Moment inne. Das Gewässer war noch nicht komplett von einer Eisschicht überzogen, aber am Rand, dort, was das Wasser seicht war, hatte sich bereits eine dünne, glitzernde Fläche gebildet, die mit den kommenden Tagen und Wochen beständig nach innen und unten wachsen würde.


    Hadamar holte tief Luft, so tief, dass es beinahe einem Seufzer glich, als er die Luft langsam wieder ausließ. Das Fest war schön, absolut. Es tat gut, Gäste hier in der Villa zu sehen, so wie früher. Es tat gut, mal wieder mit vielen Menschen zu feiern. Gleichzeitig hatte er aber auch den ganzen Abend nie komplett das Gefühl abschütteln können, das etwas nicht so ganz... passte. Dabei wusste er noch nicht mal sicher, woran es genau lag: daran, dass er es einfach nicht mehr gewohnt war nach den vergangenen Jahren, Jul nicht alleine, sondern überhaupt mit anderen zu feiern – oder nicht doch eher daran, dass einfach ein paar Menschen fehlten, die hier sein sollten. Dass er an diesem Abend mehr als einmal als der Gastgeber benannt worden war, vornehmlich von den Angehörigen des Exercitus, mit denen er ins Gespräch gekommen war, hatte es nicht gerade besser gemacht. Als er sich von Eldrid, Witjon und Audaod vor Jahren verabschiedet hatte, war er felsenfest davon ausgegangen, sie wiederzusehen. Und Alrik könnte er zwar wiedersehen, es wären ja nur ein paar Schritte ins Haus hinein zu dem Krankenzimmer, in dem er lag, aber... wirklich da war auch er nicht. Das erste Samhain, nachdem im vergangenen Jahr gleich drei Duccii gestorben waren, hatte bei ihm schon einiges aufgewirbelt, jetzt hier zu sein, in der Villa Duccia, bei einem Fest, ohne sie, das... nun ja. Anders gesagt: er war gerade froh, dass er im Castellum lebte und hier nur hin und wieder zu Besuch war. Es war einfacher, alles einfach irgendwo in sich zu vergraben und den Deckel draufzumachen, wenn er nicht ständig an dem Ort war, an dem an allen Ecken und Enden Erinnerungen lauerten. Er fragte sich, wie die anderen das machten, und wollte es dann doch im Grunde gar nicht wissen.


    Das jedenfalls, dieses ganz leichte Unwohlsein, hatte dazu geführt, dass er mal ein paar Momente für sich brauchte, abseits der Menge, und weshalb er sich in einem passenden Augenblick unauffällig entfernt hatte, um im Garten ein bisschen für sich sein zu können. Mit einem diesmal tatsächlichen Seufzen ging er in die Hocke und tastete mit den Fingern nach den Steinen, die am Ufer verstreut lagen, bis er zwei, drei gefunden hatte, die flach genug waren, dass man sie über das Wasser flitzen lassen konnte, als er hinter sich jemanden kommen hörte. Der jahrelange Dienst in der Legio hatte dazu geführt, dass er diesen Teil, der immer und stets aufmerksam und selbst im Schlaf noch wachsam war, auch an einem Abend wie diesem hier nicht abstellen konnte, und so bemerkte er das leichte Knirschen des Schnees recht früh. Aufmerksam sah er in die Richtung, aus der er die Schritte hörte, während er sich langsam wieder aufrichtete.

    Hinter der Villa war naturbelassene Teil des Latifundiums angelegt worden: der Wildgarten. Dieser stellte nicht nur einen Ort der Erholung dar, sondern bildete auch das rituelle Zentrum der Wolfrikssippe, deren Mitglieder immer noch oft ihren germanischen Riten folgten, die sie hier ausübten. Im Mittelpunkt des Wildgartens lag ein Weiher, über einen kleinen Wasserfall gespeist von dem Bach, der das Grundstück durchfloss, der Heimat mehrerer heimischer Fischarten war.

    „Ich versteh die Leut aus dem Süden ja auch net. Beschweren sich über unsern Winter, und sehnen sich nach einem Sommer, der so heiß ist, dass man gar nix mehr zustande bringt“, grinste Hadamar. Sowohl in Cappadocia als auch in Rom oder Carthago war es ihm jedenfalls kontinuierlich zu heiß gewesen im Sommer. Dann musste er lachen. „Ja, das hättst du wohl gern. Du kannst es ja gern mal versuchen.“ Auch er erinnerte sich in diesem Moment unwillkürlich an früher, wie sie als Kinder im Schnee getobt hatten. „Aber frag mich nicht, wie das geht. Die Luft ist total trocken da, im Winter wie im Sommer, und wenns mal regnet, ist die Feuchtigkeit sofort wieder weg – und der Schnee, mei, der bleibt halt liegen.“ Er musste wieder lachen, als Dagny sich beschwerte, dass er so wenig erzählte. „Tut mir leid, aber du weißt doch dass ich nicht der große Erzähler bin. Da musst du Tariq mal fragen, der kann das hervorragend... Aber wenn wir bei Ma sind, werd ich nen bisschen mehr zu erzählen“, versprach er. Zum einen weil seine Mutter sicher auch ein bisschen was würde hören wollen, und zum anderen weil er spätestens da dann nicht mehr auskommen würde. Seine Mutter und Dagny waren sich in der Hinsicht relativ ähnlich, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hatten, dann zogen sie es in der Regel auch durch, und diesem Fall hieß das: Hadamar würde erzählen, ob er wollte oder nicht.


    Bei Dagnys nächsten Worten verstummte Hadamar für einen Moment. Er war nicht der einfühlsamste Mensch, aber die kurze Pause in ihrem Satz, dass sie ihn nicht ansah, und nicht zuletzt natürlich was sie konkret sagte – nach all den Abschieden endlich wieder jemand, der kam, nicht ging... Er hätte schon taub und blind sein müssen, um nicht zu merken, dass ihr das gerade nahe ging. Er legte eine Hand auf ihre, die seinen Oberarm drückte, und als sie ihren Arm zurückzog, lenkte er sein Pferd dicht an ihres, so dass er ihr kurz den Arm um die Schultern legen und sie drücken konnte. „Mir auch“, murmelte er. Auch wenn streng genommen er niemanden hatte zum willkommen heißen, weil er derjenige war der zurückgekommen war, war das Gefühl ja trotzdem das gleiche. Viel mehr sagte er allerdings nicht... weil ihm nicht viel mehr einfiel, was er darauf hätte sagen können, und weil er sich selbst auch nicht ganz traute. Der Verlust von Witjon und vor allem Eldrid ging auch ihm immer noch nah. Und in diesem Moment wollte er nicht, dass Dagny den Eindruck bekam ihn trösten zu müssen, sondern er wollte sie trösten. Dass er einfach da war und sie kurz in den Arm nahm, war da hoffentlich schon mal ein guter Anfang.


    „Ouh. Eh. Ich würd ja sagen: warn sie vor“, meinte er schließlich, als sie fast da waren und Dagny überlegte, wie sie ihrer Mutter den Besuch präsentieren sollten. „Andererseits: ne Überraschung wird’s jetzt ja sowieso. Können wir eigentlich auch reinplatzen...“ Hadamar beschloss es sich einfach zu machen und ergänzte noch mit einem leichten Grinsen: „Ich verlass mich da auf deine Einschätzung.“